Die dumme Lise
Die Nacht

Ein Herr machte zu dem Fräulein in weisser Seide, das gemächlich in einem weiten Fauteuil lag, diesem »Ruhebette des Salon's«, eine jeher Bemerkungen, welche eine chemische Verbindung sind von Scherz, Ernst, Grazie, Frivolität, Lebens-Weisheit und Selbst-Persiflage. Wie Mitterwurzer es sagen möchte zu Fräulein Kallina auf der Szene – – –

Aber die junge Dame in weisser Seide antwortete: »Bitte, hören Sie auf. Was glauben Sie?! So etwas ist nichts für mich. Darauf finde ich keine Antwort. Wollen Sie mich in Verlegenheit bringen?! Oh bitte – – –«

Sie sass da mit ihrem trotzigen Gesichter! – –

Der Herr, welcher sich soeben leichtbeschwingt in französische Gracie begeben hatte, wurde ganz bleischwer, wie grau, verlegen, wie auf den Kopf geprackt und betrachtete das Bild »Daphne«, Hubert Herkomer, welches an der Wand hing.

Weltentrücktes Antlitz mit den Lorbeer-Blättern! Ave!

Der Herr sagte: »Das scheint Daphne zu sein – – jawohl, sie ist es.«

[113]

»So?!« sagte das Fräulein.

Der Herr dachte: »Wo sind Deine 17 Jahre, Mädchen?! Schwerfällig, müde, schleichst Du, schleppst Dich gleichsam an Dir selbst herum, und alle Herren werden gleichsam ältlich, wie beschämt und unnütz in Deiner Nähe, wie zugepresst, können nicht mehr leicht ein- und ausathmen, spüren die Enge ihrer Frack-Gilets. Wie belastet von sich und von Dir ist man, Mädchen, directement unglücklich. Wie an einem Feste eine Dame in Trauer oder zerbrochenes Porzellan-Service! Elisabeth, erwache!

Kann man mit ihr verkehren?! C'est impossible. Was wünscht sie?! Man wird sich nicht den Kopf zerbrechen. In ihrer Stube soll sie schlafen oder Alles nett stellen. Hat man ihr etwas angethan?! Nun also!«

Giwril aber stand in der Thüre und sah die Schweigenden. Er fühlte: »Blinder Mann im Ball-Fracke! Dich selbst Erblickender und Deine Wünsche! Un-Freier, Thörichter! Ankläger!

Ich aber bin Dein tönender lauter Anwalt, mein schwerfälliger Liebling!

Denn das Spiel des Lebens hast Du noch nicht kennen gelernt, Novize, noch nicht kennen gelernt, Schauspieler zu sein seiner selbst, und sein trauriges Nerven – System, sein kühles Herz, seinen unfertigen dämmernden Geist für die erhöhten Schauspiel – Abende des Lebens in die Bewegungen künstlich zu treiben, welche von Gott als Gnadengabe nur dem Condor in den Pyrenäen, der Forelle im Gebirgswasser, [114] dem Dichter, in der Kalkwand-Stube bestimmt wurden! Ihr aber, schwerfällige Leichtlebige!? Du Mädchen in weisser Seide, Unverlogene, Kühle, Zarte, Stumme, Du Selbst seiende, ich grüsse die Wahrheit Deines Sein's, die Wahrhaftigkeit jeder Deiner müden und unbedeutenden Aeusserungen, die Aufrichtigkeit Deines in dieser getälschten Schnellpolka des Lebens in ruhigem langweiligem gehemmtem Rhythmus athmenden Organismus! Deine Anregungslosigkeit ist meine Anregung! Deine Gleichgiltigkeit mein Interesse! Dein träges Wesen meine Bewegung! Dein »Du selbst sein« mein »Ich selber sein!« Indem Du bist, die Du bist, fasse ich den Muth, zu sein, der ich bin!

Und wie Du bist, einzige Lügelose, sind doch Alle in den versteckten Schlupfwinkeln, in den Tavernen ihres Sein's: vom Momente des Erwachens am Morgen bis in den verlogenen, mit lächerlichen und unwichtigen Dingen vollgestopften Tag hinein, mit Kinder-Idyllen, Gatten-Liebe, Klavier-Spiel à quatre mains, Promenade, Kommissionen, Lächeln, Fragen und Erwiderungen – – – Alle, Alle leben, als ob sie in einem endelosen Stücke von 1 000 Akten immer, immer tragiren müssten: die »liebevolle« Tochter, die »zärtliche« Schwester, das »dankbare« Geschöpf, die »nervöse, in's Blaue hinein träumende« Jungfrau, die »montirte« Braut mit dem neuen funkelnden Ringe, die »besorgte« Gattin, welche ihren Mann »betreut und innerlich geleitet«, die »heilige« Schwangere, zu der Alle gedämpft [115] sagen: »Wie gehts?!«, die »preoccupirten« Eltern, welche Carrièren ihrer Kinder träumen und ihre Schäden vor der Mitwelt verbergen und Alle, Alle! Ununterbrochen spielen sie Comödie ihrer Lebens-Rolle, bis sie crepiren, hin werden, erschöpft umsinken, wie Einer, der 70 Jahre »Hamlet« spielte oder »Tasso«, ewig in lila Trikots und bedrängten Gesichtszügen, jeder Schritt eine psychologische Offenbarung, si donc!

Du aber, Lisl, bist frei vom Leben, Leblose!

Wie die heiligen Mädchen, welche in ihren Betten 30 Jahre lang liegen blieben und für Christus dahinträumten, entêtées d'âme, oder wie die wilden Mädchen, welche nackt in wundervollen Wäldern »andelaina – –« singen, fufuï kochen, Kinder küssen und abendlich am Heerde hocken – – – In Wahrheit leben diese! Wie einen Verrückten betrachtest Du mich, Lise, mit Deinen schönen gleichgiltigen Augen, weil ich Dich verehre und in Deiner Nähe weile. Und wenn ich aus dem Wasserglase trinke, in welchem Du Deine Finger vom Kastanien-Zucker gereinigt hast, erbleichst Du, wirst gleichsam krank, lehnst Dich zurück, sagst: »Oh, was thun Sie?! Das ist nicht schön von Ihnen – – –«

Ich aber befestige Deinen Cotillon-Orden unter der Weste an meinem Hemde in der Herz-Gegend und wieder wirst Du krank wie von etwas Schrecklichem, Peinlichem, dem man entfliehen möchte. Wie von bösen Wundern, die uns bedrängen in unserer Stille! Hereinbrechendes Leben! Bouleversement!

[116] Nein, genialer Comödiant des Lebens, hier gelten alle Deine Mätzchen nicht, die sonst dieses Publikum »Seele« hinreissen!! Und diese Anderen spielen unterdessen »Ball-Fest.« Wie »schwebende Nymphen« tanzen sie, biegen sich sanft, unterordnen sich dem »Führenden.« Und die Führenden, diese Geschlechts-Thiere, die Geld-Thiere, die Ehrgeiz-Thiere, drehen nach links, changiren, drehen wieder links, spüren den Athem ihrer Tänzerinnen. Einige Damen, viel zu wenig nackt, halten Cercle wie die englischen Prinzessinnen, machen Anspielungen, welche nur der »Betreffende« versteht, senken den Blick, welchen sie eigentlich erheben möchten, um in's Leere zu starren. Du aber, mein Liebling, stehst an dem Büffet, nimmst von den reichbeladenen silbernen Obstbäumen die verzuckerten Früchte ab und isst Dich krank, isst Dich gesund. Dann stehle ich für Dich aus dem Rauchzimmer ägyptische Cigarretten. 100 Schachteln möchte ich für Dich stehlen, dass Du Morgens und Abends Dein Gemach in diese feinen Rauchwolken verzaubern könntest, dem wohlerzogenen Elternpaar zum Trotze! Freiheit, Wahrhaftigkeit des Geniessens möchte ich Dir einimpfen, um Dich vor der ansteckenden Krankheit der Lebens-Comödie zu bewahren für immerdar! Dich aber schützt bis nun Deine Dummheit – – Deine Weisheit! Amen!«

Und er führte sie zum Souper.

Und sie soupirte mit ihm an einem langen reichgedeckten Tische. Suppe kam in kleinen weissen Töpfchen, Consommé Tapioca.

[117] Sie sagte: »Was ist das?! Durchsichtiger Gries – – Gries in Verzauberung!«

Sie wurde ganz roth und schwieg und speiste.

Einmal sagte sie: »Ich habe auf einem langen Corridore im Sommer 700 mal den Federball aufgefangen. Jawohl, 700 mal, glauben Sie es vielleicht nicht?!«

»Sie sind Champion in Federball,« sagte ein Herr lächelnd zu ihr.

»Wieso?!« erwiderte sie, »nein, überhaupt, das gehört nicht hierher. Warum erwähnen Sie das?! 700 mal habe ich geworfen und aufgefangen. Freilich war es ein geschlossener Corridor. Im Freien jedoch müsste man mit dem Winde kämpfen – – –«

Einmal sagte sie: »In St. Wolfgang war eine Erle. Es war im Oktober. Alle Farben in Roth hatte die Erle. Wie ein Regenbogen in Roth. Morgens nach dem Frühstück bin ich hinausgegangen zu der Erle. Die hellrothen Blätter waren die schönsten. Abends waren diese wie lila. Sehr gerne wäre ich Nachts hinausgegangen, um zu sehen, ob sie eine Farbe haben in der Nacht, nächtliches Roth vielleicht?!«

»Was sagen Sie zu dieser Gans?!« sagte ein Nachbar leise zu Giwril.

»Sie interessiren sich, äh, für Botanik?!« sagte ein Herr, »Botanik, jaaaaa, man geräth in Contakt mit der Natur – – –«

»Sprechen Sie kein dummes Zeug,« sagte sie: »wollen Sie mich blamiren?!«

[118] Beim Dessert sagte sie: »Eine orthopädische Anstalt – – ein grosses Vergnügen! Einmal war meine linke Schulter höher, einmal meine rechte –«

»Pssssst Liese – – –,« sagte eine junge Dame herüber, »was ist das?!«

»Lassen Sie sie sprechen,« erwiderte Giwril, »ich bin ja keine ›Partie‹«

»Nein, Lieschen, ist es ein Gesprächsthema?! Schäme Dich.«

»Warum?! Jetzt ist ja Alles in Ordnung an mir.«

Giwril berührte sanft ihre Hand: »Holdeste –«

Und die Damen mit den riesigen Strauss-Fächern an Schildkrot -Gestellen sagten nach dem Souper zu ihm: »Sie, was spricht man mit so Einer?! Vielleicht über Ibsen?!«

»Man spricht gar nichts, man hört ihr zu – –«

»Ja, spricht sie denn über Etwas, hat sie Ansichten?!«

»Jawohl,« erwiderte Giwril, »sie hat wundervolle Ansichten. Sie hat die Ansicht, dass die Erlen im Herbste röthlich werden und dass man Federball nicht im Freien spielen solle, weil man da mit dem Winde zu kämpfen habe.«

»Und einem Manne von starkem Geiste genügte das?!«

»Gnädige Frau, Antaios, der Riese, behielt seine Kräfte, indem er sich zur Erde warf und diese liebevoll umarmte. Diese einfache braune Erde gab ihm Alles wieder, was das schwierige Leben ihm [119] genommen hatte. Warum suchte er nicht Stärkung, indem er Sonnen küsste oder Sterne?!«

»Das verstehe ich nicht – –,« sagte die Dame gereizt.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Das Fräulein hatte ihren hellblauen Plüche -Mantel bereits an und die weisse seidene Capuze.

»Wie ein Kinderhäubchen steht Dir das,« sagte die Haustochter und küsste sie zärtlich. »Du, Dein Cavalier von heute Nacht – – hast Du ihm schon adieu gesagt?!«

Und »Antäus« stand da und beugte sich zur einfachen braunen Erde herab und küsste der jungen Dame die Hand.

Später sagte die Haustochter: »Ich danke Ihnen, dass Sie sich heute Nachts meiner armen Freundin angenommen haben. Es war so lieb von Ihnen, nein wirklich – – –«

»Oh bitte sehr – –,« sagte der Herr verlegen, denn die Feigheit und Lüge des Lebens hatte ihn wieder in Besitz genommen, nachdem sein kleiner Schutzengel ihn verlassen hatte – – –

Der Morgen

»Fräulein Liese, das Frühstück – – – Nein, wie es hier nach Cigarretten riecht – –«

»Lass' mich, Marie – –«

»Fräulein Liese sind eh' schon wach –«

[120] »Nein – –. Glaubst Du?!«

Eine Stunde später stand sie aus dem Bette auf, trank mürrisch Thee, hielt den Löffel und starrte ihn an; »Wie schwer Du bist, Löffel – –«

»Nun Lieschen, wie war's gestern?!« sagte die Mama.

»Hübsch. Was ist mit meinem Lackveigerl-Sträusschen geschehen?!«

»Deine sieben Sträusschen sind in der Küche in Wasser gelegt. Schau', wie Marie an Dich denkt!? Von wem hast Du das eine Sträusschen?!?«

»Der Klavier-Lehrer kommt. Rasch, Liese –«

»Warten Sie, Fräulein, ich werde Ihnen heute vorspielen, Sie scheinen indisponirt zu sein.«

Und er spielte vor, eine Etüde, noch eine Etüde, noch eine Etüde; dann schwang er sich auf und flog, schwebte in Regionen, fast ohne Flügelschlag und liess die Ebene und die Wälder und die Dörfchen mit den Ameisen-Menschen unter sich.

Liese schlief ein, erwachte, schlief ein, erwachte, wünschte zu weinen, lauschte, schlief ein, erwachte – – –

Als die Mama eintrat, sagte der Lehrer laut: »So muss es gespielt werden. Also bitte – –«

Sollte sie in die Regionen fliegen?! Ueber die Ebene, über die Wälder, über die Dörfchen mit geschäftigen Ameisen?!

»Ich kann nichts – –,« sagte Liese.

Die Mama ging hinaus.

Und der Lehrer schwang sich wieder in Regionen[121] über die Ebene, über die Wälder, über die Dörfchen, hinaus, hinauf – – –

Liese sass da und dachte: »Zu lange darf man das Bouquet nicht im Wasser liegen lassen. Lackveigerl vertragen das nicht.«

[122]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Was der Tag mir zuträgt. Die dumme Lise. Die dumme Lise. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DAC0-A