Theobrôma
(Götterspeise.)

Alles verzeih' ich dem Mann,
Nur nicht die vergeblichen Kämpfe – – –
Schweigend verhülle dein Haupt, Cäsar des Lebens,
Wenn Brutus, das Schicksal, tödtlich gegen Dich stösst!
Vergebliches Ringen geziemet dem Weibe, der Sklavin des Lebens – –
Noch, Im Abgrunde schwebend, krümmt sie die Finger zum Griff!!

Peter Altenberg


Marthe-Marie sitzt an dem marmornen Kaffee haus-Tischchen und jammert um Liebe ihres Herrn, um Liebe – – –.

»Helfen Sie mir mein Freund – – –« sagt sie zu Peter A.

Wie ein verletztes Reh »klagt sie«, von welchem die Jäger immer sagen: »man kann nicht hinsehen« und »gieb den Genickfang«.

»Helfen Sie mir doch – – –« sagt sie.

»Nein – –!« sagt Peter A. Er stellt die Diagnose, schreibt gleichsam auf das Täfelchen über dem Bette: »Krebs der Seele. Moribonda 1

So sitzen sie an dem weissen Kaffeehaustischchen.[130] Wenn er liest, wird sie ganz still, schrumpft ein, klappt zusammen.

Dann sagt sie: »Helfen Sie mir, mein Freund – – –.«

Ein wenig später kommt der »Herr über ihr Leben« an das Kaffeehaustischchen, sagt: »Wie Du aussiehst, Marthe! Du musst Dich restauriren. Trinke doch eine Chokolade. Nein, so auszusehen – – –!?« Restauriren sagt er und ist mit diesem Ausdrucke sehr zufrieden.

Ein glückliches Wort und das Gewissen ist entlastet!

Dann geht er weg, irgendwohin, weg, ganz weg, hat ein blüthenweisses Piqué-Gilet an mit matten goldenen Knöpfchen, eine Nelke im Knopfloche.

Marthe-Marie denkt: »Siehe, er hat gemerkt, dass ich von Kräften komme! Wie ein edler Arzt hat er sich benommen. Er hat ein roborirendes Mittel verschrieben für Verfall. Hat er vielleicht nicht gesagt roborirend?! Wie warme Bäder sind manche Worte.«

Sie trinkt langsam die heisse Chokolade, welche der »Herr über ihr Leben« verordnet hat. Sich selbst verordnet er hingegen die spanische Tänzerin.

Marthe-Marie sagt zu Peter A.: Dieses Getränke ist wie eine flüssige Poesie. Es duftet wie Parke von Va nille-Bäumen und Flieder-Sträuchern. Spüren Sie es?!«

»Sie sind blöd wie die Nacht« erwidert A.: »glauben Sie, dass das Poesie ist?! Fieber hat man. [131] Ein verhängnisvoller Irrthum. Jener verschreibt Chokolade.«

Es giebt Professoren, wie Billroth, welche dem»Betreffenden« sanft die Hand drücken. Dann giebt es zum Beispiel Skoda, Dumreicher, welche viele Klagen hinter sich zurücklassen. Aber Peter A. selbst fand, der »Betreffende« möge in Weisheit gehen, wenn seine Stunde gekommen sei! Man möge zu der moribonden Seele sprechen: »Seele, sei weise!« Vor dem Nothwendigen milde zusammensinken. Das fand Peter A.

»Sie sind furchtbar« sagt Marthe, streicht ihre rothbraunen Haare ganz zurück mit gespreizten weissen Fingern, bekommt den hysterischen Blick, le précipice de l'oeuil.

»Wie ein Irrenarzt sind Sie, P.A., eine verderbliche Schablone, etwas Unerbittliches. Aber hängt es von Ihnen ab?! Nun also! Wie können Sie sich unterstehen, mir die Sterne meiner Nächtlichkeiten zu verlöschen, auszutreten?! Was geben sie mir dafür?! Eine andere Leuchte?!«

Er schwieg. Er dachte: »Cerebral-Asthenie in Folge Nacht-Wachen's – –.«

Dann sagte sie: »Geben Sie mir den Schlaf der heutigen Nacht, der Nacht vom 15. auf den 16. Januar. Irgendwer muss mir ihn geben. In wenigen Stunden kommt diese elende feige Nacht wie ein Reptil und zerdrückt mich. Sehen Sie, es wird schon dunkel draussen. Man zündet die Laternen an. Wie schlecht sie brennen. Wie gegen ihren Willen.«

[132] »Wollen Sie den Schlaf der Nacht vom 15. zu dem 16. Januar?!« sagt Peter A. Marthe-Marie: »Den will ich. Ich brauche ihn. Oh Gott – – –.«

Er legt seine Hand auf ihre Hand.

Sie sagt: »Ich brauche den Schlaf in der Nacht. Die Nacht ist zum Schlafen. Kann man sich entziehen?! Sagen Sie nicht selbst immer, mein Freund: ›Die Regeneration der in der Tages- Schlacht verlorenen Streitkräfte‹?! Jeder braucht Schlaf. Man muss sich ihn verschaffen. Ist Chokolade nicht ein Schlafmittel?! Mir kommt es vor, wie wenn heute Nacht die Welt einschlafen müsste vor Müdigkeit, vor Nacht-Wachen, wie eine Mama am Bette eines todten Kindes. Die Häuser würden in sich selbst zusammensinken vor Müdigkeit, die Gas- Kandelaber einknicken, knieweich werden, die gewundenen Spiral- Stiegen in den Stockwerken zusammenrutschen, sich flach einrollen wie Mauer-Asseln, die müdsteifen Dächer zusammenklappen und sich über den sich ausstreckenden Dippelbäumen zur Ruhe legen, die Kellner und die Nacht – Mädchen stehend einschlafen, so eine Müdigkeit wäre überall – – –.«

»Warum sprechen Sie so viel?!« sagt Peter A.; »wollen Sie Jemanden überschreien?!«

Pause – – –.

»Oh mein Freund. Wieso habe ich sein Herz verloren?! Können Sie es mir nicht sagen, mein Professor der Seele?!«

»Ich denke an ein Schlafmittel für die Nächte von 98« sagt Peter A.

[133] Sie erbebte. »Wir haben 97« fühlt sie; »weshalb rennt er vor?!«

Sie sagte: »Diese Chokolade mit dem Fliedergeruche und dem Vanille-Parke hat mich erlöst. Ich hoffe, ich werde schlafen. Es hat mich roborirt. Restaurirt, würde mein Herr gesagt haben. Ich spüre es im Brustkasten.

»Trinke doch Chokolade« hat der Herr über mein Leben gesagt, »es restaurirt«. Er wünscht es nicht, dass ich von Kräften komme. Er will den Verfall aufhalten – –. Er hat mich doch noch ein bischen lieb. Oh ja! Oh ja, oh ja – – –. Justament, weil Sie es nicht glauben!«

P.A.: »Sie sind Alkoholikerin der Seele. Sie werden 98 nicht mehr schlafen können. Diese Mittel ›schwächliche Güte‹ verlieren die Wirkung. Man wird die Dosis nicht steigern können. Was wird er Ihnen anbieten?! Himbeer-Crême?!«

»Sie sind ein Thier. Ein Thier. Womit habe ich Sie denn gereizt?! Was haben Sie gegen mich?! Nein ein Thier sind Sie! Wie kann man Verbände wegreissen?! Sie – –!? Hören Sie?!«

Pause – – –.

Sie nahm ihren kleinen Taschenspiegel heraus und fragte wie die böse Königin: »Wer ist die Schönste im ganzen Land?!«

Und das Spiegelein sagte hart: »Madame Otérô, die spanische Tänzerin«.

Sie schloss den Spiegel und sagte: »Ich möchte so wunderbar schön sein – – –!«

[134] Sie bekam den hysterischen Blick, le précipice de l'oeuil.

P.A.: »Jetzt würde ich Ihnen eine Zwangsjacke anlegen lassen, etwas von aussen Dominirendes und Ihnen die Hände und die Füsse zusammendrehen lassen, dass die Adern erstickten; und Ihnen eine kalte Regenbrause in ihr weisses Gesicht und in ihre rothbraunen Haare spritzen lassen wie aus einer Wasser -Maxim- Kanone, dass Sie den Athem nicht finden könnten und um das verlorene Glück des Athmen's ringen müssten ...«

»Sie Thier, Sie Thier – – –!«

»Marthe-Marie, diese Chokolade roch nach Fusl, nicht nach Fliedergebüsch! Alkohol ist sie, Sulfonal, Morphium, Chloralhydrat, Datura Stramonium, Absinth, Mohn-Absud der Seele! Wie schlecht Sie aussehen! Ganz grün. Und hässlich. Sie können dieselbe nicht bei sich behalten – –!«

Sie wurde weiss-grün, stand auf, ging hinaus – – –.

Er dachte: » Madame Otérô! Spanische Tänzerin! Siegreiche! Die Rubine an deinem braunen Halse sind Kristall gewordenes Herzblut der Besiegten!«

Marthe-Marie kam langsam zurück, trank ein Glas Wasser aus.

»Es ist ein Schlafmittel!!« dachte er; »Reines, Kaltes, Klares, in einem leeren befreiten Organe

Sie war stumm geworden – – –.

Peter A. nahm eine Zeitung und las.

[135] Während des Lesens legte er sanft seine Hand auf ihre Hand.

Da legte sie ihren Kopf auf die marmorne Tischplatte, welche leise zu beben begann – – –.

Reconvalescit!

[136]

Fußnoten

1 Sterbende

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Was der Tag mir zuträgt. Theobrôma. Theobrôma. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-D901-F