1823, 17. September.


Mit Johann Peter Eckermann

Gestern morgen, vor Goethes Abreise [von Jena] nach Weimar, war ich so glücklich, wieder ein Stündchen bei ihm zu sein. Und da führte er ein höchst bedeutendes Gespräch, was für mich ganz unschätzbar ist und mir auf mein ganzes Leben wohlthut. Alle jungen Dichter in Deutschland müßten es wissen, es könnte ihnen helfen.

Er leitete das Gespräch ein, indem er mich fragte, ob ich diesen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich antwortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir aber imganzen dazu an Behagen gefehlt. »Nehmen Sie sich in Acht,« sagte er darauf, »vor einer großen [263] Arbeit! Das ist's eben, woran unsere Besten leiden, gerade diejenigen, in denen das meiste Talent und das tüchtigste Streben vorhanden. Ich habe auch daran gelitten und weiß, was es mir geschadet hat. Was ist da nicht alles in den Brunnen gefallen! Wenn ich alles gemacht hätte, was ich recht gut hätte machen können, es würden keine hundert Bände reichen.

Die Gegenwart will ihre Rechte; was sich täglich im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdrängt, das will und soll ausgesprochen sein. Hat man aber ein größeres Werk im Kopfe, so kann nichts daneben aufkommen, so werden alle Gedanken zurückgewiesen, und man ist für die Behaglichkeit des Lebens selbst so lange verloren. Welche Anstrengung und Verwendung von Geisteskraft gehört nicht dazu, um nur ein großes Ganzes in sich zu ordnen und abzurunden, und welche Kräfte und welche ruhige ungestörte Lage im Leben, um es dann in einem Fluß gehörig auszusprechen! Hat man sich nun im ganzen vergriffen, so ist alle Mühe verloren; ist man ferner bei einem so umfangreichen Gegenstande in einzelnen Theilen nicht völlig Herr seines Stoffes, so wird das Ganze stellenweise mangelhaft werden, und man wird gescholten; und aus allem entspringt für den Dichter statt Belohnung und Freude für so viele Mühe und Aufopferung nichts als Unbehagen und Lähmung der Kräfte. Faßt dagegen der Dichter täglich die Gegenwart auf, und behandelt er immer gleich in frischer Stimmung, was sich ihm darbietet, [264] so macht er sicher immer etwas Gutes, und gelingt ihm auch einmal etwas nicht, so ist nichts daran verloren.

Da ist der August Hagen in Königsberg ein herrliches Talent! Haben Sie seine ›Olfried und Lisena‹ gelesen? Da sind Stellen darin, wie sie nicht besser sein können: die Zustände an der Ostsee, und was sonst in dortige Lokalität hineinschlägt, alles meisterhaft. Aber es sind nur schöne Stellen, als Ganzes will es niemand behagen. Und welche Mühe und welche Kräfte hat er daran verwendet, ja er hat sich fast daran erschöpft! Jetzt hat er ein Trauerspiel gemacht!«

Dabei lächelte Goethe und hielt einen Augenblick inne. Ich nahm das Wort und sagte, daß, wenn ich nicht irre, er Hagen in »Kunst und Alterthum« gerathen, nur kleine Gegenstände zu behandeln. »Freilich habe ich das,« erwiederte Goethe; »aber thut man denn was wir Alten sagen? Jeder glaubt, er müsse es doch selber am besten wissen, und dabei geht mancher verloren, und mancher hat lange daran zu irren. Es ist aber jetzt keine Zeit mehr zum Irren, dazu sind wir Alten gewesen; und was hätte uns all unser Suchen und Irren geholfen, wenn ihr jüngern Leute wieder dieselbigen Wege laufen wolltet? Da kämen wir ja nie weiter! Uns Alten rechnet man den Irrthum zu gute, weil wir die Wege nicht gebahnt fanden; wer aber später in die Welt eintritt, von dem verlangt man mehr, der soll nicht abermals irren und suchen, sondern [265] er soll den Rath der Alten nutzen und gleich auf gutem Wege fortschreiten. Es soll nicht genügen, daß man Schritte thue, die einst zum Ziele führen, sondern jeder Schritt soll Ziel sein und als Schritt gelten.

Tragen Sie diese Worte bei sich herum und sehen Sie zu, was Sie davon mit sich vereinigen können. Es ist mir eigentlich um Sie nicht bange, aber ich helfe Ihnen durch mein Zureden vielleicht schnell über eine Periode hinweg, die Ihrer jetzigen Lage nicht gemäß ist. Machen Sie vor der Hand, wie gesagt, immer nur kleine Gegenstände, immer alles frischweg, was sich Ihnen täglich darbietet, so werden Sie in der Regel immer etwas Gutes leisten, und jeder Tag wird Ihnen Freude bringen. Geben Sie es zunächst in die Taschenbücher, in die Zeitschriften; aber fügen Sie sich nie fremden Anforderungen, sondern machen Sie es immer nach Ihrem eigenen Sinn. Die Welt ist so groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein specieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der Luft gegriffen halte ich nichts.

Man sage nicht, daß es der Wirklichkeit an poetischem [266] Interesse fehle; denn eben darin bewährt sich ja der Dichter, daß er geistreich genug sei, einem gewöhnlichen Gegenstande eine interessante Seite abzugewinnen. Die Wirklichkeit soll die Motive hergeben, die auszusprechenden Punkte, den eigentlichen Kern; aber ein schönes belebtes Ganzes daraus zu bilden, ist Sache des Dichters. Sie kennen den Fürnstein, den sogenannten Naturdichter; er hat ein Gedicht gemacht über den Hopfenbau, es läßt sich nicht artiger machen. Jetzt habe ich ihm Handwerkslieder aufgegeben, besonders ein Weberlied, und ich bin gewiß, daß es ihm gelingen wird; denn er hat von Jugend auf unter solchen Leuten gelebt, er kennt den Gegenstand durch und durch, er wird Herr seines Stoffes sein. Und das ist eben der Vortheil bei kleinen Sachen, daß man nur solche Gegenstände zu wählen braucht und wählen wird, die man kennt, von denen man Herr ist. Bei einem großen dichterischen Werke geht das aber nicht, da läßt sich nicht ausweichen: alles, was zur Verknüpfung des Ganzen gehört und in den Plan hinein mit verflochten ist, muß dargestellt werden und zwar mit getroffener Wahrheit. Bei der Jugend aber ist die Kenntniß der Dinge noch einseitig; ein großes Werk aber erfordert Vielseitigkeit, und daran scheitert man.«

Ich sagte Goethen, daß ich im Willen gehabt, ein großes Gedicht über die Jahreszeiten zu machen und die Beschäftigungen und Belustigungen aller Stände hineinzuverflechten. »Hier ist derselbige Fall,« sagte[267] Goethe darauf »es kann Ihnen vieles daran gelingen, aber manches, was Sie vielleicht noch nicht gehörig durchforscht haben und kennen, gelingt Ihnen nicht. Es gelingt Ihnen vielleicht der Fischer, aber der Jäger vielleicht nicht. Geräth ober am Ganzen etwas nicht, so ist es als Ganzes mangelhaft, so gut einzelne Partien auch sein mögen, und Sie haben nichts Vollendetes geleistet. Stellen Sie aber blos die einzelnen Partien für sich selbständig dar, denen Sie gewachsen sind, so machen Sie sicher etwas Gutes. Besonders warne ich vor eigenen großen Erfindungen; denn da will man eine Ansicht der Dinge geben, und die ist in der Jugend selten reif. Ferner, Charaktere und Ansichten lösen sich als Seiten des Dichters von ihm ab und berauben ihn für fernere Productionen der Fülle. Und endlich, welche Zeit geht nicht an der Erfindung und innern Anordnung und Verknüpfung verloren, worauf uns niemand etwas zu gute thut, vorausgesetzt daß wir überall mit unserer Arbeit zu stande kommen. Bei einem gegebenen Stoff hingegen ist alles anders und leichter. Da werden Facta und Charaktere überliefert, und der Dichter hat nur die Belebung des Ganzen. Auch bewahrt er dabei seine eigene Fülle, denn er braucht nur wenig von dem Seinigen hinzu zu thun; auch ist der Verlust von Zeit und Kräften beiweitem geringer, denn er hat nur die Mühe der Ausführung. Ja ich rathe sogar zu schon bearbeiteten Gegenständen. Wie oft ist nicht die Iphigenie gemacht, [268] und doch sind alle verschieden; denn jeder sieht und stellt die Sachen anders, eben nach seiner Weise.

Aber lassen Sie vorderhand alles Große zur Seite. Sie haben lange genug gestrebt, es ist Zeit, daß Sie zur Heiterkeit des Lebens gelangen, und dazu eben ist die Bearbeitung kleiner Gegenstände das beste Mittel.«

Wir waren bei diesem Gespräch in seiner Stube auf- und abgegangen; ich konnte immer nur zustimmen, denn ich fühlte die Wahrheit eines jeden Wortes in meinem ganzen Wesen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1823. 1823, 17. September. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A51B-5