1795, 28. Mai.


Mit Friedrich August Wolf,
Karl August Böttiger u.a.

Bei Goethe. Zuerst über Lessing. Er war bloß zum Literator geboren, aber ein sehr schlechter Bibliothekar. Plan, nur bis 1740 bei der Wolfenbütteler Bibliothek complett zu sein. Große Unordnung. Seine eignen Schriften auf der Bibliothek zerschnitt er, um sie abdrucken zu lassen. Seine Neigung zur Orthodoxie[255] empfing er in Berlin, wo er weder Spalding noch die andern Aufklärer ausstehen konnte. Langer, sein Nachfolger, wohnte den vornehmsten Auctionen auf seinen Reisen bei und erstand überall kostbare Bücher, die er aber so lange stehn ließ, bis er in Wolfenbüttel sedem fixam bekam, wo er alles zusammen kommen ließ. Er arbeitete sehr gründliche Recensionen in der »Allgemeinen Deutschen Bibliothek«; so hat er unter andern des Erlanger Beyer Versuch über den Theokrit sehr scharf recensirt.

Wir besahen Goethes Gemmensammlung. Bemerkung über eine Stelle im Bion, die ich [Böttiger] nirgends finde. »Bei den alten Theatern,« sagt Goethe, »war weit mehr etikettenmäßige Convention, als bei den unsrigen, da wir das, was der inneren Energie an Überredungskunst abgeht, durch... 1 der Äußerlichkeiten und Scenerie zu ersetzen suchen. Die Alten hatten in ihren Masken, Decorationen, Maschinen und Theaterkostum unendlich mehr, was durch allgemein angenommene Convention niemand mehr beleidigte, uns aber unendlich lächerlich vorkommen würde, eine reiche Fundgrube für die Parodie und Travestirung der Komiker. So bin ich überzeugt, daß das Theater gleichsam in gewisse Regionen getheilt gewesen sein muß, und daß die Lustregion, in der die obere Maschinerie, die dii ex machina (Volken, Vögel u.s.w. im Aristophones) schwebten, und die Wasser- und[256] Orcusregion übereinander rangirten, ohngefähr so, wie in den Gemälden und Reliefs des Alterthums eine Reihe Figuren auf den Köpfen der untern Reihe steht. Dies war unwandelbar und stets vor den Augen der Zuschauer, auch dann, wenn im ganzen Stück das Bedürfniß der einen Region nicht ein einziges Mal eintrat. Etwas anders war es mit den exostris und ekkyklêsesi des Innern des Hauses und der Veränderung gewisser Gassen, wie dies auch Palladio beim Theater zu Vicenza sehr artig angebracht hat. Diese stehenden Decorationen machen es auch allein begreiflich, wie mehrere, oft acht Stücke, in einem Tage gleich nach einander ohne Störung und Embarras aufgeführt wer den konnten.« Wolf bemerkte hierbei, daß er vollkommen überzeugt sei, daß mehrere Tetralogien gleich nacheinander aufgeführt worden wären, nur daß die Stelle in Aristoteles Poetik, wo von hundert Stücken die Rede sei, zu unglaublich sei, um nicht den Verdacht einer Verfälschung gegen sich zu erregen.

Hierauf erzählte Goethe, wie die Advocaten in den großen Sälen des Gerichtshofes von Venedig ihre Sachen plaidiren. Den Richtern gegenüber, sodaß die Sachwalter im Rücken sind, sitzt ein Segretario, der Stunden- oder Halbestundensanduhren vor sich stehen hat und diese während der Advocat spricht, auslaufen läßt. Der Advocat läßt oft Instrumente, Zeugnisse, Gesetze vorlesen, das durch einen besondern Schreiber geschieht. So lange dies dauert, wird das Stundenglas [257] umgelegt, weil dies Ablesen nicht zugerechnet wird. Der Advocat, dem alles daran liegen muß, zu seinem Vortheil Zeit zu erobern, spricht oft nur einpaar Worte drein, als: »Hört! Bemerkt vorzüglich dies Zeugniß!« Augenblicklich stellt der Secretär wieder das Stundenglas, welches oft sehr schnelle Vibrationen veranlaßt. Der Gegner hat ebenso viel Zeit zugemessen. Es plaidiren in wichtigen Sachen gewöhnlich zwei Advocaten für den Kläger und zwei für den Angeklagten. Die ersten reden mehr statarisch und gemäßigt und haben nur die ruhige Auseinandersetzung der Thatsachen, die zwei letzten aber wirken auf die Leidenschaften und wenden alle Redekünste an. Hier entstehen auch wirkliche concertationes und altercationes, indem der Gegner den Redenden oft ins Wort fällt, der Redende aber über diese Unterbrechungen laute Klage führt. Der Fall, den Goethe plaidiren hörte, betraf die Abläugnung eines Fideicommisses von 6000 Scudi, wo die Procuratoren der pia causa die Kläger waren. Da bediente sich der Redner für den Beklagten aller Kniffe, um das Mitleid der Richter zu bewegen. Der Beklagte war ein alter Siebzigjähriger Mann. »Bedenkt!« sagte sein Sachwalter, »daß es hier nicht eigentlich auf die Summe von 6000 Scudi, sondern auf Ehre und bürgerliche Existenz [eines] Bürgers abgesehen ist, und daß der so viele Jahre lang gesparte und vermehrte Schatz von Bürgertugend durch euer Verdammungsurtheil aufeinmal verloren gehen würde.« [258] Beide Parteien, für welche die Redner sprechen, sitzen einander gegenüber und sind gegenwärtig. Sie beobachten nicht allein die größte Demuth mit niedergeschlagenen Augen und gesenktem Haupte, sondern der Beklagte ist auch wirklich nach seinem Anzuge in luctu et squalore. Die Documente und Instrumente, worauf es auf beiden Seiten ankommt, und die von dem Schreiber abgelesen werden, sind schon gedruckt und die Richter haben sie in den Händen; nach beendigter Ballotage der Richter können sie auch die umstehenden Zuhörer zu kaufen kriegen, vorher aber nicht. Goethe hatte die in groß Quart sehr splendid gedruckten Documente beider Parteien in zwei Cahiers bei dem erwähnten Handel gekauft und zeigte sie uns noch vor. Auch hatte er den einen Advocaten im größten Affect des Haranguirens auf's Papier gezeichnet und wies ihn der Gesellschaft vor. Er macht mit vorliegendem Körper mit der rechten Hand einen besondern Gestus, [durch Aufsetzen der Spitze des Zeigefingers auf die Spitze des ausgestreckten Daumens] welcher eigentlich das Wiegen mit der Waage, oder das Senken der Sonde anzeigt und eine besondere Genauigkeit ausdrückt (pensitato rem agitare). Die ganze Zahl der Richter theilt sich in quarantario's, öfter nach zwanzig, sechzehn, ja nur Dekaden, die zusammen in verschiedenen Theilen des ungeheuren Saales (also wie in den basilicis zu Rom die judicia centumviralia) zu gleicher Zeit Processe abhören. Die corona populi [259] steht gierig horchend herum und ermüdet mehrere Stunden nicht. Neben Goethe stand ein Knabe von zehn Jahren, der vier Stunden lang mit nimmersatter Spannung alles auffing. Die Redner haben eigentlich kleine Kanzeln oder suggestes, in welchen sie sprechen sollten; aber sie stellen sich gewöhnlich davor und haranguiren mit ganz freistehendem Körper. Wolf bemerkte, daß sich zu dieser Sitte alle Belege theils aus den Römern, theils aus den Griechen finden ließen. Die neuern Reisebeschreiber erzählen fast gar nichts davon; einige unvollständige Winke giebt Mayer in seinen »Darstellungen aus Italien«.

Bei der Betrachtung einiger altsicilischen Münzen von vorzüglich schöner Arbeit wurde die Hypothese sehr wahrscheinlich gefunden, daß die Griechen in Sicilien ihre eigene selbstwachsene Kunst und Literatur lange vor den Athenern und Pisistratiden gehabt hätten.

Über Declamation des Hexameters nach der Quantität und dem Accent. Wenn ihn Voß feierlich liest, so ist es wahrer Gesang und Intonation. Die Sylbe, wo der Accent steht, wird etwas gehoben und geschärft, z.B. hómmi, homínibus, etwa wie die Engländer den Consonanten in der Aussprache verdoppeln, der den Accent hat. Aber der Accent giebt auch eine gewisse Erhöhung des Tons, der ganz verschieden von der Länge und Kürze der Sylbe ist. Jeder Hexameter hat 24, also jeder pes 4 Zeiten, von welchen in den alten Scholien oft die Rede ist.

[260] Es wurde ein Versuch mit dem Anfang der Ilias gemacht. Gleich das erste Wort mênin gab zu der Bemerkung Gelegenheit, daß man hier eigentlich meenin aussprechen müsse; denn das ê sei doch nur ein doppeltes ee und sei auch, sowie alle Diphthongen der Griechen, getrennt, schnell ausgesprochen worden. Daraus sei auch aus allen langen Vocalen der Circumflex zu erklären, der eigentlich nichts, als ein acutus und gravis – ´` – sei, aus welchen später die sonderbare geschlängelte Form entsprang. Man müsse sich also mênin so geschrieben und accentuirt vorstellen:meenin. Die Griechen haben eigentlich nur Einen Accent, den accutus; der gravis zeigt bloß absentiam accuti und der Circumflex den accutus neben dem gravis an. – Die Ungarn haben in ihrer Sprache das Meiste von dem, was die Alten Accent nannten. Sie begriffen auch in Wolf's Vorlesungen alles sogleich, da die übrigen Zuhörer große Mühe hatten. So sprach ein Ungar Wolfen um den Chestérfield an, und als ihn Wolf tadelte, bewies er, daß er recht gesprochen habe. Auch die Lateiner accentuirten so gut, als die Griechen, nur daß sie die Accente nicht schrieben. Wolf recitirte zugleich den ersten Vers der Eclogen [Vergil's] und zeigte, wie ihn die Römer ausgesprochen haben müßten:

Tityre ty patylai rekybans syb tegmine phagei

Es sei allerdings möglich, die alte Aussprache der Römer ganz aufzufinden und wieder herzustellen, aber ihren lebendigen Ton hätte man darum nicht.

[261]

Wolf erklärte sich sehr lebhaft gegen Wieland's Verdeutschung des ph in f. F war ein barbarischer, den Griechen ganz unbehülflicher und unaussprechlicher Buchstabe, daher Cicero einmal gegen einen Graeculus das Argument braucht: er könne nicht einmal den Namen Fundanius aussprechen. Die eigentliche Aussprache der Griechen sei p-h, Phi. gewesen. Wieland horchte hierbei sehr auf.

Die unnachahmliche Naivität des Magister Hederich in seinem Mythologischen Lexicon: die Töchter des Asklepios.

Goethe läßt auf einem Friese eines seiner Zimmer die Metamorphose der Tyrrhener in Delphine aus der Laterne des Demosthenes zu Athen abcopiren. Sonderbare Behandlung dieses Sujets aus diesem Kunstwerke nach einem ältern mythos – Eine kleinere Bronze, ein Priap ohne Hoden, vielleicht ein Archigallus, obgleich mit einem Barte, das vielleicht klimatisch zu erklären sein dürfte.

Wärmezusammenfassende Kraft der wollenen Kleidung, erkältende der Leinewand. Vorzug des Alterthums in Kleidung und accubitus.

Die Reime sind barbarischer Abkunft. »Nur ein Wieland,« sagte Goethe, »sollte reimen.« »Gleim thut's ohne Freibrief,« sagt Wieland. Der Reim paßt eigentlich nur für kürzere canzoni; sobald er zu den Stanzengedichten in Ariost, Tasso u.s.w. übergeht, verirrt er aus den Jamben in Anapästen, als: [262] armî pîêtôse [in La Gerusalemme liberata]. Wer mag ihn eingeführt haben?

Als Goethe von Palermo nach Girgenti reiste, sah er vom Wirthshause, wo er Mittags hielt, mehrere reisende Sicilianer die Distelköpfe, die in unzähliger Menge auf einer verwilderten Wiese emporragten und eben noch im Schossen und Aufblühen waren, abhauen, schälen und essen. Er probirte es nun selbst und fand die so geschälte Sprosse zart und süßlich, sodaß sie nach unserer Salatzurichtung dem Spargel sehr ähnlich gewesen wäre. Der Vetturino raufte Puffbohnen und vertheilte sie als große Delicatesse; er selbst verzehrte einen rohen Kohlrabi, wie wir einen Apfel verzehren würden.

Über Träume. Wolf erinnert sich nie, geträumt zu haben, auch kann er schlafen, wann und wie lange er will. Den traumlosen Schlaf erklärt auch Goethe für den erquickendsten. Goethe erzählt einen sehr scharfsinnigen, philosophischen Traum, den er in verflossener Nacht gehabt habe.


Note:

1 Unleserlich. Liest sich wie: »Schonung«, das aber keinen Sinn giebt.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1795. 1795, 28. Mai. Mit Friedrich August Wolf,. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A80E-5