1827, 29. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann
und Friedrich Soret

Begleitet von dem Manuscript der Novelle und einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen sieben Uhr zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bei ihm in Gesprächen über die neue französische Literatur. Ich hörte mit Interesse zu, und es kam zur Sprache, daß die neuesten Talente hinsichtlich guter Verse sehr viel von [35] Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen Genfer, das Deutsche nicht ganz geläufig war, Goethe aber im Französischen sich ziemlich bequem ausdrückt, so ging die Unterhaltung französisch und nur an solchen Stellen deutsch, wo ich mich in das Gespräch mischte. Ich zog den Béranger aus der Tasche und überreichte ihn Goethe, der diese trefflichen Lieder von neuem zu lesen wünschte. Das den Gedichten vorstehende Portrait fand Herr Soret nicht ähnlich. Goethe freute sich, die zierliche Ausgabe in Händen zu halten. »Diese Lieder,« sagte er, »sind vollkommen und als das Beste in ihrer Art anzusehen, besonders wenn man sich das Gejodel des Refrains hinzudenkt, denn sonst sind sie als Lieder fast zu ernst, zu geistreich, zu epigrammatisch. Ich werde durch Béranger immer an den Horaz und Hafis erinnert, die beide auch über ihrer Zeit standen und die Sittenverderbniß spottend und spielend zur Sprache brachten. Béranger hat zu seiner Umgebung dieselbige Stellung. Weil er aber aus niederm Stande heraufgekommen, so ist ihm das Liederliche und Gemeine nicht allzu verhaßt, und er behandelt es noch mit einer gewissen Neigung.«

Viel Ähnliches ward noch über Béranger und andere neuere Franzosen hin- und hergesprochen, bis Herr Soret an den Hof ging und ich mit Goethe allein blieb.

Ein versiegeltes Paket lag auf dem Tische. Goethe legte seine Hand darauf. »Was ist das?« sagte er. »Es ist die ›Helena‹, die an Cotta zum Druck abgeht.« [36] Ich empfand bei diesen Worten mehr als ich sagen konnte, ich fühlte die Bedeutung des Augenblicks; denn wie bei einem neuerbauten Schiff, das zuerst in die See geht und wovon man nicht weiß, welche Schicksale es erleben wird, so ist es auch mit dem Gedankenwerk eines großen Meisters, das zuerst in die Welt hinaustritt, um für viele Zeiten zu wirken und mannigfaltige Schicksale zu erzeugen und zu erleben.

»Ich habe,« sagte Goethe, »bis jetzt immer noch Kleinigkeiten daran zu thun und nachzuhelfen gesunden. Endlich aber muß es genug sein, und ich bin nun froh, daß es zur Post geht und ich mich mit befreiter Seele zu etwas anderm wenden kann. Es mag nun seine Schicksale erleben! Was mich tröstet, ist, daß die Cultur in Deutschland doch jetzt unglaublich hoch steht und man also nicht zu fürchten hat, daß eine solche Production lange unverstanden und ohne Wirkung bleiben werde.«

»Es steckt ein ganzes Alterthum darin,« sagte ich. – »Ja,« sagte Goethe, »die Philologen werden daran zu thun finden.« – »Für den antiken Theil,« sagte ich, »fürchte ich nicht; denn es ist da das große Detail, die gründlichste Entfaltung des Einzelnen, wo jedes geradezu das sagt, was es sagen soll. Allein der moderne, romantische Theil ist sehr schwer; denn eine halbe Weltgeschichte steckt dahinter; die Behandlung ist bei so großem Stoff nur andeutend und macht sehr große Ansprüche an den Leser.« – »Aber doch,« sagte [37] Goethe, »ist alles sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der ›Zauberflöte‹ und andern Dingen der Fall ist.«

»Es wird,« sagte ich, »auf der Bühne einen ungewohnten Eindruck machen, daß ein Stück als Tragödie anfängt und als Oper endigt. Doch es gehört etwas dazu, die Großheit dieser Personen darzustellen und die erhabenen Reden und Verse zu sprechen.« – »Der erste Theil,« sagte Goethe, »erfordert die ersten Künstler der Tragödie, sowie nachher im Theile der Oper die Rollen mit den ersten Sängern und Sängerinnen besetzt werden müssen. Die Rolle der Helena kann nicht von einer, sondern sie muß von zwei großen Künstlerinnen gespielt werden; denn es ist ein seltener Fall, daß eine Sängerin zugleich als tragische Künstlerin von hinlänglicher Bedeutung ist.«

»Das Ganze,« sagte ich, »wird zu großer Pracht und Mannigfaltigkeit in Decorationen und Garderobe Anlaß geben, und ich kann nicht leugnen, ich freue mich darauf, es auf der Bühne zu sehen. Wenn nur ein recht großer Componist sich daran machte!« – »Es müßte einer sein,« sagte Goethe, »der wie Meyerbeer lange in Italien gelebt hat, sodaß er seine deutsche Natur mit der italienischen Art und Weise verbände.[38] Doch das wird sich schon finden, und ich habe keinen Zweifel; ich freue mich nur, daß ich es los bin. Auf den Gedanken, daß der Chor nicht wieder in die Unterwelt hinab will, sondern auf der heitern Oberfläche der Erde sich den Elementen zuwirft, thue ich mir wirklich etwas zu gute.« – »Es ist eine neue Art von Unsterblichkeit,« sagte ich.

»Nun,« fuhr Goethe fort, »wie steht es mit der Novelle?« – »Ich habe sie mitgebracht,« sagte ich. »Nachdem ich sie nochmals gelesen, finde ich, daß Euer Excellenz die intendirte Änderung nicht machen dürfen. Es thut gar gute Wirkung, wenn die Leute beim getödteten Tiger zuerst als durchaus fremde neue Wesen mit ihren abweichenden wunderlichen Kleidungen und Manieren hervortreten und sich als Besitzer der Thiere ankündigen. Brächten Sie sie aber schon früher, in der Exposition, so würde diese Wirkung gänzlich geschwächt, ja vernichtet werden.«

»Sie haben recht,« sagte Goethe, »ich muß es lassen wie es ist. Ohne Frage, Sie haben ganz recht. Es muß auch beim ersten Entwurf in mir gelegen haben, die Leute nicht früher zu bringen, eben weil ich sie ausgelassen. Diese intendirte Änderung war eine Forderung des Verstandes, und ich wäre dadurch bald zu einem Fehler verleitet worden. Es ist aber dieses ein merkwürdiger ästhetischer Fall, daß man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.«

Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man [39] der Novelle geben solle; wir thaten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere gut für das Ende, doch fand sich keiner, der für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. »Wissen Sie was,« sagte Goethe, »wir wollen es die ›Novelle‹ nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich er eignete unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den ›Wahlverwandtschaften‹ vor.«

»Wenn man es recht bedenkt,« sagte ich, »so entsteht doch ein Gedicht immer ohne Titel und ist ohne Titel das was es ist, sodaß man also glauben sollte, der Titel gehöre gar nicht zur Sache.« – »Er gehört auch nicht dazu,« sagte Goethe; »die alten Gedichte hatten gar keine Titel, es ist dies ein Gebrauch der Neuern, von denen auch die Gedichte der Alten erst in einer spätern Zeit Titel erhalten haben. Doch dieser Gebrauch ist von der Nothwendigkeit herbeigeführt, bei einer ausgebreiteten Literatur die Sachen zu nennen und von einander zu unterscheiden.

Hier,« sagte Goethe, »haben Sie etwas Neues; lesen Sie!« Mit diesen Worten reichte er mir eine Übersetzung eines serbischen Gedichts von Herrn Gerhard. Ich las mit großem Vergnügen, denn das Gedicht war sehr schön und die Übersetzung so einfach [40] und klar, daß man im Anschauen des Gegenstandes nie gestört wurde. Das Gedicht führte den Titel: ›Die Gefängnisschlüssel‹ 1. Ich sage hier nichts von dem Gang der Handlung; der Schluß indes kam mir abgerissen und ein wenig unbefriedigend vor.

»Das ist,« sagte Goethe, »eben das Schöne; denn dadurch läßt es einen Stachel im Herzen zurück, und die Phantasie des Lesers ist angeregt, sich selbst alle Möglichkeiten auszubilden, die nun folgen können. Der Schluß hinterläßt den Stoff zu einem ganzen Trauerspiele, allein er ist von der Art, wie schon vieles dagewesen ist. Dagegen das im Gedicht Dargestellte ist das eigentlich Neue und Schöne, und der Dichter verfuhr sehr weise, daß er nur dieses ausbildete und das andere dem Leser überließ. Ich theilte das Gedicht gern in ›Kunst und Alterthum‹ mit, allein es ist zu lang; dagegen habe ich mir diese drei gereimten von Gerhard ausgebeten, die ich im nächsten Heft werde abdrucken lassen. Was sagen Sie zu diesem? Hören Sie.«

Goethe las nun zuerst das Lied vom Alten, der ein junges Mädchen liebt, sodann das Trinklied der Weiber, und zuletzt das energische: ›Tanz' uns vor, Theodor‹ 2. Jedes las er in einem andern Tone und andern Schwunge, vortrefflich, sodaß man nicht leicht etwas Vollkommneres hören konnte.

[41] Wir mußten Herrn Gerhard loben, daß er die jedesmaligen Versarten und Refrains durchaus glücklich und im Character gewählt und alles leicht und vollkommen ausgeführt hatte, sodaß man nicht wußte wie er es hätte besser machen sollen. »Da sieht man,« sagte Goethe, »was bei einem solchen Talent wie Gerhard die große technische Übung thut. Und dann kommt ihm zugute, daß er kein eigentlich gelehrtes Metier, sondern ein solches treibt, das ihn täglich aufs praktische Leben weist. Auch hat er die vielen Reisen in England und andern Ländern gemacht, wodurch er denn bei seinem auf das Reale gehenden Sinn über unsere gelehrten jungen Dichter manche Avantagen hat. Wenn er sich immer an gute Überlieferungen hält und nur diese bearbeitet, so wird er nicht leicht etwas Schlechtes machen. Alle eigenen Erfindungen dagegen erfordern sehr viel und sind eine schwere Sache.«

Hieran knüpften sich manche Betrachtungen über die Productionen unserer neuesten jungen Dichter, und es ward bemerkt, daß fast keiner von ihnen mit einer guten Prosa aufgetreten.

»Die Sache ist sehr einfach,« sagte Goethe. »Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere giebt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist, aber doch aussieht als wäre es was.«


Note:

1 Genau: Die Kerkerschlüssel.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1827. 1827, 29. Januar. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A5E7-A