Man braucht Mehrere

»Du, komm, begleite mich zum ›Lateiner‹,« sagte die süsse Kamilla zu dem eleganten jungen Herren.

Der »Lateiner«, Julius Valerius, war Zahlkellner in dem ganz winzigen Café Lyra, in welchem sich die »von der Nacht« und die »vom Morgen« im graurosigen Frühlingslichte begegneten, die Schlaftrunkenen und die Wachtrunkenen, die, welche den ersten Kaffee und die, welche den letzen tranken.

Es giebt eine Klasse Menschen, die Spitznamen erhalten. Julius Valerius hiess der »Lateiner«.

Er sprach übrigens oft in festgeprägten Aphorismen. Zum Beispiel: »Die Meinige muss sein wie ein blonder Pudel!« Billiger gab er es nicht. Es bezog sich auf Farbe, Treue und Gehorsam. Er verachtete alle Dirnen, die keine blonden Pudel vorstellten. Er war eben der »Lateiner«.

»Ich gehe nicht gerne zu Julius Valerius,« sagte der bleiche elegante junge Herr zur süssen Kamilla, »er ist ein Duckmäuser, ein Intriguant.«

»Komm nur – – –« sagte Kamilla und hängte sich in ihn ein, »was geht er dich an, ob er so oder so ist – – –?«

[193] Der bleiche elegante junge Herr war ihr »Freund«.

Das kam so: Eines Nachts sass er im Café D., Nacht-Tschecherl. Sie ging, streifte an seinem Tische vorüber, strich mit der flachen Hand über seine Haare. Später stand sie ihm gegenüber. Sie hatte aschblonde Haare, ein edles Stumpfnäschen, drei Grübchen und eine feine Stirne. Sie war zart gebaut und hatte schmale weisse Hände. Sie trug ein weisses Piqué-Kleid mit Lila-Rüschen aus Seide.

Er blickte sie an.

Langsam kam sie heran, stützte sich auf die Sessellehne. Sie strich wieder mit den flachen Händen über seine Haare. Dann setzte sie sich langsam nieder.

Er sagte: »Wollen Sie Thee trinken?«

»Bitte«, erwiderte sie.

Sie trank langsam.

»Herr von Stolz – – –« sagte sie, weil er nichts sprach. »Sie, Herr von Stolz – – –.«

Er legte seine Hand sanft auf die ihre und betrachtete ihre Stirne. Die Stirne und die Hand gehörten zu einem reinen Wesen. Es war der »unzerstörbare Teil des Göttlichen in uns«! Und da er dieses Antlitz mit den Augen in sich hineintrank und diese süsse Hand berührte, begann er sie zu lieben, zu lieben – – –. Auf dem Wege nach Hause sagte er zu ihr; »geboren zur Prinzessin und versunken im Leben – – –!«

Er sagte das nicht nur so, er empfand es.

[194] Sie erzählte ihm fade Geschichten aus ihrer Kindheit, wie sie geprügelt wurde – – –.

Auf dem Nacht-Markte kaufte er für sie Blumen vom Gebirge.

Vor ihrem Hausthore sagte sie: »Halten Sie meine Blumen und warten Sie – – –.«

Oben wurde es dann licht. Es öffnete sich ein Fenster. Kamilla war im Hemde. Zwei rosige Arme liessen einen Bindfaden herab. Er band die Gebirgsblumen daran. Langsam schwebte die duftende Bürde in die Höhe, in der stillen lauen Nacht.

Es war ein Augenblick süsser kindlicher Poesie in diesem dumpfen Leben. Ihm dankte sie diesen. Denn er liebte ihr Antlitz und ihre Hände, das »unzerstörbar Göttliche« in ihr! Sie fühlte das direkt. Das machte sie kindlich und rein. Es ist wie ein Bad der Seele. So gab sie sich in dieser einen Nacht dem Zauber hin, löschte unsorglich das Vergangene. Und er, der Mann, empfand das alles, störte nicht den heiligen Traum.

»Gute Nacht, liebe, gute, süsse – – –« sagte er.

Sie nickte mit dem blonden Haupte und grüsste mit den weissen Händen. Aber in ihrem Zimmerchen, umgeben von hundert Erinnerungen an das »Leben« wurde sie wieder »das Fräulein Kamilla«. Sie kauerte in einem alten Fauteuil, stützte das Kinn in die Hand und trauerte um den verlorenen Abend.

So hatten sie sich kennen gelernt. Und jetzt [195] ging er schon seit Monaten mit ihr, im grauroten Frühlicht, vom Café D. in das winzige Café Lyra, zum Julius Valerius, dem Lateiner, wo die Schlaftrunkenen und die Wachtrunkenen sich in stummer Verachtung begegneten.

Julius Valerius war sein Freund geworden. Sie sagten sich sogar »du«.

Julius Valerius hatte einmal gesagt: »Prosit, auf Bruderschaft. Ich kann dich gut leiden – –«.

»Auf Bruderschaft«, sagte Kamilla und stiess mit an, »ich kann dich auch gut leiden – – –.«

Und alle lachten riesig.

So wurden sie Freunde.

Jetzt hätte Kamilla sagen können: »zum Prinzen geboren und versunken im Leben – – –.«

Aber sie sagte es nicht. Es fiel ihr gar nicht ein, das zu denken. Sie hatte die Macht über ihn und basta!

Er aber empfand sich wie das »gute Prinzip« in ihrem bösen Leben.


* * *


Julius Valerius sass in einer Ecke und zählte Geld.

»Komm her, setz dich zu uns – – –« sagte der elegante bleiche junge Herr.

»Ich danke sehr – – –«, erwiderte Julius Valerius, »ich sitze nicht bei einer jeden!«

»Was hast du mit ihm?« sagte der junge Herr zu Kamilla.

[196]

»Was geht er mich an!« erwiderte das Mädchen.

»Theater, Theater – – –« trillerte sie.

Theater heisst »Komödie« und »ich spiele mich mit dir« und »das macht mir einmal Pläsier«.

»Kanaille – – –!« sagte Julius Valerius.

»Es ist doch ein Theater, just und just!«

Julius Valerius nahm ein langes grosses Milchbrot-Laib von der Kredenz und schleuderte es auf ihren Tisch hin. Ihr Cognakglas zerbrach. Sie wurde ganz bleich. Das war kein »Theater«. Der junge Herr legte seine Hand auf ihren Arm. Alle schwiegen.

Der Herr stand auf, ging hinaus auf den Gang, um Kamilla und Valerius allein zu lassen; »Die Geheimnisse dieser Welt! Was wird es sein?«

Julius Valerius kam ihm nach, wollte ihn ansprechen. Der junge Herr stand da wie König Heinrich, als er von der Salbung kommt und Falstaff, der »Genosse seiner wüsten Nächte« ihn anspricht: »He, Heinz!« Da sagt der König königlich: »Wer sind diese Leute?«

Julius Valerius aber sagte zu dem gesalbten Könige: »Du, sie ist eine Kanaille, Sie betrügt dich undmich

»Wieso dich?« sagte der Herr einfach.

»Mich! Ich bin ihr Geliebter!«

Der junge Herr machte kleine Augen, fast schiefe. Er empfand nur die Gemeinheit, die darin lag, das Mädchen zu verraten.

Julius Valerius sagte: »Du bist auf sie ›geflogen‹,[197] wie wir nämlich sagen, du bist ihr ›Freund‹ geworden. Du giebst kein Geld, du machst ihr Präsente

»Und du – – –?«

»Ich mache ihr keine – – –.«

»Du giebst Geld?«

»Nein – – –.«

Jetzt war er der König, der gesalbte. Julius Valerius Rex!

Er sagte: »Du verstehst das nicht. Wir wissen alles. Wofür hält man uns? Aber wir richten es uns ein. Jeder Mensch richtet es sich ein. Die ›anderen‹ zählen nicht und der ›Freund‹ ist der ›Freund‹. Nur mit denen, auf die sie selbst fliegt, mit denen darf sie nicht gehen. Das ist etwas anderes. Das sind die Rivalen. Verstehst Du das?«

»Ich verstehe«, sagte der Herr kalt. »Da wird dann alles wie in unserer Welt!«

Julius Valerius erbleichte. Der Herr sagte: »Wieso betrügt sie Dich?«

»Wieso? No wieso?! Ich hab' sie gebeten und gebeten, schau Kamilla, geh nicht mit dem Lederer Franzl, was hast davon, geh, thu mir das nicht an. Diese Kanaille!«

»Wer ist dieser Herr Franz Lederer?«

»Wer, no wer? Ein feiner Mann, ein Stromer, einer von der ›Partie‹!«

Die beiden Männer traten wieder ins Café, setzten sich zu Kamilla.

[198] Sie fühlte es, dass Julius Valerius sie seiner Rache geopfert habe.

Sie machte Augen wie ein Luchs.

Sie hatte eine einfache Idee: sie wollte alle drei behalten.

Sie hatte alle drei gern, jeden anders.

Aber diese dummen Männer – – –!

Der junge bleiche Herr zog sie an durch seine Noblesse, seine Güte, seine edle milde ritterliche Art und seine Geschenke.

Vor Julius Valerius fürchtete sie sich wie ein Kind vor der Rute, konnte zittern wie das Tier, ausser sich sein und sie liebte ihn. Das heisst, ohne ihn würde sie in Melancholie versinken, die Sicherheit ihres leichten Lebens verlieren. Er war ihr Halt, ihre innere Stütze unter den gegebenen Umständen. Er war auf gleicher Stufe. Man verstand ihn, wusste sich verstanden.

Aber der »Franzl« war »ihre Laune«, ihr »Flugerl«! Da konnte sie das Weib, das wirkliche sein, die »auferstandene Prinzessin« quasi. Heute gewähren und morgen versagen! Und wenn sie da gewährte, war es etwas anderes, ein heisser glühender Sturm! Heranbrausend, erschütternd, und dennoch keine Spuren hinterlassend in der Seele und dennoch erlösend von irgend etwas! Es war jedesmal wie wenn sie sich ergäbe! Das fand sie nur bei ihm, nur bei ihm!

Aber diese dummen Männer!

»Mein Kleid ist hin vom Cognak,« sagte sie.

[199] »Ich werde Dir ein neues kaufen,« sagte Julius Valerius.

»Du, was hast Du?« sagte sie zu dem »versunkenen Prinzen« und berührte seine Hand.

»Nichts – – –« sagte er und zog seine Hand zurück.

Sie fühlte, dass es aus sei.

Julius Valerius wurde von dem Tag-Kellner abgelöst. Alle drei gingen langsam durch die stillen Strassen nach Hause, zu ihr. Vor dem Hausthore sagte der Herr zu dem Kellner: »Bitte, auf ein Wort – – –.«

Kamilla war tief erregt. Sie zitterte ein wenig.

Die Herren gingen abseits.

»Du,« sagte der Herr, »gieb mir Dein Ehrenwort, dass Du ihr nichts thust – – –!«

»Die muss ihre Packeln kriegen, die Kanaille!«

»Nein. Gieb mir Dein Ehrenwort. Sie ist so zart. Die darf man nicht hauen.«

»Weil Du es bist – –!« sagte Julius Valerius und gab das Ehrenwort.

Das Hausthor wurde geöffnet.

Der junge Mann trat nahe an Kamilla heran und betrachtete das blonde Haupt und das süsse, bleiche Antlitz mit tiefer Rührung, mit unbeschreiblichem Mitleide.

»Adieu – – –« sagte sie leise.

Aber er drehte sich um und ging weg.

Am nächsten Tage erhielt er einen Brief:


[200] »Lieber Freund!«


Ich teile Dir mit, das ich mein Ehrenwort gebrochen habe. Ich habe ihr zweimal gesagt: »Wenn ich nicht diesem anständigen Menschen mein Wort gegeben hätte – – –!« Aber das drittemal habe ich sie aufs Bett geschmissen und geprügelt. Sie hat sehr geweint. Aber dann war sie brav. Sie lässt Dich grüssen. Sie lässt fragen, was mit der Frühlings-Jacke ist?

Dein Julius Valerius.« [201]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Was der Tag mir zuträgt. Man braucht Mehrere. Man braucht Mehrere. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DBCC-A