1824, 2. Januar.


Mittag bei Goethe
und mit Johann Peter Eckermann

Bei Goethe zu Tische, in heitern Gesprächen. Eine junge Schönheit der weimarischen Gesellschaft kam zur Erwähnung, wobei einer der Anwesenden bemerkte, daß er fast auf dem Punkte stehe, sie zu lieben, obgleich ihr Verstand nicht eben glänzend zu nennen.

»Pah!« sagte Goethe lachend, »als ob die Liebe etwas mit dem Verstande zu thun hätte! Wir lieben an einem jungen Frauenzimmer ganz andere Dinge als den Verstand. Wir lieben an ihr das Schöne, das Jugendliche, das Neckische, das Zutrauliche, den Charakter, ihre Fehler, ihre Capricen, und Gott weiß was alles Unaussprechliche sonst; aber wir lieben nicht ihren Verstand. Ihren Verstand achten wir, wenn er glänzend ist, und ein Mädchen kann dadurch in unsern Augen unendlich an Werth gewinnen. Auch mag der Verstand gut sein, uns zu fesseln, wenn wir bereits lieben; allein der Verstand ist nicht dasjenige, was fähig wäre uns zu entzünden und eine Leidenschaft zu erwecken.«

[1] Man fand an Goethes Worten viel Wahres und Überzeugendes und war sehr bereit, den Gegenstand ebenfalls von dieser Seite zu betrachten.

Nach Tische und als die übrigen gegangen waren, blieb ich bei Goethe sitzen und verhandelte mit ihm noch mancherlei Gutes.

Wir sprachen über die englische Literatur, über die Größe Shakespeares, und welch einen ungünstigen Stand alle englischen dramatischen Schriftsteller gehabt, die nach jenem poetischen Riesen gekommen.

»Ein dramatisches Talent,« fuhr Goethe fort, »wenn es bedeutend war, konnte nicht umhin von Shakespeare Notiz zu nehmen, ja es konnte nicht umhin ihn zu studiren. Studirte es ihn aber, so mußte ihm bewußt werden, daß Shakespeare die ganze Menschennatur nach allen Richtungen hin und in allen Tiefen und Höhen bereits erschöpft habe, und daß im Grunde für ihn, den Nachkömmling, nichts mehr zu thun übrigbleibe. Und woher hätte einer den Muth nehmen sollen, nur die Feder anzusetzen, wenn er sich solcher bereits vorhandener unergründlicher und unerreichbarer Vortrefflichkeiten in ernster anerkennender Seele bewußt war!

Da hatte ich es freilich vor funfzig Jahren in meinem lieben Deutschland besser. Ich konnte mich sehr bald mit dem Vorhandenen abfinden, es konnte mir nicht lange imponiren und mich nicht sehr aufhalten. Ich ließ die deutsche Literatur und das Studium derselben sehr bald hinter mir und wendete [2] mich zum Leben und zur Production. So nach und nach vorschreitend, ging ich in meiner natürlichen Entwickelung fort und bildete mich nach und nach zu den Productionen heran, die mir von Epoche zu Epoche gelangen. Und meine Idee vom Vortrefflichen war auf jeder meiner Lebens- und Entwickelungsstufen nie viel größer, als was ich auch auf jeder Stufe zu machen im Stande war. Wäre ich aber als Engländer geboren, und wären alle jene vielfältigen Meisterwerke bei meinem ersten jugendlichen Erwachen mit all ihrer Gewalt auf mich eingedrungen, es hätte mich überwältigt, und ich hätte nicht gewußt, was ich hätte thun wollen. Ich hätte nicht so leichten frischen, Muthes vorschreiten können, sondern mich sicher erst lange besinnen und umsehen müssen, um irgendwo einen neuen Ausweg zu finden.«

Ich lenkte das Gespräch auf Shakespeare zurück. »Wenn man ihn,« sagte ich, »aus der englischen Literatur gewissermaßen herausreißt und als einen einzelnen nach Deutschland versetzt und betrachtet, so kann man nicht umhin seine riesenhafte Größe als ein Wunder anzustaunen. Sucht man ihn aber in seiner Heimath auf, versetzt man sich auf den Boden seines Landes und in die Atmosphäre des Jahrhunderts, in dem er lebte, studirt man ferner seine Mitlebenden und unmittelbaren Nachfolger, athmet man die Kraft, die uns aus Ben Jonson, Massinger, Marlow und Beaumont und Fletcher anweht, so bleibt zwar Shakespeare immer [3] noch eine gewaltig hervorragende Größe, aber man kommt doch zu der Überzeugung, daß viele Wunder seines Geistes einigermaßen zugänglich werden, und daß vieles von ihm in der kräftigen productiven Luft seines Jahrhunderts und seiner Zeit lag.«

»Sie haben vollkommen recht,« erwiederte Goethe. »Es ist mit Shakespeare wie mit den Gebirgen der Schweiz. Verpflanzen Sie den Montblanc unmittelbar in die große Ebene der Lüneburger Haide, und Sie werden vor Erstaunen über seine Größe keine Worte finden. Besuchen Sie ihn aber in seiner riesigen Heimath, kommen Sie zu ihm über seine großen Nachbarn: die Jungfrau, das Finsteraarhorn, den Eiger, das Wetterhorn, den Gotthard und Monte-Rosa, so wird zwar der Montblanc immer ein Riese bleiben, allein er wird uns nicht mehr in ein solches Erstaunen setzen.

Wer übrigens nicht glauben will,« fuhr Goethe fort, »daß vieles von der Größe Shakespeares seiner großen kräftigen Zeit angehört, der stelle sich nur die Frage, ob er denn eine solche staunenerregende Erscheinung in dem heutigen England von 1824, in diesen schlechten Tagen kritisirender und zersplitternder Journale für möglich halte. Jenes ungestörte, unschuldige, nachtwandlerische Schaffen, wodurch allein etwas Großes gedeihen kann, ist gar nicht mehr möglich. Unsere jetzigen Talente liegen alle auf dem Präsentirteller der Öffentlichkeit. Die täglich [4] an funfzig verschiedenen Orten erscheinenden kritischen Blätter und der dadurch im Publicum bewirkte Klatsch lassen nichts Gesundes aufkommen. Wer sich heutzutage nicht ganz davon zurückhält und sich nicht mit Gewalt isolirt, ist verloren. Es kommt zwar durch das schlechte, größtentheils negative ästhetisirende und kritisirende Zeitungswesen eine Art Halbkultur in die Massen, allein dem hervorbringenden Talent ist es ein böser Nebel, ein fallendes Gift, das den Baum seiner Schöpfungskraft zerstört vom grünen Schmuck der Blätter bis in das tiefste Mark und die verborgenste Faser.

Und dann, wie zahm und schwach ist seit den lumpigen paar hundert Jahren nicht das Leben selber geworden! Wo kommt uns noch eine originelle Natur unverhüllt entgegen! Und wo hat einer die Kraft, wahr zu sein und sich zu zeigen wie er ist! Das wirkt aber zurück auf den Poeten, der alles in sich selber finden soll, während von außen ihn alles im Stich läßt.«

Das Gespräch wendete sich auf den ›Werther‹. »Das ist auch so ein Geschöpf,« sagte Goethe, »das ich gleich dem Pelikan mit dem Blute meines eigenen Herzens gefüttert habe. Es ist darin so viel Innerliches aus meiner eigenen Brust, so viel von Empfindungen und Gedanken, um damit wohl einen Roman von zehn solcher Bändchen auszustatten. Übrigens habe ich das Buch, wie ich schon öfter gesagt, seit seinem Erscheinen nur ein einziges mal wieder gelesen und mich gehütet, [5] es abermals zu thun. Es sind lauter Brandraketen! Es wird mir unheimlich dabei, und ich fürchte den pathologischen Zustand wieder durchzuempfinden, aus dem es hervorging.«

Ich erinnerte an sein Gespräch mit Napoleon, das ich aus der Skizze kenne, die unter seinen ungedruckten Papieren vorhanden und die ich ihn wiederholt ersucht habe weiter auszuführen. »Napoleon,« sagte ich, »bezeichnet gegen Sie im ›Werther‹ eine Stelle, die ihm einer scharfen Prüfung gegenüber nicht Stich zu halten scheint, welches Sie ihm auch zugeben. Ich möchte sehr gern wissen, welche Stelle er gemeint hat.« – »Rathen Sie!« sagte Goethe mit einem geheimnißvollen Lächeln. – »Nun,« sagte ich, »ich dächte fast, es wäre die, wo Lotte Werthern die Pistolen schickt, ohne gegen Albert ein Wort zu sagen und ohne ihm ihre Ahnungen und Befürchtungen mitzutheilen. Sie haben sich zwar alle Mühe gegeben, dieses Schweigen zu motivieren, allein es scheint doch alles gegen die dringende Nothwendigkeit, wo es das Leben des Freundes galt, nicht Stich zu halten.« – »Ihre Bemerkung,« erwiderte Goethe, »ist freilich nicht schlecht. Ob aber Napoleon dieselbe Stelle gemeint hat oder eine andere, halte ich für gut nicht zu verrathen. Aber wie gesagt, Ihre Beobachtung ist ebenso richtig wie die seinige.«

Ich brachte zur Erwähnung, ob denn die große Wirkung, die der ›Werther‹ bei seinem Erscheineu gemacht, wirklich in der Zeit gelegen. »Ich kann mich,«[6] sagte ich, »nicht zu dieser allgemein verbreiteten Ansicht bekennen. Der ›Werther‹ hat Epoche gemacht, weil er erschien, nicht weil er in einer gewissen Zeit erschien. Es liegt in jeder Zeit so viel unausgesprochenes Leiden, so viel heimliche Unzufriedenheit und Lebensüberdruß, und in einzelnen Menschen so viele Mißverhältnisse zur Welt, so viele Conflicte ihrer Natur mit bürgerlichen Einrichtungen, daß der ›Werther‹ Epoche machen würde und wenn er erst heute erschiene.«

»Sie haben wohl recht,« erwiederte Goethe, »weßhalb denn auch das Buch auf ein gewisses Jünglingsalter noch heute wirkt wie damals. Auch hätte ich kaum nöthig gehabt, meinen eigenen jugendlichen Trübsinn aus allgemeinen Einflüssen meiner Zeit und aus der Lectüre einzelner englischer Autoren herzuleiten. Es waren vielmehr individuelle, nahe liegende Verhältnisse, die mir auf die Nägel brannten und mir zu schaffen machten, und die mich in jenen Gemüthszustand brachten, aus dem der ›Werther‹ hervorging. Ich hatte gelebt, geliebt und sehr viel gelitten! Das war es.

Die vielbesprochene Wertherzeit gehört, wenn man es näher betrachtet, freilich nicht dem Gange der Weltkultur an, sondern dem Lebensgange jedes einzelnen, der mit angeborenem freien Natursinn sich in die beschränkenden Formen einer veralteten Welt finden und schicken lernen soll. Gehindertes Glück, gehemmte Thätigkeit, unbefriedigte Wünsche sind nicht Gebrechen einer besonderen Zeit, sondern jedes einzelnen Menschen, [7] und es müßte schlimm sein, wenn nicht jeder einmal in seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der ›Werther‹ käme als wäre er bloß für ihn geschrieben.«

[8]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1824. 1824, 2. Januar. Mittag bei Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A692-D