1826, 20. December.


Mit Johann Peter Eckermann

Ich erzählte Goethen nach Tische, daß ich eine Entdeckung gemacht, die mir viele Freude gewähre. Ich hätte nämlich an einer brennenden Wachskerze bemerkt, daß der durchsichtige untere Theil der Flamme dasselbe Phänomen zeige, als wodurch der blaue Himmel entstehe, indem nämlich die Finsterniß durch ein erleuchtetes Trübe gesehen werde.

Ich fragte Goethe, ob er dieses Phänomen der Kerze kenne und in seiner ›Farbenlehre‹ aufgenommen habe. »Ohne Zweifel,« sagte er. Er nahm einen Band der ›Farbenlehre‹ herunter und las mir die Paragraphen, wo ich denn alles beschrieben fand, wie ich es gesehen. »Es ist mir sehr lieb,« sagte er, »daß Ihnen dieses Phänomen ausgegangen ist, ohne es aus meiner ›Farbenlehre‹ zu kennen; denn nun haben Sie es begriffen und können sagen, daß Sie es besitzen. Auch haben Sie dadurch einen Standpunkt gefaßt, von welchem aus Sie zu den übrigen Phänomenen weiter gehen werden. Ich will Ihnen jetzt sogleich ein neues zeigen.«

Es mochte etwa 4 Uhr sein; es war ein bedeckter Himmel und im ersten Anfangen der Dämmerung. Goethe zündete ein Licht an und ging damit in die Nähe des Fensters zu einem Tische. Er setzte das[328] Licht auf einen weißen Bogen Papier und stellte ein Stäbchen darauf, so daß der Schein des Kerzenlichts vom Stäbchen aus einen Schatten warf nach dem Lichte des Tages zu. »Nun,« sagte Goethe, »was sagen Sie zu diesem Schatten?« – »Der Schatten ist blau,« antwortete ich. – »Da hätten Sie also das Blaue wieder,« sagte Goethe; »aber auf dieser andern Seite des Stäbchens nach der Kerze zu, was sehen Sie da?« – »Auch einen Schatten.« – »Aber von welcher Farbe?« – »Der Schatten ist ein röthliches Gelb,« antwortete ich; »doch wie entsteht dieses doppelte Phänomen?« – »Das ist nun Ihre Sache,« sagte Goethe; »sehen Sie zu, daß Sie es herausbringen. Zu finden ist es, aber es ist schwer. Sehen Sie nicht früher in meiner ›Farbenlehre‹ nach, als bis Sie die Hoffnung aufgegeben haben, es selber herauszubringen.« Ich versprach dieses mit vieler Freude.

»Das Phänomen am untern Theile der Kerze,« fuhr Goethe fort, »wo ein durchsichtiges Helle vor die Finsterniß tritt und die blaue Farbe hervorbringt, will ich Ihnen jetzt in vergrößertem Maße zeigen.« Er nahm einen Löffel, goß Spiritus hinein und zündete ihn an. Da entstand denn wieder ein durchsichtiges Helle, wodurch die Finsterniß blau erschien. Wendete ich den brennenden Spiritus vor die Dunkelheit der Nacht, so nahm die Bläue an Kräftigkeit zu; hielt ich ihn gegen das Helle, so schwächte sie sich oder verschwand gänzlich.

[329] Ich hatte meine Freude an dem Phänomen. »Ja,« Sagte Goethe, »das ist eben das Große bei der Natur, daß sie so einfach ist, und daß sie ihre größten Erscheinungen immer im Kleinen wiederholt. Dasselbe Gesetz, wodurch der Himmel blau ist, sieht man ebenfalls an dem untern Theil einer brennenden Kerze, am brennenden Spiritus, sowie an dem erleuchteten Rauch, der von einem Dorfe aufsteigt, hinter welchem ein dunkles Gebirge liegt.«

»Aber wie erklären die Schüler von Newton dieses höchst einfache Phänomen?« fragte ich.

»Das müssen Sie gar nicht wissen,« antwortete Goethe. »Es ist gar zu dumm, und man glaubt nicht, welchen Schaden es einem guten Kopfe thut, wenn er sich mit etwas Dummem befaßt. Bekümmern Sie sich gar nicht um die Newtonianer, lassen Sie sich die reine Lehre genügen, und Sie werden sich gut dabei stehen.«

»Die Beschäftigung mit dem Verkehrten,« sagte ich, »ist vielleicht in diesem Fall ebenso unangenehm und schädlich, als wenn man ein schlechtes Trauerspiel in sich aufnehmen sollte, um es nach allen sei nen Theilen zu beleuchten und in seiner Blöße darzustellen.«

»Es ist ganz dasselbe,« sagte Goethe, »und man soll sich ohne Noth nicht damit befassen. Ich ehre die Mathematik als die erhabenste und nützlichste Wissenschaft, solange man sie da anwendet, wo sie am Platze ist, allein ich kann nicht loben, daß man sie bei Dingen [330] mißbrauchen will, die gar nicht in ihrem Bereich liegen und wo die edle Wissenschaft sogleich als Unsinn erscheint. Und als ob alles nur dann existirte, wenn es sich mathematisch beweisen läßt! Es wäre doch thöricht, wenn jemand nicht an die Liebe seines Mädchens glauben wollte, weil sie ihm solche nicht mathematisch beweisen kann! Ihre Mitgift kann sie ihm mathematisch beweisen, aber nicht ihre Liebe. Haben doch auch die Mathematiker nicht die Metamorphose der Pflanze erfunden! Ich habe dieses ohne die Mathematik vollbracht, und die Mathematiker haben es müssen gelten lassen. Um die Phänomene der Farbenlehre zu begreifen, gehört weiter nichts als ein reines Anschauen und ein gesunder Kopf; allein beides ist freilich seltener als man glauben sollte.«

»Wie stehen denn die jetzigen Franzosen und Engländer zur Farbenlehre?« fragte ich.

»Beide Nationen,« antwortete Goethe, »haben ihre Avantagen und ihre Nachtheile. Bei den Engländern ist es gut, daß sie alles praktisch machen; aber sie sind Pedanten. Die Franzosen sind gute Köpfe, aber es soll bei ihnen alles positiv sein, und wenn es nicht so ist, so machen sie es so. Doch sind sie in der Farbenlehre auf gutem Wege, und einer ihrer Besten kommt nahe heran. Er sagt: die Farbe sei den Dingen angeschaffen; denn wie es in der Natur ein Säurendes gebe, so gebe es auch ein Färbendes. Damit sind nun freilich die Phänomene nicht erklärt, allein er spielt[331] doch den Gegenstand in die Natur hinein und befreit ihn von der Einschränkung der Mathematik.«

Die Berliner Zeitungen wurden gebracht, und Goethe setzte sich, sie zu lesen. Er reichte auch mir ein Blatt, und ich fand in den Theaternachrichten, daß man dort im Opernhause und königlichen Theater ebenso schlechte Stücke gebe als hier.

»Wie soll dies auch anders sein,« sagte Goethe. »Es ist freilich keine Frage, daß man nicht mit Hilfe der guten englischen, französischen und spanischen Stücke ein so gutes Repertoire zusammenbringen sollte, um jeden Abend ein gutes Stück geben zu können, allein wo ist das Bedürfniß in der Nation, immer ein gutes Stück zu sehen? Die Zeit, in welcher Äschylus, Sophokles und Euripides schrieben, war freilich eine ganz andere: sie hatte den Geist hinter sich und wollte nur immer das wirklich Größte und Beste. Aber in unserer schlechten Zeit, wo ist denn da das Bedürfniß für das Beste? Wo sind die Organe, es auf zunehmen?

Und dann,« fuhr Goethe fort, »man will etwas Neues! In Berlin wie in Paris, das Publicum ist überall dasselbe! Eine Unzahl neuer Stücke wird jede Woche in Paris geschrieben und auf die Theater gebracht, und man muß immer fünf bis sechs durchaus schlechte aushalten, ehe man durch ein gutes entschädigt wird.

Das einzige Mittel, um jetzt ein deutsches Theater oben zu halten, sind Gastrollen. Hätte ich jetzt noch[332] die Leitung, so sollte der ganze Winter mit trefflichen Gastspielern besetzt sein. Dadurch wurden nicht allein alle guten Stücke immer wieder zum Vorschein kommen, sondern das Interesse würde auch mehr von den Stücken ab auf das Spiel gelenkt; man könnte vergleichen und urtheilen, das Publicum gewönne an Einsichten, und unsere eigenen Schauspieler würden durch das bedeutende Spiel eines ausgezeichneten Gastes immer in Anregung und Nacheiferung erhalten. Wie gesagt: Gastrollen und immer Gastrollen, und Ihr solltet über den Nutzen erstaunen, der daraus für Theater und: Publicum hervorgehen würde.

Ich sehe die Zeit kommen, wo ein gescheiter, der Sache gewachsener Kopf vier Theater zugleich übernehmen und sie hin und her mit Gastrollen versehen wird, und ich bin gewiß, daß er sich besser bei diesen vieren stehen wird, als wenn er nur ein einziges hätte.«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1826. 1826, 20. December. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A620-D