1795, Frühjahr (?).


Über Wolfs Prolegomena zu Homer

»Die zwei scheinbarsten Widersprüche ließen sich a) aus dem Glauben ableiten, daß Homer sich der Errungenschaft und des Eigenthums vieler Sänger vor ihm bemächtigt und so auf dieser Basis solche Epopöen erbaut hätte, wie wir sie noch haben; dann fiele die [263] psychologische Unmöglichkeit doch ganz weg: aus so vielen und so oft schon bearbeiteten Sujets ließe sich ja wohl noch eine Ilias und Odyssee von einem Homer zusammensetzen; b) aus der Tradition, daß die schon geordneten und von Homer in wahren Zusammenhang gestellten Rhapsodien durch die Ungeschicklichkeit der späteren Rhapsodien auseinandergerissen und erst von Solon wieder zusammengefügt worden wären. Viel von Wolf's Behauptung würde auch bei dieser Hypothese sehr wohl bestehen können.

Den meisten Beifall hat sich Wolf von den neuern Theologen zu versprechen, die kein geringes Triumphlied darüber anstimmen werden, daß nun auch dieser heidnische Moses entthront ist.

Ich als Dichter habe ein ganz anderes Interesse, als das der Kritiker hat. Mein Beruf ist zusammenfügen, verbinden, ungleichartige Theile in ein Ganzes zu vereinigen; des Kritikers Beruf ist, aufzulösen, trennen, das gleichartigste Ganze in Theile zu zerlegen. Als Dichter habe ich also eine unübersteigliche Scheidewand zwischen mir und dem heillosen Beginnen des Kritikers gezogen; aber ich kann nun doch des Kritikers in hundert Fällen nicht entbehren. Ich lese meinen Homer mit Bewunderung, stoße aber aufeinmal auf Scenen und einzelne Stellen, die allen Eindruck stören und mich auf's Unangenehmste situiren. Hier weiß ich dem Kritiker unendlichen Dank, wenn er mir sagt: ja, gerade diese Stelle ist unächt.

[264] Wolf würde, wenn er nicht öffentlicher Lehrer wäre, diese Idee schwerlich so fein ausgesponnen haben. Der Drang und die Begeisterung öffentlicher Mittheilung bewirken Wunder!

Wenn nach Wolf's Andeutung die Odyssee hundert Jahre später und unter einem ganz andern Himmel, als der Ionische, gesungen ist, so dürfte man wohl auf Sicilien rathen.

Wolf's unbegränzte Mittheilungsfertigkeit und Bereitwilligkeit steht mit seiner Belesenheit und Wissenschaft im vollkommensten Ebenmaß.«

[265]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1795. 1795, Frühjahr (?). Über Wolfs Prolegomena zu Homer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A6E7-2