1815, 12. Mai.


Mit Friedrich von Müller
und Heinrich Karl Friedrich Peucer

Ich kam Nachmittags 4 1/2 Uhr zu ihm und traf Peucern an. Nach einigen Mystificationen und humoristischen Ausfällen über die tragische Kunde von v. Müfflings Unfall in Lüttich, womit – wie er sagte – ich ihm vorgestern den Theaterspaß versalzen hätte, lenkte sich bald das Gespräch auf die bekannte Wiener Achtserklärung gegen Napoleon vom 13. März d. J. Goethe äußerte, er hoffe, Gentz habe als ein schlauer Fuchs das Volk dadurch nur elektrisiren wollen und den kecken Aufruf zum Reizmittel gebraucht, wohl wissend übrigens, daß es mit diesem Bann ganz dieselbe Bewandtniß [177] habe, wie mit dem vom Vatican herabgeschleuderten. Die deutsche Hypochondrie müsse von Zeit zu Zeit durch solche Theater-Coups aufgeregt werden und selbst falsche Siegesnachrichten seien oft dazu sehr dienlich, indem sie über die momentane Gefahr den Schleier der Hoffnung würfen.

Er nahm hiervon Gelegenheit von seinen in der Campagne 1792 und bei Mainz das Jahr darauf bestandenen Gefahren zu erzählen, insbesondere von der famosen Kanonade bei Valmy, wie da die Pferde, gleich Sturm umwogten Fichten, schnaubend hin- und hergeschwankt hätten, und wie ihm insbesondere das zarte Gesichtchen des Standard-Junkers von Bechtolsheim gar seltsam contrastirend erschienen sei. Rechts und links hätten die Kanonenkugeln den Koth der Straße den Pferden zugespritzt; doch das sei alles einerlei und nichts bedeutend, wenn man sich einmal der Gefahr geweiht habe.

Die naive Erzählung einer von ihm veranlaßten venetianischen Justizverhandlung (ad laudes), herbeigeführt durch eine Excursion über die Fideicommisse, stach sehr lieblich gegen jene Kriegsscene ab. Goethe hat doch eine ganz eigne Art zu beobachten und zu sehen, Alles gruppirt sich ihm gleich wie von selbst und wird dramatisch. Auch sagte er im vollen Selbstgefühl: »Wenn ich meine Augen ordentlich aufthue, dann sehe ich wohl auch was irgend zu sehen ist.«

Die Erinnerung an seine nahe Abreise nach Wiesbaden [178] entlockte ihm manche hübsche Darstellung seines dortigen geologisirend politischen Lebens. Nassau's Länder und Staaten wurden hoch gepriesen, und von einem reizenden jungen Mädchen [Philippine Lade], der Tochter eines Secretärs bei irgend einem Departement zu Wiesbaden, erzählt, die die höchsten Anlagen zur Declamation und zum theatralischen Spiel besitze. Sie habe ihm den Wassertaucher vordeclamirt, aber mit zu viel Malerei und Gesticulation; darauf habe er sie statt aller Kritik gebeten, es noch einmal zu thun, aber hinter einem Stuhle stehend und dessen Lehne mit beiden Händen festhaltend. Das schöne Kind habe bald Absicht und Wohlthat dieser Bitte empfunden und lebhaft dafür gedankt. Verwechsle man doch nicht, fuhr er fort, epische Darstellung mit lyrischer oder dramatischer.

»Wenn Maria Stuart sich dem bezaubernden Eindruck des Naturgenusses hingibt, ›laßt mich der neuen Freiheit genießen,‹ dann« – rief er aus – »gebraucht Euere Glieder und macht damit, was Ihr wollt und könnt; aber wenn Ihr erzählt oder bloß beschreibt, dann muß das Individuum verschwinden und nur starr und ruhig das Objective sprechen, wiewohl in die Stimme aller mögliche Wechsel und Gewalt gelegt werden mag.«

Solche Anklänge brachten das Gespräch bald auf Julie v. Egloffstein, die Goethe eine incalculable Größe nannte. Er habe ihr, durch den heillosen Lavater in [179] alle Mysterien eingeweiht, bald angesehen, daß sie sehr schön lesen müsse und daher gefürchtet, er werde verlesen sein, wenn er sie höre.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1815. 1815, 12. Mai. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A578-2