1813, Mitte August.


Mit Heinrich von Heß

Die vierzehn Tage bis zu Goethes Ankunft in Dresden waren vergangen und Herzog Karl August während dem angekommen; auch wir erhielten Goethes Karte (mit darauf verzeichneter Wohnung, weil er uns leider nicht fand), wonach ich mich Tags darauf denn auch allsogleich in freier Stunde hinverfügte.

Das Getreibe und Kriegsgetümmel der Stadt hatte in dem edlen Dichter, wie er mir sagte, das Bedürfniß erweckt, sich im Contraste mit selbem noch mehr in den [324] freiesten Kunstanschauungen zu bewegen. So wurde sein früheres Wort bald zur That, und er schlug mir vor, zuerst die Galerie, dann die Museen und endlich das Japanische Palais zu besehen, wo er mir dann alles erklären und deutlich machen wolle, was dem minder Eingeweihten ohne höhere Führung nicht sogleich verständlich sein könne, und, gütig wie er war, hielt er getreulich das gegebene Versprechen. Leider waren es jedoch die damaligen Geschäftsarbeiten bei Tag und Nacht in Dresden und die darauf folgenden langen Kriegsjahre, welche mich verhinderten, noch mit frischerem Gedächtnisse all das Interessante und Gediegene, all die Goldkörner mehr en détail aufzuzeichnen, welche aus dem Munde dieses unvergleichlichen Kenners und Schätzers alter und neuer Kunst flossen. Er durchschaute mit Adlerblicken tief den Kern jedes Kunstwerkes und offen und klar lagen vor ihm die Anschauung wie der Schaffungsproceß eines Raphael, Correggio, Tizian, Michel Angelo und wie sie nun alle heißen die Heroen der Kunst, als ihre Bildungen vor uns standen.

Alle erklärte er mit einer Güte, einer Langmuth, die mir noch jetzt unvergeßlich sind, und deren Klarheit es gerade war, die den Gedanken in mir auskommen ließ, daß man so Natürliches, so Wahres nicht aufzuschreiben bedürfe, da es ja dem Sinne nicht mehr entgehen könne. Durch seinen Blick wurde mir jede Wesenheit dergestalt entschleiert, daß zuletzt sein Gedanke [325] sich zu dem meinigen, in dieser Fülle des Richtigen und Wahren einmal großgezogen, bis auf den heutigen Tag nicht anders mehr denken konnte, als es mir Goethe in wenigen Augenblicken gezeigt, bewiesen, bis zur Evidenz faßlich gemacht hatte. Instinctartig hatte wohl die Natur schon früher etwas in mich gelegt, nun wurde aber das jahrelange stille Denken zur plötzlichen Erkenntniß, die, wie das Gestirn des Mondes bei stiller Nacht, meinen bisher dämmernden Gedanken bei der Leuchte des freundlich unermüdlichen Meisters aufging.

So hatte ich z.B. bei der Madonna des h. Sixtus von Raphael, die ich schon früher aus Kupferstichen und Copien kannte, stets den weltenumfassenden Blick des Kindes und das tiefsinnige jungfräuliche Antlitz und Wesen der Mutter diese göttlichen Kindes angestaunt; Goethe machte nun mit wenigen Worten meinen früheren Empfindungen Luft, indem er, vor das Bild mit mir hintretend, sagte: »Sehen Sie hier mit den größten Meisterzügen der Welt Kind und Gott und Mutter und Jungfrau zugleich in göttlicher Verklärung dargestellt. Das Bild allein ist eine Welt, eine ganze volle Künstlerwelt und müßte seinen Schöpfer, hätte er auch nichts als dies gemalt, allein unsterblich machen.«

Bei der Magdalena von Correggio entwickelte er den Gedanken der himmlischen Ruhe der Büßenden bei der vollendetsten irdischen Schönheit, deutete bei der [326] Geburtsnacht Christi auch den besondern Sinn der Beleuchtung der Welt durch Christus allein, von dem alles Licht ausgeht und sich so weiter verbreitet.

Bei den Bildern von Carlo Dolce bemerkte er den zarten, manchmal bis zu einer zu großen Weichheit gehenden Charakter derselben; ebenso deutete er bei Tizian auf jenen der veredeltsten Wahrheit in Composition wie Farbe auf die Blaufärbung der venetianischen Schule, auf die Derbheit und die grellen Lichter der Rubens'schen, auf die Bevorzugung des Stilllebens der niederländischen und holländischen – erklärlich durch ihr abgeschlossenes Volksleben – auf die höhere Bedeutung der niederrheinischen und altdeutschen Schule, die, mit Ausnahme der richtigeren Menschenformen, den italienischen Musterschulen am nächsten stehen. – Endlich betonte er mit Nachdruck Albrecht Dürer's Meisterschaft, Leonardo da Vinci's Musterschule, und zuletzt als Gipfel alles Großartigen und Genialen, Michel Angelo's unerreichbare Schöpfungen, ebenso unerreichbar wie jene Raphael's in allem rein Menschlichen und kunstgemäß Vollendeten. Dies alles nun, entwickelt während der eigenen Anschauung jedes einzelnen dieser Meistergebilde, prägte sich dem gelehrig Horchenden tief in's Gedächtniß ein, und diese Worte, ohnehin so verwandt seinem früheren Denken und Fühlen, blieben ihm ein Leitstern für alle späteren Kunstanschauungen in Italien, Frankreich und [327] Deutschland durch volle fünfzig Jahre seines darauf folgenden vielbewegten Lebens.

Nach der vollständigen Besichtigung der ganzen Galerie vermehrten die immer größer werdenden politischen Verhältnisse meine Geschäfte in so bedeutendem Maße, daß meine freie Zeit immer geringer wurde und der gemeinschaftliche Besuch der Museen unterbleiben mußte; nur auf den Japanischen Palast beschränkte sich unsere letzte Wanderung, und das schon in den letzten, gar sehr bewegten Tagen meines Dresdener Aufenthalts.

Allein dennoch besahen wir noch durch drei Stunden diese höchst interessante königliche [Porzellan-]Sammlung. Goethes Bemerkungen und Vergleiche über die Geschmacksbildung, die Formen und Malerei aller außereuropäischen Kunstwerke gegenüber der europäischen sowie insbesondere der japanischen, deren Producte wir hier bewunderten, waren auch in diesem Fache von gleicher Originalität und Gediegenheit. Ganz richtig entwickelte er ihre Kunstrichtung und Fortschritte aus der eigenthümlichen Lebensweise und dem geschichtlichen Gange jedes Volkes oder Stammes sowie der Naturproducte, womit jedes Land besonders gesegnet war. Die meisten verfolgte er nun stufenweise, einige von Jahrhundert zu Jahrhundert, zeigte hierauf die in jedem derselben entstandenen Erzeugnisse und Meisterstücke, wie sie sich in den einzelnen Kästen gruppirten, und so erhielt ich in wenigen Stunden eine Übersicht [328] des Kulturganges dieser Völker, die sich in den vor uns liegenden Gebilden Schritt für Schritt nachwies und ihren Ursprung wie ihre Reihenfolge bekundete. Geschlossen wurden diese Vorträge mit der Vergleichung der obigen Producte mit jenen von altsächsischen und neufränkischen Porzellanen, und noch jetzt kann ich Sammlungen dieser Art, ja, keinen einzelnen Gegenstand derselben besehen, ohne überall den Maßstab und die Anschauungsweise, die mir Goethe gelehrt, in großen, alle Zeiträume einer Kunst überschauenden Zügen anzuwenden.

Als wir uns vom Ausgangssaale des Palastes der großen Treppe zuwandten und dieselbe langsam hinabstiegen, um uns nicht zu schnell zu trennen, da wir unten allsogleich verschiedne Wege einschlagen mußten – ich, den vor der Neustadt ausgebreiteten französischen Lagern zu, während Goethe nach der Altstadt in seine Wohnung ging, da sprach er noch folgende freundliche Worte: »Und nun ich Ihnen alles gezeigt habe, was Ihnen und mir die drängende Zeit zuließ, lassen Sie mich meine Freude ausdrücken, in Ihnen einen so warmen Kunstfreund gefunden zu haben und Ihnen auch meinerseits, wie ich sehe, nützlich geworden zu sein. Gewähren Sie mir dagegen freundlichst eine Bitte: Sie sind des Tages und, wie Sie mir sagen, auch ganze Nächte über mit Arbeit überhäuft, unser Wiedersehen allhier ist daher ungewiß; auch könnten Sie wohl, wie ich aus allem wahrnehme, unvermuthet, ja, [329] plötzlich vielleicht abreisen müssen. Wenn nun so das Ungeheure geschähe, das Unvermeidliche herannahen würde, was auch meinen Herzog und mich von hier wegtreiben müßte, wollen Sie mir dann und wäre es auch nur mehr durch eine Karte, deren Sinn ich verstehen würde – ein verständliches Zeichen zu unserem Aufbruche geben?«

Gerne sagte ich dies dem edlen verehrten Manne zu und wahrlich! es war die höchste Zeit; denn schon drei Tage später mußte ich ihm die Karte senden, während ich selbst am vierten schon über alle Berge war, der böhmischen Grenze und somit dem wiederausbrechenden Kriege zueileind.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1813. 1813, Mitte August. Mit Heinrich von Heß. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A7E7-5