[38r]

Betreffend
die Untersuchung demagogischer
Verbindungen und Umtriebe

acta specialia ./. v. Henning.

(Ewr)Euer Exellenz überreichen wir in der
Anlage ganz gehorsamst unsere Original-
Akten wider den Regierungs-Referenda-
rius vHenning, bestehend aus 1 (vol. spec:)volumen speciale und
1 adhibendum anscheinend erheblicher, bei ihm in
Beschlag genommener Papiere mit dem Bemer-
ken, daß unsers gehorsamsten Dafürhaltens
die Vernehmung des v Henning für den ge-
genwärtigen Zweck erschöpft sey.

Die stärksten, anscheinend gegen ihn spre-
chenden Stellen der bei ihm vorgefundenen
Briefe sind nachstehende:

a) ein Schreiben des v. Selchow, seines O-
heims, der unter dem 17ten März 1817
ihn auffordert, mit einem Aufsatze
[38v] vorsichtig zu Werke zu gehen, indem er durch-
aus nicht geeignet sei, in fremde Hände zu
kommen, und denselben durch den Überbringer
wieder zurückgesandt verlangt.

b) ein Schreiben des Grafen von der Lippe
vom Oktober 1814, an Erichson:

der vHenning möge uns ein wohlthu-
end erneuerter äußerer Vereinigungs-
punkt sein, wie dies einst 1807 in Ham-
burg vHoff
aus Gotha ebenfalls war
und Euch werde Euer gegenseitig sich
erschließendes Selbst eine eigene schöne
Vereinigung.

c) seines Bruders Julius vom 23ten Junij
1815:

ich halte es für Ehrenwerk, rühmlich bei
dem Schwanken und der Ungewißheit1 Vieler fest und unerschüt-
terlich bei der Parthei zu halten, die
man noch für die beste und festeste er-
kannt hat. Und sollte der jetzige Zu-
stand Deutschlands auch durch diesen
Krieg gewaltsame Umänderungen er-
leiden, so steht es dann ja immer noch frei
uns zur bessern Parthei zu schlagen.

d) des verstorbenen vBrokes vom 9ten
May 1815:

dennoch muß berechnet und vorbereitet
werden, denn zum Stillesitzen ist das
Geschlecht nicht gemacht, noch bestimmt.
[39r]Was Du meinst über eine Parthey, welche
einer schlimmen Wendung des Krieges
sich bedienen dürfte, um den Versuch zu
machen, in die gesammte Verwirrung
Ordnung zu bringen, leuchtet mir ziem-
lich ein, soweit es ihr Wollen betrifft, a-
ber sie könnten auch leicht das Opfer wer-
den - die Diplomaten sind immer noch
stark in ihrer Schwachheit - Zahllose Stützen
werden das alte morsche Gebäude auf-
recht halten wollen, und es lange lange2 so hin-
halten, wie unerträglich es auch Millio-
nen sein möge, in der verfallenen Hüt-
te zu hausen; - bei uns würde wohl nur
eine allgemeine völlig unerträgliche Krie-
gesnoth alle Kräfte in gehörig starke
Bewegung bis zu völligen Explosionen
bringen könne, und der Wahrscheinlichkeit
nach würde sie immer nur theilweise recht
arg bedrängen, und also die andern
Theile nicht stark genug aufreitzen, be-
sonders da alles geschehen würde, diese
in Ruhe zu erhalten.

e) und vBrockes Schreiben vom 15ten
May 1815, worin er den vHenning
[39v]warnt, daß ihm nicht das Schicksal eines Schill
zu Theil werde, und daß er nicht sich und
seine Freunde ins Verderben stürzen
möge. Er werde mit seiner Freimüthig-
keit bald aufs schwarze Register gesetzt
werden, seine Mutter habe sich vor seinen
Aeußerungen entsetzt.

f) des Carl Wieland | angeblich vSelchow
unter dem fingirten Nahmen des Wie-
land
| aus Jena den 24ten Februar 1818:

Wie steht es mit der Bauernzeitung, und
liefern wir doch ein Paar recht kräfti-
ge Aufsätze, die auf einen Schlag die
Blinden sehend, die Lahmen gehend, und
die Tauben hörend machen. Kannst du
das, so bist du ein großer Heiland.

g) des Turnlehrers Salomon vom 9ten
Januar 1819:

wie steht es in Berlin, sind deine
Erwartungen getäuscht worden?
Darüber bin ich neugierig dich zu
hören? Was macht Jahn, Eiselen,
Schuster? Was meinst du zu allem?

h) des Professor Arnold unterm 16ten
August 1815 aus Gotha:

Was du in deinem letzten Briefe an-
gedeutet hast, bewegt lange meine
ganze Seele, ihm ist mein ganzes
[40r]Sinnen geweiht. Doch nur der Wunsch,
nicht die Mittel liegen mir klar vor der
Seele. Aufmerksam habe ich hin und
wieder wohl manche Zeichen bemerkt,
manche Laute vernommen, doch das ist Al-
les nicht genug. Mir scheint, daß man-
che Dinge bei Tage, andere bei Nacht sich
besser thun lassen. Sind die Leute nach
schwerer Arbeit zu Bette gegangen,
so schlafen sie sehr fest, und stehen un-
gern sobald wieder auf. Wer dann
aber sich wach zu erhalten weiß, mag
alles thun
, wenn er nur die Schlafen-
den nicht aus den Betten werfen will;
sie selbst, nicht andere, bekümmern sie.
Doch über derlei Dinge klarer und aus-
führlich zu sprechen, ist aus vielen Grün-
den in Briefen nicht gut thunlich
; dies
fordert die lebendigen und verklingen-
den
Worte und den wechselseitigen Aus-
tausch. pp

i) in seinem angefangenen Briefe an
die Frau vWerther, und

k) in deren Schreiben vom 26ten März
(d. J.)dieses Jahres, insofern darauf ein, die Sandsche
Mordthat lobendes Urtheil des vHen-
[40v]ning hervorzugehen scheint, so wie noch
andere Briefe ihn mehr und minder gra-
virten, zu deren vollständigen Über-
sicht wir den, aus denselben angefertig-
ten Extrakt gehorsamst beifügen. Der
vHenning hat aber allen hieraus wider
ihn entstandenen Verdacht der Theilnahme
an politischen Umtrieben unserer un-
vorgreiflichen Meinung nach, in den Pro-
tokollen vom 19ten Julius, 11, 12, 18 und 19ten
August widerlegt, und es dürfte gegen
ihn nur stehen bleiben, daß er besonders
in früheren Jahren mit Erörterungen
aus dem Gebiethe der Politik sich vorzugs-
weise beschäftigt, und darüber, jedoch nur
mit seinen nächsten Freunden correspon-
dirt hat, was, soweit es über diejenige
Gränze hinausreichen möchte, die das
Wohl des Staates vorzeichnet doch durch-
aus nicht handelnd ins Leben getreten ist,
und mit der erregten Zeit, der thätigen
Theilnahme des vHenning an dem öffent-
lichen Leben |: er hat beide Feldzüge ge
gen Frankreich mitgemacht :| und seinem
wissenschaftlichen Streben, besonders auch
in der Staatswissenschaft, in allen ihren
Theilen sich auszubilden, dahin genügend
[41r]erklärt zu sein scheint, daß aller Verdacht
einer gefährlichen Tendenz desselben da-
mit aufgehoben wird.

Er behält ferner gegen sich, daß er
die Petition an den Bundestag um Ein-
führung einer landständischen Verfassung
mit unterzeichnet hat. Hierüber hat er
sich offen und vollständig ausgelassen, diesen
Schritt selbst als einen falschen nicht in Ab-
rede gestellt, und damit dürfte auch die-
ser Punkt vollständig instruirt sein.

Wir sind nach dem Vorstehenden der
ehrerbietigsten unmasgeblichen Meinung,
daß die sofortige Freilassung des pp.
vHenning
den Zweck der uns über-
tragenen Untersuchung in keiner Art
behindere, und richten hierauf hiermit
unser ganz gehorsamstes Gesuch mit
dem Anheimstellen, ihm zugleich seine
sämmtlichen Papiere mit Ausnahme
der dem Professor Jahn zugehö-
rigen zurückgeben zu lassen, indem
sie für die übrige Untersuchung
nicht weiter nöthig sind.

Schließlich bemerken wir ehrer-
bietigst, daß wir auf das anbei
[41v]zurückerfolgende Freilassungs-Ge-
such des Referendarius vHen-
ning
, welches (Se)Seine Durchlaucht
der Herr PolizeyMinister
Fürst von Wittgenstein uns
den 14ten August zum gutacht-
lichen Bericht mittheilten, wegen
der nahe bevorstehenden Schluß-
Vernehmung des vHenning
zu berichten unterlassen
haben.

Wir fügen die gehorsam-
ste Bitte um möglichst bal-
dige Rücksendung unserer
beifolgenden Akten und
geneigtest zu beschleunigen-
de Entscheidung über die von
Hennings
ische Haft hinzu,
indem derselbe auf den Fall
der Freilassung schon am nächsten
Montag nach seiner Heimath zum
Besuch seiner besorgten Mutter ab-
zureisen gedenkt.
1


(Königl.)Königliche Ministerial-Untersuchungs-Com-
mission

Grano
Kayser
An
den (Königl.)Königlichen Geheimen Staats- und Minister
des Innern und der Polizey, Ritter mehrerer
hohen Orden pp Herrn von Schuckmann
Exellenz
Notes
1
Am Rand mit Rötel doppelt angestrichen.
und der Ungewißheit]
lange]
CC-BY-NC-SA-4.0

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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 20. August 1819. Ministerial-Untersuchungskommission an Schuckmann (Ausfertigung). Z_1819-08-20_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-0FF7-C