Ew. Wohlgeboren
will lieber gleich und im Allgemeinen für die bedeutende Sendung meinen verbindlichsten Dank abstatten, als daß ich Gefahr laufe, durch ein näheres Betrachten derselben eine schuldige Erwiederung zu verspäten.
Die Vorbereitungen zur Ausgabe meiner sämmtlichen Werke, die ich auch Ihnen empfohlen wünsche, beschäftigen mich schon einige Jahre und entfernen mich von unmittelbarer Betrachtung der äußeren Natur, in welche gegenwärtig nur verstohlene Blicke thun darf, damit der große Reiz, womit sie mich so oft an sich zog und alles Ästhetisch-Productive verschlang, mich nicht wieder ergreife und von einem Geschäft ableite, welchem alles Zaudern und Stocken höchst gefährlich werden könnte. Nehmen Sie daher meine beste Anerkennung, daß Sie Gelegenheit gaben, mich von Ihren, mir bisher auch nicht fremd gebliebenen Bemühungen näher zu überzeugen und einzusehen, wie Sie nach Art und Weise, die ich auch für die rechten halte, im Reiche der Natur vorzudringen bemüht sind.
Freylich ist die Region, in der wir uns umthun, so weit und breit, daß von einem gemeinsamen Wege eigentlich die Rede nicht seyn kann; und gerade die, welche vom Centrum nach der Peripherie gehen, können,[305]obgleich nach einem Ziele strebend, unmöglich parallelen Schritt halten, und sie müssen daher, insofern ihnen die Tätigkeiten anderer bekannt werden, immer nur drauf achten, ob ein jeder seinem Radius, den er eingeschlagen, getreu bleibt.
In diesem Sinne habe ich die Bemühungen der Mitlebenden, Älterer und Jüngerer, seit geraumer Zeit zu betrachten gesucht.
Die Divergenzen der Forscher sind unvermeidlich; auch überzeugt man sich bey längerem Leben von der Unmöglichkeit irgend einer Art des Ausgleichens. Denn indem alles Urtheil aus den Prämissen entspringt, und, genau besehen, jedermann von besonderen Prämissen ausgeht, so wird im Abschluß jederzeit eine gewisse Differenz bleiben, die dem einzelnen Wissenden angehört und erst recht von der Unendlichkeit des Gegenstandes zeugt, mit dem wir uns beschäftigen, es sey nun, daß wir uns selbst, oder die Welt, oder was über uns beiden ist, als Ziel unsrer Betrachtungen in's Auge fassen.
Nehmen Sie dieses Wenige freundlich auf. In meinen Jahren muß man sich bescheiden, am Wege genugsam auszuruhen und andere vorübereilen zu lassen, an die man in früherer Zeit sich gar zu gern angeschlossen hätte.
Da ich jedoch die Absicht hege, nach vollendeter Ausgabe ästhetisch-kritischer Werke, auch dasjenige vorzuführen, was sich auf meine Naturstudien bezieht;[306]wozu ich denn vorläufig Gedrucktes und Ungedrucktes zusammenzustellen und ihm wenigstens durch Andeuten einige Folge zu geben bemüht bin, so steht mir alsdann die Freude bevor, Ihnen wieder zu begegnen, welche ich durch einen treuen Händedruck, wie gegenwärtiger, den ich abschiedlich reiche, zu feyern wünschen und hoffen darf.
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- TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 23. Februar 1826. Goethe an Johannes Müller. Z_1826-02-23_c.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-1DD0-7