Der Gerechtigkeit eine Gasse

Die Stiefkinder des Wirtschaftswunders gehen auf die Barrikaden

Der Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands rief zum 2. Deutschen Kriegsopfer-Kongreß, und rund 1500 Delegierte kamen in das ‘modernste Konzerthaus Europas’ - die Bonner Beethovenhalle - um ihrer Unzufriedenheit mit schrillen Buh- und Pfuirufen Luft zu machen. ‘Was soll man von einer Regierung halten, die ihre Versprechungen nicht erfüllt’, so fragte -Präsident Dr. Weltersbach. ‘Adenauer war ja nie Soldat’, kam es prompt aus der Menge. Ein gewiß nicht sonderlich qualifizierter Zwischenruf.

Der für die Kriegsopferversorgung zuständige Bundesarbeitsminister Theodor Blank, trug sehr wohl den ‘Ehrenrock der Nation’, was ihn freilich nicht hinderte, eine -Abordnung dreieinhalb Stunden vor seiner Türe warten zu lassen. ‘Ich liebe keine Demonstrationen’, soll er gesagt haben. Nicht endenwollende Pfuirufe, als das Mitglied des Präsidiums, Frau Brockmann, dem Kongreß hiervon Mitteilung machte. Das war der Auftakt zu einer ganzen Serie von ‘Aufklärungs- und Protestaktionen’, die die Kriegsopfer nun im Bundesgebiet veranstalten wollen.

Und sie sind nicht die einzigen, die auf die Straßen ziehen und (symbolisch) auf die Barrikaden steigen. Gar nicht lange ist es her, da in Bad Godesberg die heimatvertriebenen Bauern zusammekamen, um der Bundesregierung die Leviten zu lesen. Die Bundesminister Schwarz und [sic!] konnten sich damals vor der aufgebrachten Versammlung nur mit Mühe Gehör verschaffen. Daß auch nicht ein einziges Kabinettsmitglied bereit war, sich persönlich dem Kriegsopferkongreß zu stellen, wen wollte das nach diesen Godesberger Erfahrungen verwundern? Niemand liebt eben Demonstrationen. Und so war ein Grußtelegramm des Bundeskanzlers alles, womit die Bundesregierung den Kriegsopferkongreß bedachte: Sie wolle ‘mit Interesse’ die Ergebnisse des Kongresses prüfen. Schallendes Gelächter war die Antwort.

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Bestechungsrechnung

Dann aber wird man die Kriegsopfer nicht leer ausgehen lassen können. Der FDP-Vorsitzende Mende hat auch bereits vor dem Kriegsopferkongreß kundgetan, daß für seine Partei eine ‘isolierte’ Ausgleichszahlung an die Beamten nicht in Frage komme. ‘Lassen Sie sich nicht von dem Bundeshaushalt beeindrucken, wie er von der Regierung vorgelegt wurde. Die letzte Entscheidung hat das Parlament, das beim Maßhalten nicht bei den Kriegsopfern beginnen dürfte.’ Welch ein aufschlußreiches Beispiel für das Zusammenspiel von Regierung und Regierungspartei. ‘Hoffen wir, daß niemand umfällt, wenn es zum Schwur kommt’, schallte es Mende denn auch prompt entgegen.

300 Millionen (DM)Deutsche Mark würde es den Bundesfinanzminister kosten, wenn auch die Kriegsopfer in diese ‘Gratifikations-Aktion’ einbezogen werden, die - ein Blinder spürt es - darauf abzielt, die allgemeine Unzufriedenheit der Beamten und der Kriegsopfer zu dämpfen. Ob die ‘Bestechungsrechnung’ aufgehen wird? Zweifel scheinen angebracht. [...]

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Nicht dramatisieren

Vergessen wir nicht: Noch heute beherbergt jede vierte Notwohnung Vertriebene, und fast 25 Prozent aller von der Fürsorge unterstützten Personen rekrutieren sich aus diesem Bevölkerungskreis. Insgesamt sind zur Zeit in der Bundesrepublik mehr als eine Million Menschen auf öffentliche Fürsorge angewiesen - ein Tatbestand, der in unserer wirtschaftswunderlichen Vorstellungswelt kaum bekannt ist. Selbst das Bundesvertriebenenministerium stellte kürzlich unumwunden fest, daß ‘die Eingliederung der Vertriebenen, soweit sie allgemein auch gelungen scheint, immer noch eine gewisse Tendenz zur untersten Basis zeigt’. Zu denken gibt es auch, daß der Anteil der wirtschaftlich Selbständigen in der alten Heimat 33,3% betrug, in der neuen aber auf knapp 8% zurückgegangen ist.

Man mißverstehe uns nicht: Natürlich ist im Leben eines Volkes, wie Bundeswirtschaftsminister  Erhard in seiner berühmten Rundfunkansprache vom März 1962 feststellte, eine ‘absolute Gerechtigkeit nach göttlichen Maßen’ unvorstellbar. ‘Um so bemerkenswerter ist es’, so Erhard, ‘daß ausgerechnet die Verfechter der Gruppeninteressen es jeweils ganz genau wissen, was Gerechtigkeit ist.’ Insofern wird man die jetzt über die Bundesrepublik hinwegbrausende Protestwelle auch nicht dramatisieren. Nach allen Erfahrungen spiegeln die von den Gruppeninteressenten, sprich Verbandsfunktionären, geprägten Forderungen alles andere wider als die wirklichen Wünsche und Hoffnungen der Menschen, für die sie zu sprechen vorgeben.

‘Das Millionenheer der Kriegsopfer schaut heute nach Bonn’, so verkündete der Vdk-Vizepräsident Ludwig [[!, richtig: Hönle]] - ein Ohnhänder - auf dem Bonner Kriegsopferkongreß. Mit anderen Worten: Dieses Millionenheer steht voll und ganz hinter den Forderungen des Verbandes nach verbesserten Rentenbezügen, die sich auf eine Größenordnung von mehr als eine Milliarde DM summieren. Aber das ist einfach nicht wahr. Der Verfasser glaubt sich dieses Urteil anmaßen zu können, weil er selbst zu denjenigen gehört, die eine Kriegsbeschädigten-Grundrente beziehen.

Diese Grundrenten sollen nach den Forderungen des Verbandes gleichfalls erhöht werden. Nun muß man wissen, daß Grundrentenbezieher so viel verdienen, daß ihnen eine einkommensabhängige Ausgleichsrente nicht zusteht. Von den 660.000 Schwerbeschädigten sind dies erfreulicherweise mehr als 70%. Nur 50.000 Schwerbeschädigte erhalten eine volle Ausgleichsrente, während weiteren 130.000 Beschädigten eine gekürzte Ausgleichsrente zusteht. Das sind die Ärmsten der Armen, denen geholfen werden muß - und das ist alles andere als ein ‘Millionenheer’.

Für eine Erhöhung der Grundrenten um drei oder sechs Mark gibt es keinen sozial zu motivierenden Anlaß. Aber in verbandspolitischer Sicht sieht das ganz anders aus, da muß den zahlenden Mitgliedern - ganz gleich, ob ‘sozial oder nicht’ - eine attraktive Verbandsforderung geboten werden. Nicht von ungefähr streben denn auch die Kriegsopferverbände für die zahlenmäßig besonders in Gewicht fallenden etwa 1,2 Millionen Kriegerwitwen Verbesserungen an, die allein mehr als eine halbe Milliarde DM kosten werden. Hier mag eine lineare Grundrentenerhöhung schon eher sozial gerechtfertigt sein. Aber jener Grundsatzforderung, vor allem dort zu helfen, wo die Not am größten, wird die Verbandsinitiative kaum gerecht.

Es wäre bedauerlich, wenn sich der Bundesarbeitsminister von dieser Verbandsgeschäftigkeit und von spektakulären Protestmärschen bluffen ließe und von seinem Konzept abginge, zuallererst besonders eklatante Härten der Kriegsopferversorgung aus der Welt zu schaffen.

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Die Rechte liegen beim Autor.


Rechtsinhaber*in
Sigmund Chabrowski

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2018). Quellensammlung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen. Interessenorganisationen. E5 - Transkript. Geschichte-MMB. Sigmund Chabrowski. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000B-D1F0-9