Herr Geheime Rath Schulz legte
uns in einer Abendunterhaltung das
Phänomen vor, welches Herr Pfaff
(n)numero. 84. f. S. 60. f. seiner Schrift:
Über Newtons Farbentheorie u. s. f.
1813., beschreibt und dies Phänomen
bezieht sich auf die Newtonische, von
Herrn Pfaff gleichfalls behauptete
Versicherung, daß wenn auf einem
schwarzen Grunde ein blaues und
ein rothes Viereck in horizonta-
lem Nebeneinander gesetzt und
durch [ein] Prisma betrachtet werden,
das Blaue mehr verrückt werde
als das Rothe. Diese sogenannte
Erfahrung und die damit zusam-
menhängende allgemeine Theorie
hat Herr v. Goethe zur Genüge
beleuchtet, und ihren Ungrund auf-
gedeckt. Das Phänomen, von dem
hier die Rede sein soll, betrifft
nur eine besondere Art und Weise,
welche Herr Pfaff angiebt und
wodurch jene behauptete Erschei-
nung recht genau soll1 beobachtet soll2
werden können.
Wenn nämlich das rothe und blaue
Viereck auf die bereits angegebene
Weise |: s. Fig: 1. :| gestellt und
durch ein Prisma - wir wollen
hier ein für allemal mit abwärts
gekehrtem Winkel annehmen, gese-
hen werde, solle man,
um die wahren Grenzen der Bil-
der zu erkennen, und sich von
der wirklichen verschiedenen Ver-
rückung zu überzeugen, - eine
[3v] Nähnadel nehmen von stahldunkler
Farbe, oder die man zu diesem
Behuf auch schwärzlich anschmauchen
lassen könne, und damit an den
Rändern der Vierecke hinfahren.
In dem Augenblicke nun, daß
man mit der Nadel über die Gren-
ze weggehe, den Rand des ro-
then Vierecks verlasse und zum
Rande des blauen übergehe, falle
die Nadel gleichsam in eine Ver-
tiefung herab, wie wenn man
sie durch einen zickzackförmigen
Rand, etwa wie diesen Strich roth|bl.
führte.
In der Anmerkung führt Herr Pfaff an,
daß die Vertiefung an der Stelle,
wo roth |: r :| und blau |: bl :| an
einander grenzen, so merklich sei,
daß man, selbst bei Anwendung
eines schmalen weißen Papier-
streifens statt der Nadel, beim
Übergang vom Rande des rothen
zum Rande des blauen Vierecks
scheinbar mit dem Streifen sich
abwärts bewege?
Indem ich dieses Phänomen zunächst
nur in der Pfaffischen Beschrei-
bung und die Umstände desselben
näher beachtete, so konnte ich gleich
nicht recht absehen, warum die
Merklichkeit der Erscheinung in ei-
nem höhern Grade daraus hervor-
gehen solle, daß sie sich gleichfalls
zeige, wenn ein schmales weißes
Papier, statt einer stahldunkeln
Nadel zum Versuch angewendet werde.
[4r]Der Unterschied sollte etwa darin
liegen, daß die Nadel als dünn
und spitz eine größere Schärfe
des Versuchs darbiete, und das
Phänomen sehr auffallend sein
müsse, um sich auch noch bei einer
stumpfern Spitze und größern Brei-
te, dergleichen ein schmaler Papier-
streifen in Vergleich mit einer
Nadel haben wird, zu zeigen.
Allein es will nicht deutlich werden,
was dieser Unterschied hier besa-
gen soll. Vielmehr wenn von Ge-
nauigkeit die Rede sein soll, so
ist solche allein oder hauptsächlich
für den Umstand zu beobachten,
auf den es hier ankommt, und
dieser ist die Farbe. Daß Roth
und Blau auf einem schwarzen
Grunde durchs Prisma herüber-
gezogen trübe, unscheinbare Ränder
giebt, darauf hat Goethe so be-
stimmt aufmerksam gemacht, die
Sache ist so leicht zu bemerken,
daß Herr Pfaff bei seinem
Experiment sich doch schon hierüber
nicht so rücksichtslos hätte verhal-
ten sollen. Wenn Herr Pfaff vol-
lends auf Roth, Blau und Schwarz
noch mit einem weitern Gegenstande
operirt und hin und her fährt,
so ist dies gleichfalls ein Gefärb-
tes und dessen Farbe auf jene
andere Farben gebracht, ist ganz
die Hauptsache; die stahldunkle
Nähnadel, in welcher die Ge-
nauigkeit liegen soll, ist ein grau-
es, unbestimmtes, daßdas3 gegen
[4v]ein Helleres als ein Dunkles, gegen
ein Dunkleres als ein Helles, und
vollends um seines Glanzes willen,
auch gegen ein Helleres, als grau
ist, doch als ein ganz Helles wir-
ken kann. So etwas zweideuti-
ges hätte4 Herr Pfaff vielmehr aus-
drücklich entfernen und entschie-
denes Helles und Dunkel, Schwarz
und Weiß nehmen müssen. Diese
Nadel verhindert es gerade, daß
man nicht sogleich sieht, was
denn an dem ganzen Phänomene
ist. Herr Pfaff tritt insofern
in die Fußtapfen Newtons, von
dessen Experimenten Goethe hin-
länglich gezeigt hat, daß in Vie-
lem der Hauptwerth in dem Ver-
stecken dessen liegt, worauf es
ankommt. Herr Pfaff gibt wohl
noch an, man könne die Na-
del auch schwarz anlaufen lassen.
Hätte er den Versuch wirklich mit
einer schwarzen nicht mehr glänzen-
den Nadel durchgeführt, so würde
er wohl ein5etwas von dem ver-
schiedenes gesehen haben, was
er beim weißen Papierstreif
sah, den er promiscue auch an-
gewendet hat. Ein reines Schwar-
zes, das gegen den schwarzen Grund,
auf dem er die Nadel fortführte,
gar keine besondere Schattirung
hat, würde ihm eigentlich gar
nichts gezeigt haben. Man könnte
Herrn Pfaff auch noch darüber
chikaniren, daß er nicht an-
giebt, ob er die Nadel auf dem
[5r]schwarzen Grunde, oder auf dem
Roth und Blau fortbewegt habe,
was man ausdrücklich anzugeben
nicht unterlassen wird, wenn man
an die Hauptsache denkt, daß
man mit Farbigtem auf Farbigtem
experimentirt. Man kann sogleich
alle Lust verlieren, auf das
Experiment irgend eine Aufmerk-
samkeit zu richten, wenn man
sieht, daß diese Hauptsache au-
ßer Acht gelassen ist.
Bleibt man nun zunächst ganz nur
bei der Pfaffischen Art und Wei-
se des Experiments stehen, so
zeigt sich sogleich die Dürftig-
keit desselben für den Zweck,
zu dem es dienen soll. Mit
der Nadel von dem Rande a b
des Rothen zum Blauen über-
gehend, Fig: 2. erblickt man
sie nun6, statt an der Grenze
b d, nun7 tiefer unten an c d., bei
n' z. B. Dies heißt doch nichts
anders, als daß die Spitze n''
materiell noch in derselben ho-
rizontalen Richtung a b. sich be-
findet, und ein Stück der Na-
del n'' p. nur unsichtbar ge-
worden ist; was man an c d.
sieht |: n' :| ist nicht die Spitze,
sondern der Punkt der Nadel
p, wo sie wieder sichtbar
wird. Denn dies darf man
Herrn Pfaff doch nicht zumuthen,
daß er meine, die Spitze n
der Nadel und damit die gan-
ze Nadel sei herabgerückt
[5v]worden; indemIndem8 er mit Newton
dem Blau eine größere [Brechbarkeit]
zuschreibt, so kann er dieses9 Ver-
mögen doch nicht so weit ausdehnen,
daß es sich auch einem benachbar-
ten Körper der Nadel, die ans
Blau stößt, mitgetheilt und diese
durch die Nachbarschaft gleichfalls
eine größere Brechbarkeit erlangt
habe. Wenn nun das Stück n'' p.
der grauen Nadel, das vom
herabgerückten Blau bezogen oder bedekt10 wird,
unsichtbar wird, dasselbe Stück
n p. aber, so lange es sich unter
dem Roth befindet, sichtbar bleibt,
was soll nun damit herauskommen?
Daß das Roth als die weniger
brechbare Farbe nicht, oder nicht so
sehr, in das Schwarze herüber-
gezogen werde, als das Blaue?
Um dies wäre es freilich zu thun!
Ist aber irgend etwas geschehen,
um zu zeigen, daß, -11 wenn das
Roth so weit herabgezogen wor-
den wäre, als das Blau, und
es sei, daß es roth geblieben
oder auf dem schwarzen Grunde
in irgend eine andere trübe schmuz-
zige Farbe verwandelt worden wäre,
-12 daß das Stück der grauen Nadel,
das in diesem Saum +++fiele13, gleichfalls
hätte müssen unsichtbar geworden
sein! Es kann Herrn Pfaff
nicht unbekannt sein, daß ein
Dunkles auf einen dunklen Grund
gehalten, unsichtbar oder
[6r]wenigstens ununterscheidbarer wird,
als wenn dasselbe auf eine hellere
Unterlage gehalten wird.
Für eine bestimmtere Ansicht des
Phänomens aber verschaffte mir
Herr Dr. v. Henning eine Karte
in vier Vierecke getheilt, zwei
weiße und zwei schwarze, sie in
Kreutz gegeneinander gestellt.
Solcher entschiedene Gegensatz,
statt ein Roth und Blau mit
einem Schwarz zu vergleichen, zeig-
te, zwei zugespitzte Papierstreif-
chen, ein schwarzes und ein
weißes dazu genommen,
sogleich, was es mit dem gan-
zen Phänomen für eine unbe-
deutende Bewandniß hat.
Nimmt man nämlich nach neben-
stehender Figur 3. etwa zu-
erst das weiße Streifchen, in-
dem man das Prisma mit
{unterwärtsgekehrten} Winkel
vor Augen hat - und hält
man dies Streifchen |: man lasse
es durch eine andere Person an
die Linie a c. halten und sie14
hin und her bewegen :| an a b.
auf das schwarze Viereck C.,
über welchem ein weißes A.
ist, so reicht das weiße Streif-
chen n m, bis an dies weiße
A. Es ist also hier ein Con-
tinuum von Weiß; man sieht
also die Spitze des Streifchens
natürlich bis an A hinaus un-
gefärbt, aber sonst von
[6v]a nach b wird der |: blaue :| farbi-
ge Rand unterhalb a b. blau ge-
sehen, nur da unterbrochen, wo
das weiße Streifchen, hinreichend
an A ist, jene farblose Unter-
brechung desselben macht. Be-
wegt man nun15 das Streifchen
weiter über b hinaus, so erhält
es nunmehr einen weißen Grund
zur Unterlage und ein Schwarzes,
das Viereck B über sich; hier geht
der |: gelbrothe :| Farbensaum un-
ter b c. natürlich gleichmäßig, un-
unterbrochen durch das Streifchen
n m von b bis c. Das Streifchen
kommt daher, in so fern es von
seinem Grunde unterscheidbar ist,
erst unterhalb des Saumes, bei
p wieder zum Vorschein; so
sieht man es von b nach c. an tie-
fer, als von a nach b, wo es
selbst farblos den farbigten
Saum unterbricht.
Auf den ersten Anblick hat
das scheinbare Herabfahren der
weißen Erscheinung des Streif-
chens, bei b, allerdings et-
was frappirendes.
Nun nehme man, Fig: 4. alles Übri-
ge ungeändert, das schwarze Streif-
chen zuerst auf C; hier geht
der blaue Saum unterhalb a b,
von a nach b, natürlich über
das schwarze Streifchen weg,
und der Anfang des Streifchens
erscheint tiefer als dieser Saum,
bei p, in so fern es nämlich
doch von seinem schwarzen Grunde
[7r]
unterscheidbar ist. Hingegen das Streif-
chen bei b angekommen bis c., weil
es schwarz mit dem obern schwar-
zen B. zusammenstößt, bleibt
es farblos schwarz; der roth-
gelbe Saum, der unter b c in
D. hereingeht, ist durch das schwar-
ze Streifchen unterbrochen, und
dieses bis n hinauf sichtbar.
Hier kann dann also Herr Pfaff,
wenn es ihm beliebt, das Gegen-
theil von dem, worauf es ihm
ankam, sehen, nämlich den ro-
then Saum, in so fern seine Stelle
durch die Sichtbarkeit der Na-
del bezeichnet werden sollte,
als tiefer.
In beiden Fällen kann hier Herr
Pfaff den gelben Saum selbst
so tief herabsehen als den blauen.
Wenn die Sichtbarkeit des Streif-
chens das Entscheidende sein sollte,
so könnte er eben so im zweiten
Falle, wo mit dem weißen
Streifchen operirt wird, das
Gegentheil von dem sehen, wor-
auf es ihm ankommt, nämlich
dies Streifchen auf der Seite
des Blauen viel höher hinauf
sichtbar als auf der Seite
des Gelben. Allein wenn der
Versuch auf die angegebene Wei-
se mit Schwarz und Weiß
neben einander angestellt wird,
so erscheinen die Säume selbst
überhaupt sichtbar genug, und
in den Fällen, wo das Streif-
chen mit einem ihm homogenen
[7v]Weiß oder Schwarz oben zusam-
mentrifft und bis n sichtbar ist,
zeigt sich neben demselben zu
dessen beiden Seiten, der Saum
so deutlich, daß man sieht, daß
durch das Streifchen gar nichts
bezeichnet wird.
Herr Pfaff, der zunächst mit
einem rothen und blauen Vier-
eck angrenzend an einen schwar-
zen Saum operirt hatte, be-
trachtet sie nachher |: § 85 :| auch
kürzlich auf einem weißen Grund.
Hier sieht er sich genöthigt, al-
lerdings zuzugeben, daß der
rothe Grund gleichsam verstärkt
werde, durch einen rothen Rand
und gelben ins Weiße hineinstrah-
lenden Saum. Hier soll nun
die PurpurFarbe des obern Randes
des blauen Vierecksstellem16, an
welche der gelbe ins weiße sich
verlierende Saum |: also der
vom rothen Viereck herkommende :|,
grenze, den Beweis geben, daß
hier, - wieder gleichsam, das
Blaue über den rothen Rand
des weißen Grundes geführt wor-
den sei. - Zunächst ist zu sehen,
wo denn die erwähnte Purpur-
farbe sich befindet. Es heißt:
die Purpurfarbe des obern Ran-
des |: das Prisma ist nämlich
aufwärts gekehrt :| des blauen
Vierecks, an welche |: d. i. Purpur-
farbe :| der gelbe sich ins Weiße
[8r]verlierende Saum grenzt; - sie be-
findet sich somit nirgend anders
|: und kann sich auch nirgend an-
ders befinden :| als an der klei-
nen Stelle, wo bei der horizon-
talen Lage der beiden Vierecke
neben einander, wie vorhin, - die
beiden Säume, der blaue und rothe
und gelbe an einander grenzen.
Die Sache ist hier auf ein sehr
kleines Fleckchen gestellt. Es
ist 1.) allerdings an dem, daß
die Säume - aber auch die gan-
zen Bilder, durchs Prisma ge-
sehen, nach der Seite, d. i. in
der bisher so genannten horizon-
talen Richtung breiter werden;
- die näheren Bedingungen hat in
neuern Zeiten Amici angegeben,
und auf diese Beobachtung ein
sehr sinnreiches Vergrößerungs-
glas - ohne Linse gebaut. Es
ist dies wohl zu merken, daß
hier von einer Verbreiterung
die Rede ist, die in entgegen-
gesetzter Richtung gegen die-
jenige geschieht, von der bisher
die Rede war, und die hier
allein in Betracht zu kommen
hat. 2.) Man könnte für den
Fall, den Herr Pfaff hier
betrachtet, auf einen Augen-
blick zugeben, daß die Pur-
purFarbe nur entstehe, wenn
ein Blau über Roth geführt
werde, obgleich Herr Pfaff
sogleich auch Purpur im
[8v]entgegengesetzten Fall haben
kann, so wäre 3.) die Behaup-
tung, diese17|: aber wenigstens
keine BehauptungBeobachtung18 ist es :| diese,19 daß
Blau nach der Seite hingeführt
werde über das Roth, während
das Roth ruhe; alleinAllein20 hievon
ist ja hier nicht die Rede, son-
dern allein von derjenigen
Richtung des blauen und rothen
Randes, welche vertikal nach
der Richtung des brechenden Win-
kels geschieht.
Solche Weise des Experimenti-
rens und Folgerns, wie sie Herr
Pfaff übt, und deren Stärke
darin besteht, diejenigen Um-
stände, auf die es allein
ankommt, nicht zu beachten,
hat auch das Unangenehme,
daß die Beleuchtung solcher
Versuche und Schlüsse auf keine
Art von Gehalt führt. Fig. 1 (Bl 3 Vs.) Fig. 2 (Bl. 5 Vs,) Fig. 3 (Bl 6 Vs.) Fig. 4 (Bl. 7 Vs.)
- Rechtsinhaber*in
- Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. M 98 (1822): Hegel: Herr Geheime Rath Schulz legte uns. M_098_1822.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-0C16-D