Sie betrauert ihren Jesum

1
O so hast du nun dein Leben
Für die Psyche hingegeben,
Jesu, meine Freud und Ruh!
Bist du nun für mich gestorben
Und hast mir das Heil erworben,
Du verwundte Liebe du!
2
Freilich ja, du bist gestorben,
Daß du mir das Heil erworben,
Liegest so elende tot!
Nicht ein Atem ist zu spüren,
Nicht ein Glied kannst du mehr rühren,
Ach der unerhörten Not!
3
Deine Lippen sind verblichen
Und dein Geist von dir gewichen,
Alle Kräfte sind verzehrt.
Alle Rosen deiner Wangen
Sind verwelket und vergangen,
Alle Schönheit ist verheert.
4
Dein erfreulich Angesichte
Ist nun worden ganz zunichte,
Deine Stirn ist ungestalt.
Ja dein Augen, meine Sonnen,
Sind verloschen und zerronnen,
Alles ist verstarrt und kalt.
[119] 5
Ach, wo werd ich Feuer finden,
Mich hinfüro anzuzünden
In der ewgen Liebesbrunst!
Wenn dein Augen, o mein Leben,
Keine Funken von sich geben,
Ist all unser Tun umsunst.
6
Ach, was soll ich weiter sagen?
Du bist auch so gar zerschlagen,
Daß mir Herz und Seele weint.
Deine Schultern sind zerschmissen
Und dein Haupt so sehr zerrissen,
Daß es lauter Wunde scheint.
7
Du bist ganz mit Blut umflossen,
Welches du für mich vergossen
Aus dem tiefsten Lebensgrund.
Alle Glieder sind zerrenket
Und, was mehr mein Herze kränket,
Dein verliebtes Herz ist wund.
8
O der Wunde! O des Schmerzens!
O du Herze meines Herzens!
O du Arznei meiner Pein!
O, daß ich meins Herzens Leben
Möchte haben hingegeben
Und für dich verwundet sein!
9
Weil dirs aber so gefallen,
Daß du Treuester vor allen
Meinetwegen dies getan,
Will auch ich mich zu dir strecken
Und dein teures Blut auflecken,
Weil mein Mund sich rühren kann.
[120] 10
Deine Wunden will ich küssen
Und das liebste Herze grüßen,
Wie ich immer kann und weiß.
Deinen Leichnam will ich pflegen,
Mit Gewürz und Myrrhn belegen
Und ihn ehrn mit großem Fleiß.
11
Gib nur, wenn ich dich so küsse,
Daß mir Seel und Geist zerfließe,
Daß mein Herze werde weich.
Daß der Balsam deiner Wunden
Heile meiner Seelen Schrunden,
Daß mein Geist dein Herz erreich.
12
Denn ich will mich, o mein Leben,
In dein offnes Herz begeben
Als den besten Felsenstein,
Weil man vor dem Grimm der Höllen,
Vor der Welt und ihren Wellen
Kann darinnen sicher sein.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Angelus Silesius. Gedichte. Heilige Seelenlust oder geistliche Hirtenlieder. Zweites Buch. 57. Sie betrauert ihren Jesum. 57. Sie betrauert ihren Jesum. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-E456-9