Ew. Wohlgeb.
will lieber gleich und im Allgemei-
nen für die bedeutende Sendung meinen verbindlich-
sten Dank abstatten, als daß ich Gefahr laufe, durch
ein näheres Betrachten derselben eine schuldige
Erwiederung zu verspäten.
Die Vorbereitungen zur Ausgabe meiner
sämtlichen Werke, die ich auch Ihnen empfohlen
wünsche, beschäftigen mich schon einige Jahre
und entfernen mich von unmittelbarer Betracht-
ung der äußeren Natur, in welche gegenwär-
tig nur verstohlne Blicke thun darf, damit
der große Reitz, womit sie mich so oft an
sich zog und alles Ästhetisch-produktive ver-
schlang, mich nicht wieder ergreife und von
einem Geschäft ableite, welchem alles Zaudern
und Stocken höchst gefährlich werden könnte.
[15v] Nehmen Sie daher meine beste Anerkennung,
daß Sie Gelegenheit gaben, mich von Ihren, mir
bisher auch nicht fremd gebliebenen Bemühungen
näher zu überzeugen und einzusehen, wie Sie
nach Art und Weise, die ich auch für die rechten
halte, im Reiche der Natur vorzudringen bemüht
sind.
Freylich ist die Region, in der wir uns
umthun, so weit und breit, daß von einem
gemeinsamen Wege eigentlich die Rede nicht
seyn kann; und gerade die, welche vom Centrum
nach der Peripherie gehen, können, obgleich
nach einem Ziele strebend, unmöglich parallelen
Schritt halten, und sie müssen daher, insofern
Ihnen die Tätigkeiten Anderer bekannt werden,
immer nur drauf achten, ob ein jeder seinem
Radius, den er eingeschlagen getreu bleibt.
In diesem Sinne habe ich die Bemühungen
der Mitlebenden, Aelterer und Jüngerer
[16r]seit geraumer Zeit zu betrachten gesucht. Die
Divergenzen der Forscher sind unvermeidlich; auch
überzeugt man sich bey längerem Leben von der
Unmöglichkeit irgend einer Art des Ausgleichens.
Denn indem alles Urtheil aus den Prämissen
entspringt, und, genau besehen, Jedermann von
besonderen Prämissen ausgeht, so wird im Abschluß
jederzeit eine gewisse Differenz bleiben, die
dem einzelnen Wissenden angehört, und erst recht
von der Unendlichkeit des Gegenstandes zeugt
mit dem wir uns beschäftigen, es sey nun, daß wir
uns selbst, oder die Welt, oder was über
uns beyden ist, als Ziel unserer Betrachtun-
gen ins Auge fassen.
Nehmen Sie dieses Wenige freundlich auf.
In meinen Jahren muß man sich bescheiden,
am Wege genügsam auszuruhen und Andere
[16v]vorüber eilen zu lassen, an die man in früherer
Zeit sich gar zu gern angeschlossen hätte.
Da ich jedoch die Absicht hege, nach vollendeter
[Ausgabe] ästhetisch-kritischer Werke, auch dasjenige vor-
zuführen, was sich auf meine Naturstudien be-
zieht; wozu ich denn vorläufig Gedrucktes und
Ungedrucktes zusammen zu stellen und ihm we-
nigstens durch Andeuten einige Folge zu geben
bemüht bin, so steht mir alsdann die Freude be-
vor, Ihnen wieder zu begegnen, welche ich
durch einen treuen Händedruck, wie gegenwär-
tiger, den ich abschiedlich reiche, zu feyern
wünschen und hoffen darf.
1826.
- Rechtsinhaber*in
- Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 29. März 1826. Goethe an Johannes Müller. Z_1826-03-29_c.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-1DD9-E