Heile Urlaubswelt

Kaum ein Urteil hat in der letzten Zeit derartige Schelte erfahren wie jenes der 24. Frankfurter Zivilkammer, die als Berufungsinstanz einer Klägerin recht gab. Die ältere Dame aus Köln hatte von einem großen Frankfurter Reiseunternehmen auf Rückerstattung eines Teils der Kosten geklagt, die ihr für einen Aufenthalt in einem griechischen Hotel entstanden waren. Der heikle Punkt der Beschwerde: Sie hatte in einer Gruppe von 25 schwedischen Schwerstbehinderten - Menschen mit geistigen und körperlichen Defekten, die der Art waren, daß jedem eine Begleitperson zur Betreuung mitgegeben war - eine Beeinträchtigung ihres Urlaubserlebnisses gesehen.

Ein Amtsrichter in Höchst versuchte das Thema ‘Behinderung’ dadurch zu vermeiden, daß er auch andere Mängelrügen der Klägerin in den Vordergrund seiner Entscheidung stellte. Das beklagte Unternehmen ließ durch seinen Anwalt ausführen, es sei jedoch in Wirklichkeit ganz allein um die Behinderten gegangen, strengte Berufung an und unterlag erneut. Die 24. Zivilkammer, die aus drei Berufsrichtern besteht, gab der Klägerin ein zweites Mal recht, diesmal mit deutlichen Hinweisen darauf, daß ein jeder, der die berühmten schönsten Tage des Jahres bezahle, auch einige Ansprüche anzumelden habe.

Wie nicht anders zu erwarten, geriet das - grundsätzlich verbraucherfreundliche Urteil – in die klappernde Mühle unser aller gestörten Verhältnisse zu Behinderten und ihrer Problematik. Durch Fehlinformationen mannigfacher Art, durch wenig hilfreiche Straßenbefragungen per Mikrophon nach der Art ‘Haben Sie etwas dagegen, gemeinsam mit einem Rollstuhlfahrer zu Mittag zu essen’ erregten sich die Behindertenverbände, die Gutwilligen und sogar die für gewöhnlich Gleichgültigen.

In der Tat: einige Formulierungen des rechtlich nicht mehr anfechtbaren Urteils der Kammer waren in ihrer Eindeutigkeit schockierend. Da hieß es: ‘Es ist nicht zu verkennen, daß eine Gruppe von Schwerstbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann. Dies gilt jedenfalls, wenn es sich um verunstaltete geistesgestörte Menschen handelt, die keiner Sprache mächtig sind … Daß es Leid auf der Welt gibt, ist nicht zu ändern, aber es kann der Klägerin nicht verwehrt werden, wenn sie es jedenfalls während des Urlaubs nicht sehen will.’

Darauf eben kam's an. Es gibt das Recht, vor dem Elend der Welt die Augen zu verschließen. Daß dies eine Frau tat, die es nicht ertrug, Tobsuchtsanfälle von Kranken im Aufzug Tag für Tag mitzuerleben – es ist, bei allem Mitgefühl für die Kranken, verständlich. Dem Reiseunternehmen ist sicher nicht vorzuwerfen, daß es versucht hat, per Gerichtsurteil einen behindertenfreundlichen Spruch zu erreichen. Doch es darf wohl auch angenommen werden, daß hinter diesem Versuch der rechtlichen Klärung die Besorgnis steckte, künftighin Vertragshotels nicht nur nach Zimmer- und Strandqualität, nach durchschnittlicher täglicher Sonneneinstrahlung und Güte des Bedienungspersonal zu testen, sondern auch noch überprüfen zu müssen, ob möglicherweise Kranke Urlaub machen wollen.

Jedenfalls gibt es den Anspruch auf eine heile Urlaubswelt.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2018). Quellensammlung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen. Stereotype. B1 - Transkript. Geschichte-MMB. Frankfurter Allgemeine Zeitung. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000B-D1C2-D