1777, 19. September.


Mit Franz Oberthür

Warm, enthusiastisch, sowie man vom Heiligthum des Apollo kömmt, komme ich [früh halb 10 Uhr] von der Wartburg, wo Goethe wohnet, nach meinem Gasthof ›Zum Rautenkranz‹ zurücke .....

Fast eine halbe Stunde mußte ich, wie im Vorhofe des Tempels, warten, bis ich Goethen zu sehen bekam.

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[242] Ich glaubte einen tiefdenkenden, ernsthaften, kalten Engländer, dem Kleide und der Miene nach, zu sehen; ich konnte leicht den Verfasser des ›Götzens von Berlichingen‹, der ›Leiden des jungen Werthers‹, des ›Clavigo‹ finden, und das Bild in Lavater's Physiognomik hat viel Ähnlichkeit mit dem Urbild. Aber den lustigen, launigten, auch ein wenig muthwillig – nehmen Sie dieses Wort nur in keiner üblen Bedeutung – lustigen Gesellschafter, wie man mir Goethe beschrieben, hätte ich bei diesem Besuch nie errathen.

Er hatte soeben die, seinem Fenster geradeüber stehenden zwei von der Natur gesetzten Spitzsäulen gezeichnet, die unter dem Namen des Mönchs und der Nonne bekannt sind und auch nicht lange zuvor von Wieland im ›Teutschen Merkur‹ besungen worden. Diese betrachtete ich durch ein Sehrohr, von diesem, dazu sehr bequemen Standpunkte einige Augenblicke, übersahe dann die Gegend, die Aussichten von dieser Burg hinab in die Tiefe und lobte die Wahl des Dichters, der diesen, seiner Phantasie und seiner Muse so schicklichen Ort dem Palaste des Herzogs in der Stadt vorgezogen.

Die ganze übrige Unterredung hatte den Zustand der Wissenschaften und Künste in meinem Vaterlande [Franken] zum Gegenstand, und ich muß gestehen, daß Goethe meinem Nationalstolz nicht wenig geschmeichelt; er hatte schon in seiner Vaterstadt etliche meiner Landsleute gekannt, und auch in Thüringen bekam er von [243] sicherer Hand vortheilhafte Nachrichten von Franken und unserm geschickten Hofmaler [in Würzburg]; von ihm selbst verfertigte Portraits hatte er in Erfurt gesehen, und dieses waren die Data und Gründe zu seinem Lobe über Franken und den Zustand der Wissenschaft und Künste daselbst. – Sie können wohl denken, daß ich ihm noch mehr Gutes von meinem Vaterlande gesagt, soweit es Wahrheit und Bescheidenheit litten.

Nach und nach merkte ich, daß der Dichter sich noch mehr in sich zurückzog, stille wurde, ernsthaft und kalt wie in einem Spleen dastund. Da dachte ich: vielleicht hat sich irgend ein großer Gegenstand seiner Seele bemächtigt, und Apollo heißt ihn darüber dichten und beurlaubte mich.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1777. 1777, 19. September. Mit Franz Oberthür. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A879-6