Ernst Moritz Arndt
Erinnerungen aus dem äußeren Leben

Vorrede des Herausgebers

[5] Vorrede des Herausgebers.

E. M. Arndts »Erinnerungen aus dem äußeren Leben,« die auf folgenden Blättern zu neuem, unverändertem Abdruck kommen, waren längere Zeit im Buchhandel völlig vergriffen. Sie sind zuerst im Jahr 1840 erschienen, und diese Schilderung seines vielbewegten Lebens, die der Siebenzigjährige seinem Volke bot, fand solche Teilnahme, daß noch in demselben Jahr eine neue Auflage nötig wurde, welcher 1843 eine dritte, durch einige Zusätze und Anmerkungen vermehrte, folgte. Nach letzterer ist der folgende Abdruck genommen; ich habe nur einige Erinnerungen Arndts aus seiner Jugendzeit, die er an anderem Orte veröffentlicht hatte, hinzugefügt und einige Erklärungen gegeben, wo Personen und Ereignisse erwähnt werden, die dem Gedächtnis der heute Lebenden fremd geworden sind.

Von besonderer Lebendigkeit und Frische ist die Erzählung Arndts in der Schilderung seiner Jugendzeit, und in der That sind diese »breiten Bilder längst verschienener Tage« nicht nur ergötzlich, sie sind auch lehrreich in kulturgeschichtlicher Beziehung und dürften wohl Goethes berühmten Schilderungen des reichsstädtischen Lebens in »Dichtung und Wahrheit« an die Seite gestellt werden, wie verschiedene Lebenskreise sie auch zeichnen. Sie allein würden schon hinreichen, dem Buch einen dauerliben Wert zu verleihen. Von noch größerem Interesse und höherer Bedeutung als Geschichtsquelle sind Arndts Erinnerungen freilich in ihren späteren Teilen, namentlich aus der Zeit der Freiheitskriege. Seine glühende vaterländische Begeisterung, die sich in seinen Schriften offenbarte, brachte ihn in Beziehung zu den meisten hervorragenden Patrioten jener Tage. Auch seine nahe Verbindung mit Stein [5] wurde durch diese Gesinnung veranlaßt, und gab ihm wieder Gelegenheit, die Ereignisse jener Jahre aus der Nabe zu betrachten und manches zu erfahren, was ferner Stehenden verborgen blieb. Bei seiner Reise nach Petersburg sah er Rußlands Kriegsrüstungen im Sommer 1812, er sah den Eindruck, den der Brand von Moskau in der russischen Hauptstadt hervorbrachte, er sah endlich die furchtbaren Spuren des Rückzuges der großen Armee und erlebte in Königsberg die begeisterte Erhebung der braven Ostpreußen mit, während er selbst durch zahlreiche Flugschriften und Gedichte den flammenden Zorn gegen die Unterdrücker in aller Herzen schürte. Er folgte den siegreichen Heeren der Verbündeten bis an den Rhein, fand im Sommer 1818 eine Anstellung als Professor der Geschichte an der neu gegründeten Universität Bonn und wurde mit Jahr 1820 zum Dank für seine patriotische Wirksamkeit von den Demagogenverfolgern des Hochverrats verdächtigt und von seinem Amt suspendiert. Alles das erzählt der Alte in seiner schlichten, treuherzigen Weise – manchmal freilich auch mit hohem Pathos – und läßt dann eine Darlegung seiner politischen und socialen Grundsätze und Ansichten folgen, die Zeugnis ablegt von seinem klaren Blick und seiner tiefen Einsicht. »In damaliger Zeit galten seine Forderungen freilich vielen für revolutionär; wir haben die Erfüllung fast aller erlebt. Was sein Eifer damals nicht durchsetzte, ist der nächsten Generation lebendig geworden, und viele seiner Worte klingen uns jetzt wie die Mahnungen eines Sehers.« 1

Es bleibt noch übrig, einiges über Arndts spätere Lebensjahre zu sagen. Als Friedrich Wilhelm IV. am 7. Juni 1840 zur Regierung gekommen war, beeilte er sich, soweit möglich, das an dem treuen Patrioten begangene Unrecht wieder gut zu machen. Der siebenzigjährige Greis wurde wieder in Amt und Würden eingesetzt und wieder auf den Lehrstuhl berufen, der ihm zwanzig Jahre früher verschlossen worden war. Er wurde, wie er sagt, von dieser Nachricht [6] wie von einem Blitzstrahl getroffen, mehr erschreckt als erfreut. Lange Jahre hatte er »in einem nebelnden und spielenden Traum, unter Kindern, Bäumen und Blumen verloren,« nun sollte er in einem Alter, in dem andere die wohlverdiente Ruhe genießen, noch einmal wieder anfangen zu wirken und zu lehren. Wahrlich ein schwerer Entschluß. Aber um nicht trotzig und verbittert zu erscheinen, nahm er die Gnade seines Königs an und begann seine Lehrthätigkeit von neuem. Mit größter Freude wurde dies Ereignis im Volk und unter seinen Amtsgenossen begrüßt, und Arndt im folgenden Jahr zum Rektor der Universität gewählt. Jetzt regte sich auch seine Feder wieder in altgewohnter Weise. Er gab eine neue vermehrte Auflage seiner Gedichte heraus, er verfaßte seine »Erinnerungen aus dem äußeren Leben« und schrieb einen »Notgedrungenen Bericht aus seinem Leben,« worin er sich vor seinem Volk gegen die Anklage revolutionärer Bestrebungen rechtfertigte. Er sammelte seine vielfach zerstreuten kleineren Aufsätze und Flugschriften unter dem Titel: »Schriften für und an seine lieben Deutschen« und fügte noch vielfach Neues hinzu.

Als das hoffnungsreiche Jahr 1848 anbrach, trat der alte Freiheitskämpfer auch wieder auf den Plan. Vier rheinsche Wahlkreise hatten ihn als ihren Vertreter zum Frankfurter Parlament gewählt, auch von jemer Heimatinsel Rügen war ihm ein Mandat angeboten. Er nahm für Solingen an und schloß sich dem rechten Centrum, der preußischen Erbkaiserpartei, an. In Preußen hatte er während der Freiheitskriege die für die Zukunfst belebende, erhaltende und schirmende Macht Deutschlands erkannt; als man daher zur Wahl eines deutschen Kaisers schritt, konnte er nicht zweifelhaft sein, wem er seine Stimme zu geben habe. Er gehörte auch zu der Deputation, welche Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone anzutragen hatte. Sie wurde zurückgewiesen, und die Aufgabe des Parlaments war damit gescheitert. Am 20. Mai 1849 erklärte Arndt in Gemeinschaft mit 76 anderen, darunter Dahlmann, Gagern, Beseler, seinen Austritt aus der Nationalversammlung und kehrte in seine Heimat zurück. Aber trotz dieses [7] Fehlschlages verlor er die Hoffnung auf die Zukunft seines Volkes nicht. Preußen war ihm der zukünftige Hort, der Bannerträger Deutschlands. In einem seiner letzten Bücher »Pro populo Germanico« (1854) heißt es: »Licht, Klarheit, Tapferkeit, hellste geistige Mutigkeit, dieses nordliche lutherische Erbteil, ist das eigentliche preußische Leben; Licht, Kunst und Wisseschaft heißt die Inschrift der Fahne, unter welcher Preußen groß vorangeschritten ist und größer fortschreiten wird ... Hier ist nicht bloß auch ein wenig Deutschland – wie die Prediger des Großdeutschlands uns scheltend und prahlend von der Donau herzurufen – hier ist das rechte Deutschland, jenes Deutschland, welches einmal das große Deutschland werden und heißen wird.« Diese Zuversicht begleitete ihn bis an das Ende seines Lebens, und wenn er auch in Wirklichkeit das neue deutsche Kaiserreich nicht mehr erblicken sollte, im Geiste hat er es vorausgeschaut.

Am Weihnachtstage des Jahres 1859 feierte er unter Beteiligung von ganz Deutschland seinen 90jährigen Geburtstag; am 29. Januar 1860 drückte ihm seine treue Gattin die Augen zu.

An zwei Orten, an denen seine Seele besonders hing, zeugt ein Denkmal von der Liebe und Verehrung des deutschen Volkes für diesen guten Menschen und tapferen Kämpfer für Freiheit und Recht: auf Rügen, wo seine Wiege stand, und am Ufer des Rheins, in Bonn, wo er sein thatenreiches Leben beschlossen hat.


Dr. phil. Robert Geerds.

Fußnoten

1 G. Freytag: Arndt, in der Allgemeinen deutschen Biographie.

Erinnerungen aus dem äußeren Leben

Erinnerungen aus dem äußeren Leben.

Ich steh, ich steh auf einem breiten Stein,

Und wer mich lieb hat, holt mich ein.


Diesen Spruch habe ich in der lieben Heimat oft gesprochen in den Tagen, wo es mir noch lustig deuchte, im Pfänderspiel eine hübsche Dirne anzulocken und von ihr mit einem Kusse von dem festen Platze erlöst zu werden. Es lag nämlich im Mittelalter in der alten herrlichen Stadt Stralsund auf dem alten Markt ein sogenannter breiter Stein, umweit einer andern Stand- und Schaustelle, dort Kak, anderswo Pranger genannt. Dieser breite Stein hatte weiland gedient wie letzt die Kanzel zu allerlei feierlichen Ausrufungen und Verkündigungen, namentlich: wann hohe Ehrenstellen in der Obrigkeit besetzt werden sollten, wurden sie dem Volke durch Ausrufungen von jener Stelle bekannt gemacht; Verlöbnisse wurden dort verkündigt, Verlobte stellten sich in Feierkleidern dahin und ließen unter Pauken- und Trompetenschall ihre Namen erklingen und so jedermänniglich zu Einrede und Einwand auffordern.

Auf eine ähnliche Weise meine ich mich hier auf dem breiten Stein hingestellt zu haben und nicht an seinem Nachbar, wenn ich auch nicht glaube, daß mir wie mit Jugendglück die liebebrennenden Herzen mit Küssen entgegenfliegen werden. Ich habe in einzelnen dünnen Linien die Umrisse meines öffentlichen Lebens hingezeichnet, meines Lebens, Wollens und Wirkens als demscher Mann und Bürger. Beruf dazu hatte ich schon deswegen genug, weil es öffentlich vielfältiglich angefochten worden ist. Danton, ein wälsches Ungeheuer, hat einmal das große Wort gesprochen: Mein Name sei geschändet! nur sei das Vaterland gerettet! Aber doch, wenn es nicht die allerhöchsten Dinge gilt, wer mögte sich freiwillig schänden und anprangern lassen? was hätte das liebe Vaterland des Gewinn, daß irgend eines seiner Kinder unverdient für einen Schurken oder Narren gälte? Darum stelle ich mich hier auf den breiten Stein und rufe: Hier steh ich, ein redlicher und verständiger [9] Mann. Ist einer, der meint, mich davon auf die Nachbarstelle hinüberstoßen zu können, der komme! Ich lebe noch, und will ihn bestehen.

Die meine Schicksale kennen, verstehen die Meinung dieser Verkündigung. Weiter wüßte ich über diese Umrisse nichts zu sagen, als daß in Beziehung auf die Schilderung meiner jugendlichen Jahre manches vielleicht zu breit ausgeführt scheinen mögte. Ich glaube nicht, daß mich hier mit einer gewissen Breite der Darstellung die Geschwätzigkeit des Alters beschlichen hat, sondern eine sehr natürliche Luft an vergangenen Dingen, die nicht bloß für mich vergangen sind. Jene Menschen und Dinge, ja das ganze Leben der Jahre von 1780 und 1790 stehen schon gleich ein paar Jahrhunderten von uns geschieden, so ungeheure Risse haben die letzten fünfzig Jahre durch die Zeit gerissen. Ich bilde mir ein, jene breiten Bilder seien gleichsam als Bilder längst verschienener Tage auch den Jetztlebenden ergötzlich.

Ich selbst? was bin ich, was bin ich nicht unter jenen nun längst verblaßten Bildern? Wie ich gesagt habe, ein fliegendes Blatt unter Millionen fliegenden Blättern, die auf dem Ocean der Zeiten fortschwimmen, bis sie auf immer versinken. Aber ich sehe keinen Grund, warum dieses Blatt, Schmutz bewerfe? Der Sonnenstrahl der Ehre jedes einzelnen ist auch dem Vaterlande heilig; alles Übrige ist gleichgültig. Vergessen auch die Menschen geschwind, Gottes Liebe vergißt kein Stäubchen in seinem All. Man kann von der Menschheit und ihrer heiligen unendlichen Bestimmung, auch von der Bestimmung jedes einzelnen Sterblichen nicht hoch genug denken; und doch, wenn man sich die Pilgerwanderung des Einzelnen auf diesem trugvollen neblichten Planeten, wie er umhertappt und an allen Ecken und Enden anstößt und selten den rechten Pfad findet, in der Wirklichkeit klar vorstellt, dann singt man darüber den Spruch des alten Heiden Pindar: Was ist einer? was ist er nicht? eines Schatten Traumbild ist der Mensch.


Bonn, den ersten des Hornungs 1840.

[10]

Am Schlusse des zweiten Weihnachtstages des Jahrs nach der Erscheinung unsers Herrn Jesu Christi 1769 habe ich zuerst das Licht dieser Welt erblickt, und zwar als ein Wohlgeborner und Hochgeborner, und nach der Meinung Einiger auch als ein Glücklichgeborner. Wohlgeboren konnte ich heißen, weil ich stark und gesund an das Licht dieser Welt fiel, zumal ich schon mit dem neunten Monat meines Alters gelaufen bin, was einige meiner Söhne mir nachgemacht haben; Hochgeboren, weil das Haus meiner Geburt damals durch eine hohe stattliche Treppe und durch Jugendlichkeit und Schönheit ein sehr ritterliches und hochadliches Ansehen hatte, und in seinen Sälen und Gemächern mit Geschichten der griechischen Mythologie, ja mit dem ganzen Olymp, Jupiter und Juno mit Adler und Pfau an der Spitze, verziert war; Glücklichgeboren, weil Glaube und Aberglaube den an hoben Festen Hervorgekommenen allerlei Vorzügliches und Wundersames, als da sind Wahrsagen, Gespenstersehen u.s.w. beizulegen pflegt.

Es hätte sich aber leicht begeben können, daß ich ein recht Unwohlgeborner geworden wäre. Einige Wochen vor dem Ziel meiner Ankunft auf Erden war nämlich in der Festung Stralsund vor dem Tribseeer Thore ein Pulverturm 1 aufgeflogen, der die nächsten Gassen und Hunderte [11] von Menschen zerschmettert hatte. Dieser Knall war längs dem Meere auf drei Stunden Weite mit so fürchterlicher Gewalt bis Schoritz durchgeklungen, daß ich darüber in der Mutter aufgeschreckt worden, und sie in der Angst wegen meiner ungeuöhnlichen Sprünge gefürchtet hatte, ihr würde was Ungrades geschehen. Sie pflegte mich zur Erinnerung daran, wann ich zu wild war, wohl zuweilen den wilden Pulverjungen zu schelten. Doch legte sie als fromme Christin an solche Dinge eben keine Bedeutung, obgleich sie für die Bedeutung meines Namens Ernst ritterlich gekämpft und den Namen Philipp, den der Vater von meinem Herrn Paten beliebte, niedergesiegt hatte: wie denn die Frauen in solchen Dingen gewöhnlich zu siegen pflegen.

Wie es nun auch um alle diese Geborenheiten stehen mag, die Wahrheit bekennend muß ich aussagen, daß der Stamm, aus welchem ich entsprossen bin, unter anderm niedrigen Menschengesträuch ganz tief unten an der Erde stand, und daß mein Vater kein viel besserer Mann war, als der Vater des Horatius Flaccus weiland, nämlich ein Freigelassener. Er hieß Ludwig Nikolaus Arndt und war zu jener Zeit Verwalter der sogenannten Schoritzer Güter. Meine Mutter hieß Friederike Wilhelmine Schumacher. Jene Güter, von welchen meine Geburtsstätte Schoritz der Hauptsitz war, bestanden aus einem halben Dutzend größerer und kleinerer Höfe und einigen Bauerdörfern, und mein Vater war eine Art Oberverwalter und führte den Namen Herr Inspektor, und seine nächsten Unterleute hießen Schreiber. Dieser Besitz und ein großer Teil der Güter auf der angränzenden Halbinsel Zudar waren weiland Lehen des rügenschen adlichen Geschlechts der von Kahlden. Ein sehr reicher Herr von Kahlden hatte das damals noch junge und schöne Haus auf dem Rittersitze Schoritz um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gebaut, seinen schönen Besitz aber um die Zeit des siebenjährigen Krieges an einen General Grafen von Löwen verkauft, schwedischen Statthalter über Pommern und Rügen, [12] und hatte dafür andere große Güter in Pommern wieder erworben. Er war aber durch Krieg und unverständige Wirtschaft zuletzt in schlechte Umstände geraten und mußte nun hier in Schoritz, wo er den schönen Hof und Garten und mehrere Parks gebaut und angelegt hatte, eine Rolle spielen, welche der Volksglaube gewöhnlich Solchen beilegt, die durch schwere und gräuliche Unfälle gegangen sind. Mir hat er die ersten kalten und heißen Gespensterschauer durch den Leib jagen müssen: denn er machte in einem grauen Schlafrocke, mit einer weißen Schlafmütze auf dem Kopf und ein paar Pistolen unter dem Arm abendlich und mitternächtlich häufig die Runde auf seinem Hofe, indem er zwischen den beiden Scheunen über den Damm, der auf das Haus hin führte, langsam in das unterirdische Haus und die Keller marschierte und von da herausschreitend durch das Gartenthor ging, wo er die Bienenstöcke musterte und dann verschwand. Dieser war das Gespensterschrecken; aber ein zweites gespenstisches Schrecken, womit der abenteuernde Mund des Gesindes meine und meiner Brüder jugendliche Phantasie fütterte, waren ein paar mächtige goldige Wasserschlangen, welche in dem großen Teiche hinter der Scheune hausen und den Kühen gelegentlich die Milch absaugen sollten. Von dem General Löwen hatte die Güter der Graf Malte Putbus A2 gekauft, aus dem vornehmsten und ältesten Rittergeschlecht in der ganzen schwedisch-pommerschen Landschaft, Erblandmarschall des Fürstentums Rügen und Präsident der Regierung in Stralsund.

Mein Vater, im Jahr 1740 geboren, war der Vorjüngste von vielen Geschwistern und Sohn des unterthänigen Schäfers Arndt zu Putbus und Darsband. Der Vater dieses Schäfers war nach der Familienüberlieferung ein geborner Schwede, als schwedischer Unteroffizier ins Land gekommen, und hatte sich in ein Bauerwesen der Herrschaft Putbus eingeheiratet. Mein Vater war, da der Schäfer in seiner Lage leidlich wohlhabend war, und da sein viel älterer, auch [13] schon zu einigem Wohlstand hinaufgekommener Bruder Hinrich seine Jugend unterstützte, fleißig zur Schule gehalten worden und hatte den Unterricht des Kantors und Küsters Jahn zu Vilmnitz bei Putbus genossen, eines seinen alten Mannes, dessen ich mich aus meiner Kindheit noch wohl erinnere, und der für einen sehr vorzüglichen Orgelspieler und Rechnenmeister galt. In dieser Schule hatte mein Vater eine tüchtige Rechnenkunst und eine vorzüglichste Handschrift gewonnen, so daß sein Herr, der Graf, ihn zu einem Haidereiter, wie man sie damals in Rügen nannte, oder einem kleinen Förster bestimmte, und ihn, da er ein hübscher rüstiger Bursche war, als seinen Jäger in Geschäften und auf Reisen mit sich nahm. Nun brach der siebenjährige Krieg aus, und der Graf ward zu einer Art Generalintendanten des schwedischen Heers ernannt, das übers Meer kam und die vielen Feinde des großen Friedrich von Preußen vermehren sollte. Da der Graf die Redlichkeit und Anstelligkeit des Jünglings erkannt hatte, so gebrauchte er ihn nicht nur in seiner Kanzlei als Schreiber, sondern auch zu mancherlei zum Teil gefährlichen und mißlichen Sendungen, namentlich zur Geleitung von Geldfuhren von Hamburg her u.s.w., und nahm ihn später auf mehreren Reisen nach Stockholm mit. Auf diese Weise ging mein Vater von seinem achtzehnten bis fünfundzwanzigsten Jahre durch eine tüchtige Schule des Lebens und hatte sich bei dem Aufenthalte in großen Städten und unter fremden Menschen, obgleich nur ein dienerlicher Mann, die Art eines gebildeten und gewandten Mannes zugeeignet. Bei seinem Herrn aber hatte er schon in den ersten Jahren seines Dienstes die Gunst gewonnen, daß er ihn frei ließ und ihn zu Hause in Putbus in Geschäften der Landwirtschaft und Schreiberei gebrauchte, bis er ihn zum Inspektor der Schoritzer Güter machte.

Meine Mutter, im Jahr 1748 geboren, war die Tochter eines kleinen Ackerbesitzers und Landkrügers in dem Kirchdorfe Lanken, eine Meile von Putbus. Auch sie hatte eine [14] bessere Erziehung genossen, als man von der Lage ihrer Eltern erwarten durfte; denn sie war mehrere Jahre mit den Kindern eines reichen Pächters zu Garstitz bei Lanken, Namens Bukert, mit unterrichtet worden, und hatte aus der Schule die Anfänge von für die damalige Zeit ganz hübschen Kenntnissen zu Hause gebracht, so daß man sie zu den gebildeten Frauen rechnen konnte. Sie und ihre Geschwister waren überhaupt geistig sehr begabte Menschen mit mancherlei seinen Talenten, besonders zu Saitenspiel, Gesang und Bildnerei und allerlei sinnigen und ergötzlichen Erfindungen. Sie war aber wohl die Krone von allen, ernst, fromm, sinnig und mutig, und durch keine Geschicke so zu beugen, daß sie die Klarheit und Besounenheit verloren hätte. Sie steht mir noch heute mit ihren schönen, großen, blauen Augen und ihrer prächtigen breiten Stirn, als wenn sie leibte und lebte, lebendig gegenüber.

Schoritz war denn höchst anmutig hart an einer Meeresbucht gelegen, welche die Halbinsel Zudar von der größeren Insel abschneidet; ein neues noch glänzend geschmücktes Haus; ein großer Blumengarten und mehrere Baumgärten; dicht daran eine ganz kleine Halbinsel, die aber bei hoher Sturmflut oft zu einer Insel ward, mit hohen Birken und Eichen beflanzt, worauf wir unsre Sommerspiele zu halten pflegten; gegen Osten des Hofes ringsum ein prächtiger Eichenwald, in welchem Tausende von Ackerraben ihren horstenden Wohnsitz zu haben pflegten; ein Viertelstündchen weiter der größere Wald Krewe. Auch sind mir aus diesen Tagen noch mehrere Freuden erinnerlich, besonders die freundlichen Gaben, welche zwei Menschen uns Kindern fast allwöchentlich zutrugen. Der erste war mein Oheim und Pate Moritz Schumacher, damals Verwalter des Hofes zu Putbus. Dieser segelte oder ritt nie nach Stralsund oder Greifswald, ohne daß er bei uns etwas abweges ansprach und Gebäck und Süßigkeiten und anderes Schönes aus seiner Tasche schüttelte. Der zweite war ein alter preußischer Hauptmann von Wolke [15] aus Hinterpommern, der mit seinem grauen Gemahl auf dem Schoritzer Nebengute Silmnitz eine halbe Stunde von uns wohnte. Noch heute schwebt mir das alte gutmütige und rosig heitere Gesicht dieses Greises vor, der fast alle Abende zu uns kam und mit dem Vater eine Partie Karten oder Damenbrett spielte. Am besten aber hatten wir Kinder es, wenn er den Vater nicht zu Hause traf; dann nahm der freundliche Alte mich und meinen Bruder Karl auf die Kniee, und erzählte uns Kriegs- und Mordgeschichten und andere wundersame Abenteuer, worauf wir mit unbeschreiblicher Luft horchten. An Sonntagen erschien dann auch die Frau Hauptmannin, immer im vollen Staat nach der damaligen Weise, und der Alte dann meistens in Montur, mit herrlich gepuderter Perücke, den Degen an der Seite und die silbernen Sporen an den Stiefeln. An solchen Galatagen und vorzüglich an den hohen Festen bescherte er den Kindern sehr reichlich, und mit Recht schwebt sein liebes Bild nach mehr als sechzig vertidenen Jahren als das Bild eines milden und freundlichen Christengels vor meinen in Wehmut dämmernden Augen. Denn dieser gute Greis war neben den Gaben auch ein Friedensengel und hat mich und meinen Bruder Karl öfter von verdienter Züchtigung befreit.

In Schoritz wurden also die ersten Kinderspiele durchgespielt. Es war im Jahre 1775 oder 1776, da zog der Inspektor Arndt von Schoritz ab, eine halbe Stunde weiter, und ward nun sein eigener unabhängiger Herr. Der Graf verpachtete nämlich diese Güter an meehrere Pächter, und mein Vater ward Pächter von Dumsevitz und Ubechel nebst einigen Dienstbauren. Weder er noch die Mutter hatten zu solchem Unternehmen hinreichendes Vermögen. Freunde in Stralsund, deren Vertrauen er verdient hatte, schossen ihm dazu die nötige Summe vor.

Wir wohnten nun zu Dumsevitz fünf oder sechs Jahre, ich meine, bis zum Jahre 1780. Wir waren ein Viergespann [16] von Buben, und es kam hier bald noch eine Dirne und ein Knabe hinzu; sodaß in Dumsevitz das halbe Dutzend voll ward, das späterhin noch um zwei Geschwister vermehrt werden sollte. Dies hier sind die Jahre der aufdämmernden Kindheit, und aus diesen sind mir die anmutigsten und idyllischesten Lebensbilder übriggeblieben, und auch glaube ich, sie haben meine glücklichsten Tage enthalten. Was nun das Äußere betrifft, so waren wir freilich aus dem Palast in die Hütte versetzt. Dumsevitz war ein häßlicher, zufällig entstandener Hof, mit einem neuen aber doch kleinlichen Hause; indessen doch hübsche Wiesen und Teiche umher, nebst zwei sehr reichen Obstgärten, und in den Feldern Hügel, Büsche, Teiche, Hünengräber, alles in dem unordentlichen aber romantischen Zustande eines noch sehr unvollkommenen und ursprünglichen Ackerbaues. Die Natur war, mit Goethe zu reden, gottlob noch nicht reinlich gemacht und ihre ungestörte Wildheit mit Vögeln, Fischen, Wild und Herden desto lustiger: auch streiften wir, dem fröhlichen Jäger, dem Vater und seinen Hunden folgend, oft darüber hin. Das hatten wir alles zu genießen, behielten aber Schoritz, wo uns ganz nahe befreundete Leute wohnten, und das nahe Silmnitz, worauf Ohm Moritz Schumacher als Pächter gezogen war, eigentlich immer noch als unsere Heimat, weil die Nachbarn und Nachbarskinder immer wöchentlich, oft auch täglich zusammenliefen. Dies geschah am meisten in dem Walde Krewe, wovon ein Teil zu Dumsevitz gehörte, und worin wir bei der Vogelfängerei und Vogelstellerei meistens freundlich, zuweilen auch feindlich zusammenstießen. Wir hatten überhaupt ein glückliches Leben. Es war die zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre nach dem siebenjährigen Kriege eine stille heitere Zeit, und die Menschen fühlten sich außerordentlich wohlig und wählig, und ließen bei Besuchen, Zusammenkünften und Festlichkeiten und bei Reisen zu entfernten Verwandten die Kinder an allem freundlich mitteilnehmen. Das Beste aber war, daß wir mit keinem [17] frühen Lernen gequält wurden und auch diese Dumsevitzer Jahre noch so spielend durchspielen durften. Das hatte seinen guten Grund.

Es hatte nicht seinen Grund in der Ansicht oder in dem Willen der Eltern, sondern in den engen und kleinen Umständen derselben. Es gab keine Schule in der Nähe, und ein rechter studierter Hauslehrer wäre ihnen zu teuer geworden. Einmal kam freilich einer an, ein alter verlegener Kandidat, Sohn eines Kantors in der Stadt Bergen, Namens Herr Krai. Ich erinnere mich dieser Krähe noch mit Schaudern. Er war früher mit unserm werten Hausfreund, Herrn Pastor Krüger zu Swantow, mehrmals als Gast bei uns gewesen, wo wir über seinen wunderlich zugeknöpften Rock und seine gelbe Perücke gelacht hatten: ein langer, dürrer und griesgrämiger Mensch mit einer ungeheuren Nase und tiefliegenden schwarzen Augen. Welche Angst aber, als er wirklich bei uns einzog und uns in seinem kleinen Zimmer zusammenkniff! Da waren die wilden Vögel eingefangen. Aber diese Angst nahm glücklicherweise ein baldiges Ende. Er verließ unser Haus zu unserm Jubel etwa noch acht Tagen, indem er meinem Vater in einem Briefe erklärte: er könne nicht bleiben, wo man dem Lehrer der Kinder so wenig Achtung erweise, meine Tante Sophie habe ihn einen guten Morgen kaum angeknixt, und meine Mutter habe gestern statt Herr Krai, wie sich gebühre, lieber Krai gesagt.

Indessen liefen wir doch nicht wie die rohen Wildlinge herum, sondern wurden, wie ich noch meine, für dieses Alter vom sechsten bis zehnten Jahre recht gut erzogen. Man höre:

Mein älterer Bruder Karl – ich war der zweite – ward auf ein paar Jahre nach Stralsund geschickt, wo er im Hause des ältesten Mutterbruders, Friedrich Schumacher, wohnte und in die Schule ging. Ich ueiß noch, welch Erstannen und Schrecken wir hatten, und wie sich die Geschichte [18] bald in brüderlichen Spaß auflöste, als der Junge nach einem halben Jahre einmal zu Hause kam und anfangs nicht anders als in hochdeutscher Zunge sich mit uns zu unterreden herabließ. Denn das Hochdeutsche waren wir bisher nicht anders als von den Kanzeln oder beim Vorlesen aus Büchern oder bei feierlichen Gelegenheiten in den ersten Bewillkommnungen der Besuchenden zu hören gewohnt gewesen. Wir blieben aber dabei gar nicht hinter ihm: nämlich ich und Bruder Fritz, der dritte in der Reihe. Die Eltern hielten den Herbst und Winter, wo sie am meisten Muße hatten, ordentlich Schule mit uns; Schreiben und Rechnen lehrte der Vater, und die Mutter hielt die Leseübungen und machte unsere jungen flatternden Geister durch Erzählungen und Märchen lebendig, die sie mit großer Anmut vorzutragen verstand. Das Lesen ging aber in den erten Jahren fast nicht über Bibel und Gesangbuch hinaus; ich möchte sagen, desto besser für uns. Sie war eine fromme Frau und eine gewaltige Bibelleserin, und ich denke, ich habe die Bibel wohl drei, viermal mit ihr durchgelesen. Das Gesangbuch mußte auch fleißig zur Hand genommen werden und den Samstag Nachmittag mußten die Jungen unerlaßlich entweder ein aufgegebenes Lied oder das Sonntagsevangelium auswendig lernen. Das geschah, weil sie eine sanfte und liebenswürdige Schulmeisterin war, mit großer Freude und also mit großem Nutzen. Muße aber hatte sie ungeachtet einer nicht starken Gesundheit, der vielen wilden Kinder und der großen Wirtschaft, die mit Sparsamkeit geführt werden mußte, mehr als die meisten anderen Menschen. Wann alles längst vom Schlaf begraben lag, saß sie noch auf und las irgend ein frommes oder unterhaltendes Buch, ging selten vor Mitternacht zu Bette, und war im Sommer mit der Sonne wieder auf den Beinen. Weil ich nun auch ein solcher Kautz war, der selbst im Knabenalter wenig Schlaf bedurfte und deswegen Lerche (Lewark) zugenannt war, so habe ich in jenen Kindertagen [19] und auch später noch manche Abende und Nächte bis über die Gespensterstunde hinaus mit ihr durchgesprochen und durchgelesen.

Weil ich diese Leserei der Vergangenheit hier im Gedächtnisse wieder überlese, so füge ich sogleich hinzu, was für diese Zeit dahin gehört. Es war wenigstens auf der Insel Rügen damals noch die Zeit des ungestörten christlichen Glaubens, und meine guten Eltern und die Base Sophie, meiner Mutter jüngste Schwester, welche mit uns lebte, waren treue fromme Menschen. Sie hatten in dem Magister Stenzler, dem Großvater des jetzigen Professors Stenzler in Breslau, Pastor in Garz, einen vorzüglichen Prediger und Seelsorger. Keinen Sonntag ward die Kirche ohne den gültigsten Grund versäumt, bei schlechtem Wetter hingefahren, bei schönem und im Sommer hingegangen, wo der Vater denn seine älteren Buben neben sich herlaufen ließ. Diese durften aber auch bei keiner Katechismusprüfung in der Nachmittagskirche nicht fehlen, sondern mußten zum zweitenmale über Feld laufen. Wenn der Vater dann nicht mitging, so gab er uns seinen alten Großknecht zum Führer, einen christlichen biblischen Mann, Jakob Nimmo mit Namen, der mein besonderer Beschützer war. Weil ich kleiner zehnjähriger Junge mich nämlich damals eines sehr guten Gedächtnisses erfreute und großen Eifer und viel Belesenheit in der Heiligen Schrift hatte, so prangte ich durch die Stelle, die mir der Herr Magister eingab, bei der Kinderprüfung in der Kirche an der obersten Stelle, und hatte viel größere Jungen und Dirnen, unter andern auch meinen älteren Bruder Karl und ein paar große Fräulein mit mächtigen Lockengerüsten, eine von der Lanken und eine von Barnekow unter mir. Weil ich nun beim Aufsagen und Vorlesen große Zuversicht hatte, und es da, wie blöde ich sonst auch war, wie aus einer Trompete aus mir herausklang, so rechnete der alte treue Jakob sich das gleichsam zu seiner Ehre an, und ging wie triumphierend mit mir zu Hause.

[20] Frühling und Sommer gingen freilich nicht ganz ohne Schule hin, indessen war die Schule unter den Gespielen in Feld und Wald und auf Wiesen und Haiden und unter Blumen und Vögeln wohl die beste. Doch ließ der Vater uns nicht immer bloß wild und wie aufs liebe Ungefähr herumlaufen, sondern wußte es meistens so einzurichten, daß wir bei dem Herumspringen und Herumspielen irgend etwas auszurichten und zu bestellen hatten. In der Zeit aber, wo auf dem Lande alle Hände angestrengt zu werden pflegen, mußten wir älteren Buben nach unsern kleinen Kräften auch schon mit heran, nämlich in der Zeit der Saat und der Ernte, vorzüglich in der letzteren. Da ward ich wohl zuweilen ein göttlicher Sauhirt oder Kuhhirt und mein Bruder Karl, der Rossetummler, der eigentlich den mir abgestrittenen Namen Philipp hätte haben sollen, ein flinker Rossehüter. Ich erntete wegen meiner sorgsamen Gewissenhaftigkeit nicht mißznhüten auch hier Lob ein, und noch leuchten mir die ersehnten glänzenden Abendröten, wo ich fröhlich meine Kuhherde in den Hof trieb und dann geschwind in der Dämmerung noch auf einen Äpfel- oder Kirschbaum kletterte, wo ich süße Beute für mich wußte. Meistens aber hatte die freundliche Base Sophie schon für mich gepflückt und aufgehoben.

Unser gewöhnliches Kinderhausleben ward durch die Sitte der damaligen Zeit, durch die Umstände der Familie und durch den Charakter der Eltern bestimmt. Die Sitte war damals beides feierlich und streng, und Kinder und Gesinde wurden bei aller Freundlichkeit und Gutherzigkeit der Eltern und Herrschaften immer im gehörigen Abstande gehalten. Es ward selbst in den untern Ständen im allgemeinen eben so sehr, als man sich jetzt lotterig oder ungezogen gehen läßt, nach einer gewissen Vornehmigkeit und Zierlichkeit gestrebt. Der Vater war von Natur zu gleicher Zeit heftig und lebhaft und freundlich und mild, tummelte und beschäftigte die Jungen meist draußen herum, im Hause aber überließ er [21] sie, wie es in diesem Alter sein mußte, fast ganz der Mutter. Die Mutter war von Charakter ernst und ruhig und eine Seele, die auf Schein und Genuß gar keinen Wert legte, auch kein Bedürfnis davon hatte. Diese Frau, welche ihre irdischen Sorgen und Geschäfte so treu und eifrig erfüllte, lebte doch fast wenig von irdischer Luft und irdischem Stoff. Kein Kaffee, kein Wein noch Thee ist fast jemals über ihre Lippen gekommen, Fleisch hat sie wenig berührt, sondern sich von Brot, Butter, Milch und Obst ernährt. Dieses mäßige Leben ward auch für die Kinder zur Regel gemacht, und wir älteren Bursche sind fast streng erzogen worden. Eben so wenig ward uns in Beschuhung und Bekleidung Weichlichkeit gestattet. War bei einem Nachbar, auch wohl bei einem Freunde, der wohl auf einer Meile Entfernung von uns wohnte, etwas zu bestellen, der Vater schrieb das Briefchen, das zahme Rößlein ward gesattelt, der Junge drauf gesetzt, und ohne Mantel und Überrock, es mochte Sonnenschein oder Regen und Schneegestöber sein, mußte er mit seinem Gewerb fortgaloppieren. Ja der Vater noch jung und kräftig, fühlte mit unserer Pimplichkeit kein weichliches Mitleid. Fuhr er im Winter Stunden weit mit klingendem Einspännerschlitten zu Verwandten oder Freunden, so mußten die älteren Buben zur Seite oder hinten aufhocken, und, wenn sie fror, nebenbei springen, um sich zu erwärmen. Ja, mich erinnert's, wie ich als ein Junge von neun oder zehn Jahren im fremden Hause auf einem Stuhl oder Bett eingeschlafen lag, während die Männer Karten spielten; wie der Vater mich dann um elf oder zwölf Uhr nachts aufrüttelte und ich schlaftrunken in den Schlitten hinaus mußte; wie er dann zum Spaß recht absichtlich mehrmals umwarf, daß ich mich im Schnee umkehren mußte; wie ich denn auch immer alert sein mußte, wenn wir durch Koppeln und Dörfer kamen, die Schlagbäume zu öffnen. Wehe mir, wenn ich, mich aus dem Schnee herauswühlend, eine weibisch plinsende Gebärde gezeigt hätte!

[22] Was nun Beschädigungen, Zerreißungen und Verletzungen an Kleidern und Leibern und andere dergleichen Nöte betraf, welche die Jugend sich selbstwillig oder gar mutwillig ohne Auftrag zugezogen hatte, so mochte sie zusehen, sie vor den Augen des Vaters zu verstecken, geschweige, daß sie bei ihm Hilfe oder Mitleid hätte suchen können. Kam dergleichen zufällig vor sein Angesicht, so ward neben Schmerz und Not Mutwille und Unvorsichtigkeit noch gebührlich gezüchtigt. Böse Fälle von Bäumen oder Pferden, Versinkungen in Wasser und unter Eis und Wiederherausreißungen, wie alltäglich waren solche Geschichten! Ich erinnere mich, daß ich eines Tages, als Ohm Schumacher aus Stralsund und Magister Stenzlers nebst vielen Damen bei uns waren, und wir Kinder unsre Sonntagskleider angezogen hatten, auf dem Teiche an der Bleiche durchs Eis einbrach und schon einmal versunken war, als mein Bruder Karl mich beim Schopf faßte und herauszog. Ich machte mich nun mit den nassen triefenden Kleidern in die Gesindestube, wo ich an dem warmen Ofen meine Oberfläche leidlich abtrocknete. In diesem Zustande mußte ich, als es dunkel geworden, in dem Gesellschaftszimmer erscheinen. Die Männer spielten L'hombre; die Frauen saßen am Theetisch, und eine las aus dem Siegwart A3 vor; und ich Armer stand scheu und bange, irgendwie berührt oder befühlt zu werden, an der dunkeln Ofenecke, so sehr als möglich vom Lichte abgekehrt, und blinzelte über die Schultern der Frauen zuweilen mit auf die Bilder des Romans, aber meine Seele zag te und mein Leib zähneklappte. Da erschien meine Retterin, die gute Tante Sophie; sie fühlte zufällig meinen nassen Rock, zog mich ins Nebenzimmer, erfuhr mein ganzes nasses Abenteuer und erbarmte sich meines Elends. Flugs war ich ausgekleidet, mit einem warmen Hemd angethan, und so ins Bett. Die nassen Kleider wurden getrocknet und geebnet, und den andern Morgen erschien ich zierlich und wohlgemut wieder in der Gesellschaft. Die Base aber hatte unter dem Titel von Zahnweh, [23] wovon ich als Kind schon genug geplagt worden bin, mein Wegschleichen entschuldigt.

Ich habe eben gesagt, daß damals alles nach einer gewissen Vornehmigkeit und Zierlichkeit strebte. Dies ging durch alle Klassen durch bis zu denen hinab, welche an die alleruntersten grenzen. Mein Vater war der Sohn eines Hirten, ein Freigelassener, der bei einem großen Herrn gedient und durch die Gunst der Umstände sich ein bißchen aus dem Staube herausgebildet hatte. Er war ein schöner stattlicher Mann und hatte sich durch Reisen und Verkehr mit Gebildeten so viel Bildung zugeeignet, als ein Ungelehrter damals in Deutschland überhaupt gewinnen konnte. Er war an Verstand und Lebensmut vielen überlegen, und war in vielen Dingen geschickter, schrieb sein Deutsch und seinen Namen richtiger und schöner, als die meisten Landräte und Generale jener Zeit. Kurz, er war ein hübscher anständiger Mann, wenigstens für das Ländchen Rügen, wie die Menschenkinder dort damals miteinander verkehrten, und hielt mit den würdigsten Geistlichen, Beamten uud kleineren Edelleuten der Nachbarschaft Umgang. Man behalf sich da, wie die arme Zeit, wo alles äußerst wohlfeil und das Geld also sehr teuer war, mit der leichten nordischen Gastlichkeit, welche in unserer Landschaft durch die schwedischen Sitten, woran sie sich in anderthalb Jahrhunderten hatte gewöhnen müssen, vielleicht im ganzen Norddeutschland die frohherzigste war. In Jagd, Spiel und Verkehr ging alles auf das freundschaftlichste und herzigste miteinander um. Von den Geistlichen waren die Herren Stenzler und Krüger, von den benachbarten Edelleuten einige von Kahlden vom Zudar und ein von der Lanken öfter in unserm Hause. Mein frommer und freundlicher alter Christengel von Wolke war leider schon seit einigen Jahren wieder in sein hinterpommersches Kassubien gezogen.

Versteht sich, daß die Jungen des Pächters Ludwig Arndt Pächterjungen blieben, arme kleine Geelschnäbel, die in eigengemachten [24] Jäckchen und Höschen und in geflickten Schnürstiefelchen vor den Herren ihre Bücklinge machen mußten. Aber die armen Schelme mußten doch schon ihre Bücklinge machen, und wie! Bei alltäglichen Gelegenheiten ging es alltäglich her, aber bei festlichen Gelegenheiten, bei Feierschmäusen, Hochzeiten u.s.w., was waren das für Anstalten und Zurüstungen auch bei so kleinen Leuten, als die Meinigen waren! Ich erzähle aus den Jahren 1770 und 1780. Also stehe es!

Es ging bei solchen Gelegenheiten in dem Hause eines guten Pächters oder eines schlichten Dorfpfarrers ganz eben so her, wie in dem eines Barons oder Herrn Major Von, mit derselben Feierlichkeit und Verzierung des Lebens; aber freilich steifer und ungelenker, also lächerlicher und alberner. Es war nur der Perückenstil oder der heuchlerisch welsch und jesuitisch verziertichte und vermanierlichte Schnörkel- und Arabeskenstil, der von Ludwig dem Vierzehnten bis an die französische Umwälzung hinab gedauert hat. Noch lächelt mir's im Herzen, wenn ich der Putzzimmer der damaligen Zeiten gedenke. Langsam feierlich mit unlieblichen Schwenkungen und Knicksungen bewegte sich die rundliche Frau Pastorin und Pachterin mit ihren Mamsellen Töchtern gegeneinander, um die Hüften wulstige Poschen geschlagen, das oft falsche dicht eingepuderte Haar zu drei Stockwerken Locken aufgetürmt, die Füße auf hohen Absätzen chinesisch in die engsten Schuhe eingezwängt, wacklig einhertrippelnd. Die Männer nach ihrer Weise ebenso steif, aber doch tüchtiger. Bei diesen hatten die großen Bilder des siebenjährigen Krieges den wälschen Geschmack etwas durchbrochen. Man mochte mit Recht sagen, es waren die komischen Transfigurationen Friedrichs des Zweiten und seiner Helden. Mächtige Stiefeln bis über die Kniee aufgezogen, schwere silberne Sporen daran, um die Kniee weiße Stiefelmanschetten, in den Händen ein langes spanisches Rohr mit vergoldetem Knopf, ein großer dreieckiger Hut über den steif einpomadisierten und eingewächseten[25] Locken und der langen Haarpeitsche – da war doch noch etwas Männliches darin. – Und die Jungen? Selbst diese kleinen unbedeutenden Kreaturen mußten schon mit heran. O es war eine schreckliche Kopfmarter bei solchen Festlichkeiten. Oft bedurfte es einer vollen ausgeschlagmen Stunde, bis der Zopf gesteift und das Toupet und die Locken mit Wachs, Pomade, Nadeln und Puder geglättet und aufgetürmt waren. Da ward, wenn drei bis vier Jungen in der Eile fertiggemacht werden sollten, mit Wachs und Pomade draufgeschlagen, daß die hellen Thränen über die Wangen liefen. Und wenn die armen Knaben nun in die Gesellschaft traten, mußten sie bei jedermänniglich, bei Herren und Damen, mit tiefer Verbeugung die Runde machen und Hand küssen.

Das Possierlichste bei diesen Abkonterfeiungen und Nachkonterseiungen des seinen und vornehmen Lebens war noch der Gebrauch der hochdeutschen Sprache, welcher damals in jenem Inselchen auch für etwas Überaußes und Ungemeines galt und auch wohl gelten mußte, weil wenige damit ordentlich umzugehen verstanden, ohne dem Dativ und Akkusativ in einer Viertelstunde wenigstens einige hundert Maulschellen zu geben. Es gehörte nämlich unerläßlich zum guten Ton, wenigstens die ersten fünf bis zehn Minuten der Eröffnung und Versammlung einer Gesellschaft hochdeutsch zu radebrechen; erst wenn die erste Hitze der feierlichen Stimmung abgekühlt und die ersten Beklemmungen, welche der Überfluß von Komplimenten verursacht, über einer Tasse Kaffee verseufzt waren, stieg man wieder in den Alltagssocken seines gemütlichen Plattdeutsch hinunter. Auch französische Brocken wurden hin und wieder ausgeworfen, und ich weiß, wie ich mich in mir erlächelte, als ich das Wälsche ordentlich zu lernen anfing, wenn ich an das Wun Schur! Wun Schur! (Bon jour) und à la Wundör! (à la bonne heure!), oder an die Fladrun (flacon), wie das gnädige Fräulein B ihre Wasserflasche nannte, zurückdachte, und wie die Jagdjunter[26] und Pächter, wenn sie zu Roß zusammenstießen, sich mit solchen und ähnlichen Floskeln zu begrüßen und vornehm zu bewerfen pflegten.

Ich galt in diesen Tagen für einen treuen, gehorsamen und fleißigen Jungen, aber zugleich für einen ungestümen und trotzigen, für einen solchen, der gern seinen eigenen Weg ging. Mein Bruder Karl war ein leichter, gewandter und liebenswürdiger Wildfang, zu Roß und zu Fuß der Kühnste und Geschwindeste, später im Jünglingsalter so geschwind, daß er im Laufe nie seinesgleichen gefunden hat. Fritz, zwei Jahre jünger als ich, war mild und gleichmütig, ein geistiges Kind und körperlich noch sehr zart. Die anderen waren klein. Ich war zugleich trotziger und blöde als beide und konnte von Fremden ihnen gegenüber daher leicht ins hintere Register gestellt werden.

Große Angst habe ich meinen guten Eltern in Dumsevitz einmal gemacht; in wirklicher Lebensgefahr bin ich dort zweimal gewesen.

Die Angst. Es war einen Abend, einen jener thaulosen Abende, wo man beim Mondschein wohl bis zehn elf Uhr das Korn noch einzufahren pflegt. Die Arbeit war geendet, Menschen und Kreaturen zu Hause, und die meisten auch schon zur Ruhe – siehe! da fehlte, als man die Köpfe überzählte, meine Kleinigkeit. Eine halbe Stunde geduldete man sich meiner Abwesenheit, weil man gewohnt war, daß ich schon in jenem Alter auf eigenen Wegen und Stegen wohl einsam auch im Dunkeln umherstrich; endlich aber ward man unruhig, und als es gegen die Mitternacht ging, stellte sich der ängstliche Gedanke ein, ich möchte in irgend einen Teich gefallen, übergefahren sein, oder gar das Gräßliche, ich sei vielleicht in der Scheune irgendwo im Stroh eingeschlafen und von rasch übergeworfenen Garben zugedeckt und lautlos und klagelos erstickt. Alles lief nun suchend umher. Meiner Base Sophie fiel ein, sie habe mich den vorigen Abend, wo die Binderinnen umweit dem Dorfe[27] Preseke Gerste banden, im Mondschein längs dem Meeresstrande hingehen und dort lange am Ufer sitzen und gegen die pommerschen Gestade und den reizenden Vilm hinschauen sehen; vielleicht sitze ich dort wieder und erlustige Herz und Augen. Da war sie denn hingelaufen und hatte an dem Ufer weithin jeden Dornbusch und Distelbusch durchstöbert, ob ich etwa dahinter versteckt oder eingeschlafen sei. Aber vergebens. Nach langem und vergeblichem Suchen waren aus der liebenden Brust und dem hellen Munde Klagegetön und Weherufe hervorgebrochen und endlich bis zu dem verlorenen Schläfer hingeklungen. Ich war nämlich plötzlich und gespenstisch, durch die Mondscheinnebelgestalten hinstreichend, neben ihr erschienen und hatte ihr bei ihrem Erstaunen einen alten Hagedornbaum, wie sie in Rügen in den Feldern hie und da sehr groß und kraus stehen, gezeigt, wo der müde Junge sich abendlich hingehuckt hatte und eingeschlafen war. Sie riß mich nun mit geschwindesten Schritten zu Hause. Ich langte bald vor dem richterlichen Angesicht der Eltern an, kam aber diesmal, da der Zorn durch die Angst zermalmt war, mit leisen Verweisen davon.

In Lebensgefahr bin ich gewesen: das eine Mal, als ich unter das Eis geraten war, und mein Bruder mich faßte und herausholte; das zweite Mal, als nichts Geringeres als ein Wagenrad mir über den Kopf gelaufen war. Ich hatte mich nämlich auf einem großen vierspännigen Erntewagen ins Feld fahren lassen, war beim Zurückfahren des beladenen Wagens neben dem Knecht auf das Beipferd gestiegen, und bei einem Sprunge desselben herabgefallen – und siehe ein Rad des Wagens war mir hinter dem Ohre so über den Kopf gegangen, daß Haut und Haar blutig abgestreift worden. Doch war dem Knaben der Schädel nicht zerbrochen, sondern er blutete nur tüchtig. Wahrscheinlich hat, wie so oft im Fahren geschieht, das Rad, das mich nicht voll treffen sollte, erst einen Sprung über einen Stein und also halb in der Luft leichthin über meinen Kopf gemacht; [28] sonst bleibt es unbegreiflich. Hier salbte und wusch die gute Tante mich wieder, damit ich nicht anderswo gewaschen würde. Als die Wunde vernarbte, durfte die Begebenheit unschädlich erzählt werden.

Dies waren Unfälle, und dergleichen nebst anderen Nöten mögen wohl mehr über unsere Köpfe hergefahren sein; aber sie sind längst vergessen, und es tauchen aus jener jetzt so fernen Vergangenheit nur Bilder von Freudenerinnerungen auf. Nur eine einzige bittere Erinnerung nahm ich mit, und zwar die Erinnerung der ersten lügenhaften Ungerechtigkeit, die an mir gefrevelt ist, und die auf lange hin einen tiefen Stachel in mir zurückgelassen hat. Denn des Unrechts, das ein lieber freundlicher Vater den Kindern ein paarmal mit dem Stock und der Rute angethan hat, und das nach dem Brauche jener Zeit ein ziemlich allgemeines Unrecht war, will ich nur kurz gedenken. Dieses Unrecht bestand darin, daß der kleine Trotzkopf, wenn er gezüchtigt ward, nicht weinen noch viel weniger für die erlittene Strafe sich bedanken und handküssen wollte; weswegen er in Verhältnis gegen seine thränenreicheren Brüder gewöhnlich die doppelte Bescherung erhielt.

Es war Herbstjahrmarkt zu Gartz. Die ganze Dumsevitzer Familie war bei dem Herrn Magister Stenzler zu Mittag genesen und fand sich nachmittäglich um den Kaffeetisch der alten verwitweten Pastorin Magisterin von Brunst sitzend, deren Mann vorlängst auch Pfarrer des Städtchens Gartz gewesen. Dort in dem vollsten Gewimmel von Damen und Herren, als der Herr Magister mich vorzeigte und als einen fleißigen Schüler lobte, erhob sich aus dem Kreise der Damen eine damals noch junge rosige und mit den schönsten schwarzen Muschen auf den Wangen gezierte und mit Federbüschen und seidenen Bändern den Kopf umflatterte Mamsell, die Schwester der Frau Magisterin Stenzler, Mamsell Dittmar aus Greifswald, und machte gegen mich die förmliche Anklägerin. Der Gegen stand der Anklage war aber folgender: [29] Mein Bruder Karl und ich traten, wenn wir vormittags in die Kirche gingen, häufig in dem Hause des Herrn Magisters ab, wurden auch oft zu Mittag da behalten, um nachmittags in das Katechismusexamen zu gehen, und dann den Rest des Sonntags mit dem Sohn des Hauses, Lorenz Stenzler, und einigen Junkern von Kahlden, welche gewöhnlich auch da waren, zu verspielen. Da ging es denn natürlich in dem Garten des Herrn Magisters, auf dem alten Gartzer Schloßwall der weiland heidnischen Festung Carenza und bis in den Wuld von Rosengarten hinein lustig und wild jugendlich und knabenlich her. Hühnernester und Eier in Scheunen und auf Speichern, Vogelnester in Hecken und Wäldern, Igel und Gewürm unter Sträuchern und Blumen suchen, und was anderer Jungenheit und Knabenheit mehr ist, nebst wilden Sprüngen und Spielen – das alles fehlte natürlich nicht. Nun hatte man aber einige Tage vor dem Jahrmarkt in dem Garten des Herrn Magisters gefunden, daß mehrere hinter einem kleinen Schuppen stehende Mistbeetenfenster zertreten waren, und die Spuren von Knabenfüßen daneben. Davon stand in der Gesellschaft zufällig die Rede, und die rosige schwarzbemuschte Mamsell fuhr heraus: »Wer das gethan hat, ist nicht zweifelhaft, das ist der wilde Monsieur Moritz, der immer wie ein loses Füllen daherspringt und mit so kecken Sprüngen über die Büsche und Blumen wegsetzt.« Mit diesen Worten wiesen ihre Blicke auf mich, so daß ich selbst den Unbekannten in dem Kreise gezeigt ward. Auch meine Eltern schienen der Aussage Glauben beizumessen; nur die Tante Sophie rief eben so zuversichtlich, als die Anklage gesprochen hatte, in die Gesellschaft hinein: »Nein, der Moritz hat es gewiß nicht gethan, der ist wohl wild, aber er pflegt nicht gern etwas zu beschädigen.« Der Moritz aber, der die Glaszerbrecher wohl kannte (Bruder Karl und Herr Lorenz Stenzler waren beim Balgen auf das Mistbeet gefallen) ging wie ein beschneiter Hund von dannen, und machte sich in den Stall zu dem [30] Kutscher, um so unbemerkt und unsichtbar als möglich zur Zeit der Abfahrt zu den übrigen in den Wagen zu steigen. Zu Hause gab es denn des Abends noch eigne Scheltungen und Warnungen, wogegen ich weiter nichts thun konnte, als meine Unschuld beteuren, jedoch ohne die Verbrecher anzugeben.

Dies begab sich, wie ich meine, in dem letzten Jahre unsers Dumsevitzer Lebens und sank tief in mein Herz. Ich weiß, daß ich nimmer ins Hans und in die Gesellschaft zu bringen war, wenn die Frau Magisterin und ihre muschige Schwester uns besuchen kamen, sondern mich so lange zu den Hirten oder in die benachbarten Bauernhäuser, besonders zu meinem Spielgesellen Ludwig Starknois verlief, und mich dort so lange enthielt, bis ich vermutet oder erlauscht hatte, daß die grauenvollen Menschen weg waren. Selbst gegen den verehrten und freundlichen Herrn Magister ward ich etwas scheu, weil ich meinte, er hätte bei der Anklage, die selbst meine gute Eltern verlegen und stutzig machte, meine Verteidigung übernehmen müssen.

So waren hier in Dumsevitz bei Gartz die ersten Knabenjohre verflossen. Im Jahre 1780, wenn ich mich recht erinnere, zog mein Vater von Dumsevitz ab in die südwestliche Ecke der Insel, eine Meile von Stralsund, wenn man das zwischenströmende Meer mitrechnet. Er übernahm zwei sundische Güter, Grabitz und Breesen, nebst zwei Bauerndörfern, Giesendor und Gurvitz, deren Bauern Hofdienst leisteten, oder vielmehr er kaufte sich das noch auf vier Jahre rückständige Pachtrecht derselben mit einer ganz bedeutenden Summe von einem Obersten von Schlagenteufel. Der Vater dieses Obersten war im Munde des Volks fast zu einer mythischen Person geworden. Er war ein Hüter der Schafe gewesen, wie mein Großvater seliger, und es war dem jungen Hirten gelungen, sich eine gute Nacht unter die mondscheinlichen Tänze der Unterirdischen einzuschleichen und einem der kleinen Lilliputter sein unverlierbares Käppchen nebst Glöckchen, [31] woran das Glück ihres Daseins geknüpft ist, zu entreißen. Das hatten die kleinen Leute von ihm mit großen Schätzen wiedergelöst, und dafür hatte er sich das Gut Grabitz gekauft, welches, ich weiß nicht, durch welche Verhandlung, aus seiner Hand in den Besitz des Klosters St. Jürgen vor Rambin gekommen war. Genug, der Schäfer war plötzlich reich und Eigentümer eines hübschen Gutes und endlich Edelmann geworden. Seine Söhne waren in herzoglich braunschweigische Dienste getreten, und mehrere derselben hatten als Offiziere in den brauuschweigischen in Englands Sold gegebenen Regimentern gegen die junge nordamerikanische Freiheit gefochten. Einige von ihnen, worunter auch der Oberst, kauften sich später Rittergüter in Pommern. Mit einem derselben, dem Major von Schlagenteufel, einem sehr würdigen Mann, begegnete mir eine Josephsgeschichte, die mich hätte eitel machen können. Als er aus Amerika zurückkam, besuchte er seine Heimat und auch seine Geburtsstelle Grabitz, und ließ sich meines Vaters Fünfzahl von Buben vorführen. Nach der Musterung griff er mich heraus, und sagte zum Vater: »Wenn Sie mir einen der Jungen schenken wollen, nehme ich diesen.« Neben mir stand mein Fritz, ein ganz anderer Kerl, aber damals kränklich und winterweich; und ich errötete in mir, und fühlte, daß der Herr Major sich vergriffen hatte.

Die Güter Grabitz und Breesen mochten etwa zwölf bis dreizehn Last jährlicher Aussaat haben; das hübsche Dorf Giesendorf stieß dicht an Grabitz. Die Gegend war nicht so romantisch als die um Schoritz und Dumsevitz, welche gleichsam schon die Augrenze der paradiesischen Meerbuchten und Wälder von Putbus sind. Indessen wir waren gottlob wieder ans Meer gekommen, fanden reichliche Obst- und Blumengärten, und auch noch ein paar Wäldchen, die Lau 2 bei Grabitz, den Tannenwald bei Breesen, und den größeren [32] noch näheren Tannenwald an dem Kloster St. Jürgen vor Rambin. Wir hatten die Herrlichkeit des Binnenmeeres fast mächtiger als bei Schoritz und Dumsevitz. Es bildet nämlich das Meer von dem Gellen bei Barhöft 3 und Pron an der pommerschen Küste und von der Insel Hiddensee ab einen drei bis vier Stunden tiefen und drei bis eine Stunde breiten Busen, wohinein die Ostsee bei Nord- und Nordoststürmen gewaltig zurückschlagend strömt. Unser Grabitz lag auf einer kleinen Erhöhung an fetten weitgestreckten Wiesen und Weiden, die längs einem halben Dutzend Höfen und Dörfern weit am Strande hinlaufen. Wir hatten bei mächtigen Stürmen die schauerliche Freude, daß sich die Wogen etwa fünfzig Schritt von unserem Hofe heranwälzten. Alle Wiesen waren dann ein einziger unendlicher See, und welche Wonne, wenn solches im Dezember oder im Januar geschah und ein geschwinder Frost die Wasser in metallfestes und metallspiegeliges Eis verwandelte!

Hier ging das Leben und die Weise, wie es mit uns und unserer Erziehung und Unterweisung gehalten ward, im ganzen so ziemlich nach dem Dumsevitzer Zuschnitt fort; nur daß wir endlich in eine ordentliche Schule eingesperrt wurden. Es kam ein Hauslehrer, wahrscheinlich ein sehr wohlfeiler, weil kein teurer bezahlt werden konnte, oder weil wir für einen solchen noch zu jung zu sein schienen. Dieser, Herr Gottlob Heinrich Müller, hatte schon zehn Jahre und länger sogar die Söhne von Edelleuten und reichen Eigentümern unterrichtet; wie sollte er denn für die Knaben eines armen Pächters nicht gut genug sein? Herr Müller war ein Sachse, aus dem Städtchen Chemnitz, hatte dort die Schule bis an den Studenten hinauf besucht, war aber nicht Student, sondern im siebenjährigen Kriege Soldat geworden. Ich glaube, er hat erzählt, die Preußen haben ihn zum Soldaten [33] gepreßt, darauf die Schweden ihn gefangen, als schwedischer Unteroffizier hatte er sich endlich zur Ruhe gesetzt und für den Korporalstock die Fasces des Orbilius ergriffen. Es war ein kleiner vierschrötiger Mann mit einem runden breiten Kopfe und buschigen weißen Brauen, unter welchen ein paar blitzende blaue Augen hervorfunkelten; trug immerfort Kamaschen, einen dickbepuderten mit zwei großen Locken gezierten und mit einem ellenlangen dünnen Haarzopf behangenen Kopf, und führte, wenn er spazieren ging, ein langes spanisches Riet in der Hand; seine Bewegungen waren scharf und eckig, wie auf dem Paradeplatz, seine Haltung strack, seine Stimme hell, sein Blick funklig, sein ganzes Wesen Christlichkeit, Redlichkeit und Zorn. Er unterrichtete uns und die sehr hübsche und schelmische Tochter eines Nachbarn, des Herrn Lange, welche später an einen Pastor verheiratet worden, im Schreiben, Rechnen, Christentum und etwas Geschichte und Erdkunde und einem bißchen Latein. Ich sage ein bißchen, denn er selbst wußte von allem kaum ein bißchen mehr. Das Faeit war, wir lernten in den zwei Jahren, die der gute soldatische alte Mann bei uns war, fast wenig zu, wenn es nicht ein Vorteil war, daß das Sitzfleisch mit einiger Regelmäßigkeit eingeübt ward, und daß er mit seinem echt sächsischen eifrigen Luthertum und durch Gesang und Katechismus das äußerliche Christentum in uns fester machte. Er war ein echter Sachse, wie ich sie im Erzgebirge und Voigtlande später habe kennen lernen, ein ebenso redlicher und gutmütiger als auflodernder und zornmütiger Mann, hatte dabei seinen alten Unteroffiziers- oder Lehrerstolz, der das Pächtergeschmeiß – wie er uns freilich leise gelegentlich merken ließ – und besonders den ungehobelten Pöbel der Bauern und Tagelöhner tief verachtete. Hier ein paar Anekdoten von seiner Art, welche uns, seine Schüler, noch zwanzig und dreißig Jahre nach seinem Grabe bei ähnlichen Gelegenheiten oft ergötzt haben:

In Grabitz stand ein altes ungeheuer großes, aber[34] schlechtes und gichtbrüchiges Haus, worin die starke Familie und das nicht kleine Gesinde des Pächters sich notdürftig behalf. In dem kleineren und jüngeren Backhause stießen einige Zimmer an den schönen Baumgarten, wohin Herrn Müllers Wohnung und Schule verlegt ward, welche auch künftig ihren Sitz dort behielt. Vorn am Eingange in diesem Backhause hatte aber in einem Kämmerchen ein kleines zierliches Knechtchen meines Vaters seinen Sitz, welches wegen seiner abenteuerlichen und bajazzischen Streiche, Schnurren und Einfälle Jahre lang auf dem Hofe gehegt und etwas verhätschelt war. Dieses Kerlchen war wegen seiner Gewandtheit und Behendigkeit und wegen allerlei flinker und lustiger Ausrichtungen und Anstellungen, womit es die Einförmigkeit unseres stillen Landlebens durchschnitt, bei den Frauen und Kindern, welchen er zu allen Späßen, Spielen und Diensten bei Tag und bei Nacht immer fertig war, besonders gut angeschrieben. Dieses muntere Männchen, das als Knecht mit Knochenarbeit wenig bezahlen konnte, hieß Papier, und ward nur das Papierchen, von Herrn Müller das Babierchen oder verächtlich gar das Babierschnitzelchen genannt. Da er in laufenden Bestellungen nach Rambin und der Alten Fähre viel gebraucht ward, so mußte er oft auch den Müllerschen Läufer machen. Dieser hatte dem kleinen Menschen, da er sich über eine mitternächtliche Sendung durch Eis und Schnee beklagt hatte, einst mit seinem langen Rohr dräuend zugerufen: »Wie der Mann ist, brät man ihm die Wurst.« Das Babierchen hatte dies Wort aufgegriffen und unter dem Gesinde verbreitet, bei welchem Herr Müller hinfort nur der Wurstbrater hieß, ein Ökelname 4, den auch seine Schüler in ihrer Unart leider zuweilen gebrauchten.

[35] Unter seinen Schülern kam ich, als der in seinem Trotze oder vielmehr wegen seines Trotzes Gehorsame, wohl am besten weg; der leichte bewegliche Karl und die schöne, unruhige und lebhafte Katharina Langen wohl am schlimmsten; Fritz im mittlern Maße, welchem er doch einmal in Beziehung auf seinen herrlichen Kopf im Zorne zugeschrieen hatte: »Frütreich, aus dir will ich einen Kerl machen, aber Briegel mußt du haben;« welches Wort begreiflicherweise auch ein Sprichwort unter uns ward.

Das Schwerste und Mißlichste für die Schüler war die Gesangstunde, welche des Morgens als Schulanfang gehalten ward. Der Alte sang mit desperat heftiger und kreischender Stimme, und es war selbst der Furcht oft unmöglich, sich eines verstohlnen Kicherns zu erwehren. Da ward denn nach der guten alten christlichen Weise mitten im Singen drunter gehauen, daß die Späne flogen, jedoch ohne daß der Gesang dadurch im mindesten aufgehalten wäre. Am gefährlichsten aber ward es, wann der Alte von den Seinigen Besuch bekam. Er hatte nämlich in Stralsund eine verheiratete Tochter, bei welcher seine Frau wohnte, und seinen Sohn, einen jungen Bäcker. Die kamen denn zuweilen Samstags oder Sonntags zu uns übers Wasser und blieben die Nacht und hielten Montags früh vor dem Frühstück und der Abreise gewöhnlich noch den Morgengesang mit uns. Ich weiß nicht, ob die alte Frau, sonst gar ein bescheidenes freundliches Mütterchen, von ihm eingesungen war, aber sie hatte seine helle durchgellende und durchquickende Manier, so daß sie gewöhnlich den ganzen Gesang in Verwirrung brachte; wobei er denn doch mit großer Mäßigung des Zorns nur mit den Worten drein sprach: »Mutter, du mußt Don halten;« was auch als Scherzwort noch lange durch die Münde laufen sollte.

Ich war indessen vierzehn Jahr und mein Bruder Fritz zwölf Jahr alt geworden, Karl war wieder nach Stralsund in die Schule geschickt. Herr Müller ward verabschiedet, [36] und Herr Gottfried Dankwardt, Kandidat der Theologie, nahm seine Stelle ein. Zu dieser Veränderung hatten die Freunde meines Vaters, die Herren Stenzler und Krüger, und die Vorstellungen meiner Mutter den Anstoß gegeben. Dieser Herr Dankwardt war der Sohn eines Arztes aus der Stadt Barth in Pommern, damals etwa ein Fünfundzwanzigjähriger, ein kleiner, blonder, fröhlicher und beweglicher Mann, in seinem innersten Wesen voll Freundlichkeit und Frömmigkeit, obgleich von dem Geniewesen der Sturm- und Drangperiode, welche in jenen Tagen von 1770 bis 1785 herrschte, stark angeweht und durchgeweht. Dies gab ihm manche Wunderlichkeiten und Schnurrigkeiten, welche wir Jungen wenig gewahrten, woran sich aber Mutter und Tante anfangs oft sehr stießen. Der Vater aber, der einen tiefen Sinn für alles Rechtschaffene hatte, nahm sich des Herrn Dankwardt treulich an, und stellte ihn bald im Hause in das rechte Verhältnis.

Dieser gute und liebe Mann ist drei Jahre unter uns geblieben und hat sein Leben und Wissen in Liebe und Treue mit uns geteilt. Es war ein redliches Herz, ein guter Kopf, ein leidlicher Lateiner, mittelmäßiger Franzos, ein bißchen Engländer, Grieche fast gar nicht, indem das Griechische in jenen Tagen bei den Prüfungen der Kandidaten des Predigtamts nicht einmal gefordert ward. Dieses und das andere Gewöhnliche, was Hauslehrer alles lehren sollen und zu lehren pflegen, hat er mir und meinem Bruder Fritz nach Vermögen mitgeteilt, und wir haben daher sein Andenken in Ehren gehalten, wie er denn auch, so lange mein Vater lebte, als er Pastor zu Bodenstede bei Barth und auf der Halbinsel Dars war, immer desselben lieber und willkommener Hausfreund geblieben ist. Er war nicht nur ein guter frommer Lehrer und ein treuer frommer Pastor, wie man die Worte im gewöhnlichen leichten Sinn ausspricht, sondern seinem innersten Wesen nach ein tapferer und begeisterter Kernmensch, in dessen kleinem zarten Bau eine mächtige Seele [37] hauste. Da er während der über mich verhängten Untersuchung wegen einiger bei mir gefundener und beschlagener Briefe A4 aus den Jahren 1810 und 1811, worin er sich über den damals blühenden und glühenden spanischen Aufruhr nach seiner Weise ausgesprochen hatte, auch von Staats- und Gerichtswegen befragt worden ist, und ich dem Ehrenmann Mühe im Alter gemacht habe, da er mir in meiner Jugend keine gemacht hatte, so muß ich von diesem seinem tüchtigen Menschenkern seinem teuren Andenken zu Ehren hier ein Beispiel überliefern, das er selbst in ungeheurer Zeit gegeben hat.

Als im Winter 1807 der französische General Mortier Stralsund berannt hatte A5, waren rings in die Dörfer an den pommerschen Küsten französische Wachposten gelegt; so auch in dem Kirchdorfe Bodenstede unweit Barth dem Dars gegenüber. Diese hatten angefangen nach welscher Weise mit den Weibern und Töchtern Überspiel zu versuchen. Das konnten diese Dörfler nicht leiden, Männer an die mächtigsten Gefahren und gelegentlich auch an Pulver und Blei gewöhnt 5. Sie scharten sich im gerechten Zorn, die Franzosen erschraken vor ihrer Zahl und Rüstigkeit, wurden entwaffnet, gebunden, eingeschifft, und etwa fünfzig Mann stark nach Stralsund an die Schweden als Gefangene abgeliefert. [38] Das war eine kurze Freude. Die That erscholl in dem französischen Lager, und ein Kommando von mehreren hundert Mann ward abgesandt, das Dorf zu bestrafen. Der Schulze und mehrere Älteste von Bodenstede wurden gefesselt und sollten erschossen, das Dorf sollte geplündert, angezündet und abgebrannt werden. In dieser großen Not, als die Gefesselten den sicheren Tod erwarteten, trat der kleine Herr Pastor vor und redete den welschen Befehler mit den kühnen Worten an: »Mein Herr, Sie haben die Unschuldigen ergriffen, ich bitte, lassen Sie diese Männer los, die sind die Unschuldigen und Verführten; hier haben Sie den Verbrecher, mich nehmen Sie, mich erschießen Sie, wenn Gott es Ihnen erlaubt, mein Haus verwüsten und verbrennen Sie, ich bin der Verführer, der einzige Schuldige. Ich habe diesen armen Bauern gepredigt, daß sie bis auf den letzten Mann für ihren König stehen und den Feinden des Vaterlandes Abbruch thun müßten.« Diese Worte, aus kühnem und tapferm Herzen gesprochen, rührten den Welschen; er ließ die Gefangenen losbinden, legte ihnen eine leidliche Geldstrafe für seine Truppen auf und ließ zum Zeichen, daß er die befohlene Abbrennung des Dorfs ausgeführt habe, einige elende leere Hütten außerhalb des Dorfs, wo die Fischer ihre Heringe zu räuchern pflegten, niederbrennen. Diese That des Pfarrers war groß, größer die des edlen Welschen, der seinen bösen Mut bezwang. Warum habe ich seinen Namen nicht erfahren können?

Mit Herrn Dankwardt begann nun ein neuer Abschnitt in dem Leben der Jungen und eine Art der Schule und des Umgangs, wie solcher, die da vorhaben Bücherleser oder Studenten zu werden, welche der Schwede nach der Hauptegenschast, wodurch sie sich auszeichnen sollen, Lesekerle nennt. Es gab der Kandidaten in der Nachbarschaft mehrere, welche zusammen wöchentlich etwas einem Klub Ähnliches hielten, wo sie sich besprachen und auch ihre Lesebuben zusammenführten. Auch ließen sie und die Prediger der Insel [39] in einer recht ansehnlichen Lesegesellschaft alles Neueste der schönen und leichten Litteratur rundlaufen, wovon natürlich auch uns und unserem Hause sein Teil zu Gute kam. Von den Knaben, welche durch diesen Kandidatenklub zusammengeführt wurden, waren unser nächster Nachbar Gottlieb von Kathen, A6 ferner Buslaf von Platen und Christoph von Schmiterlöw die gewöhnlichsten Spielgesellen. Dieser Christoph war der allgemeine Spaßhammel. Er hieß nur der lange Stoffel, zuletzt gar der Löwe in der Wüste; denn der Herr Kosegarten hatte seine schöne Tante besungen und in sein Gedicht ein Abenteuer von einem Ritter Schmiterlöw eingewoben, der vor tausend Jahren weiland in den Kreuzzügen den Löwen in der Wüste erschlagen. Das ward ein Stichwort gegen unseren langen Helden, der es im preußischen Dienst doch bis zum Obersten eines Dragonerregiments gebracht hat, und wann wir uns diesen damals noch sehr ungeleckten und ungelenken Löwen zuwarfen, klang es: »Smit den Löwen her!« (Wirf den Löwen her!) Die sehr langen und tapferen Smiterlöwen – denn sie galten alle für Eisenfresser – waren übrigens vor etwas über hundert Jahren noch nichts als gute Kaufherren und Ratsherren in Stralend: auch schon Würdigkeit, denn ein Ratsmann in dieser Hauptstadt des Landes Rügen galt schon längst einem Ritter ebenbürtig.

Von den Kandidaten waren Herr Theobul Kosegarten, A7 Lehrer zu Götemitz, und Herr Nestius, Neffe des berühmten und gelehrten Propstes Pistorius zu Poseritz, wohl die ausgezeichnetsten. Darunter fuhr öfter von Greifswald herüberbrausend der wilde Johann Hagemeister, ein stürmischer genialischer Jüngling, der aber später ein schönes Talent liederlich versaust und verbraust hat. Dieser und der überfliegende Kosegarten zündeten manches an und erregten das Leben, das aber bald wieder in stilleren Wellen hinfloß: denn der Vater hieß Zucht und Ordnung und die Mutter Besonnenheit und Klarheit; das enge Gefäß des Vermögens [40] ließ auch keinen weiten und brausenden Wellenschlag zu.

Außer diesen mit Herrn Dankwardt verkehrenden und wechselnden Jünglingen kamen uns die alten Hausfreunde nicht abhanden. Herr Magister Stenzler und Pastor Krüger sprachen häufig bei uns ein, und machten bei ihren Stralsundsfahrten gewöhnlich eine kleine Ausbeugung von der Landstraße nach Grabitz, wo sie mit den Ihrigen eine Nacht oder zwei schliefen. Auch sie trugen uns manche gute Bücher und Anweisungen ins Haus. Dies konnte besonders von Stenzler gelten, der nicht bloß ein vortrefflicher Prediger, sondern auch ein bedeutender Gelehrter war und eine ausgesuchte Bücherei hatte. Die Häuser dieser geistlichen Herren, sowie das unseres Ohms Moritz Schumacher zu Silmnitz, dann zu Rentz bei Garz, und des Pächters Dalmer zu Schoritz wurden in der guten Jahreszeit von unserem Herrn Kandidaten und uns auch recht fleißig besucht. Gewöhnlich ging die Karawane den Sonnabend Mittag aus und kam Montag Nacht wieder heim. Es waren aber nur Spaziergänge von zwei, drei Stunden.

Außer diesen Freunden waren in Stralsund Verwandte, Bekannte und Geld- und Geschäftsfreunde des Vaters, die bei der Nähe von Grabitz, welches zur Alten Fähre nur eine Stunde hat, die Samstage und Sonntage fleißig zu uns herauspilgerten. Sie brochten gewöhnlich Wein oder die Zuthaten zum Punsch mit. Unser Federhof lieferte Gänse, Schrulhähne, Enten, Hühner und Tauben, und das gute Gewehr meines Vaters Hafen, Rebhühner, wilde Enten und die herrlichsten Schnepfen, wovon der Strand und seine weiten Wiesen wimmelten, in großer Menge. Es war damals überhaupt eine große, allgemeine Gastlichkeit auf der Insel, die zum Teil wohl noch besteht, obgleich die Seebäder und ein wimmelnder Anzug und Durchflug von reisenden Pilgern da wohl etwas Eintrag gethan haben mögen. Es ging ungefähr her wie in den Tagen des berühmten Gelehrten [41] und Grobians Samuel Johnson A8, als er mit seinem Amanuensis Bothwell Nordschottland und sein westliches Inselmeer bereiste und bei Landedelleuten, Pächtern und Pfarrern die Freude der Trinkhörner und Muscheln in Bewegung setzte. Man fuhr, wenn der fröhliche gesellschaftliche Trieb aufstieg, unangemeldet zu den Nachbarn oder Freunden; mochte man zu Fünfen oder zu Fünfzehn kommen, man kam willkommen. Umstände wurden nicht viel gemacht; Fische, Gefieder, Geräuchertes und Gesalzenes fehlten fast nirgends; Zucker, Kaffee, Thee waren in dem fast gar nicht bezollten Lande sehr wohlfeil; Bier und Branntwein fehlten nimmer, selten auch ein Glas Wein; immer aber war die ungeschminkte Gastlichkeit und Herzigkeit da. Dies war etwas so Abgemachtes, daß, wenn z.B. ein oder zwei wohlgepackte Wagen eben angeschirrt standen und abfahren wollten, und dann etwa ein dritter Wagen vorfuhr, der die Abfahrenden besuchen wollte, man diesen flugs wieder umwenden und mit zu denen, welche man besuchen wollte, fortrollen hieß. Auch für die Nacht, wann schlechte Wege oder böses Wetter die Heimfahrt nicht erlaubten, war in den meisten Häusern durch die Menge der reichlich gefüllten Federbetten gesorgt. Unsre fundischen Freunde brachten denn auch ihre Jugend mit, unter welchen wir mehrere treue Kameraden gewannen, welche uns neue Spiele und Künste zubrachten, besonders mehrere Arten Ballspiel und die Luft des Schiffbauens und Segelns auf unsern vielen Teichen, und für die Spiegeleisbahn des Winters den Schrittschuhlauf, wie für den Sommer die Freude des Vogelschießens. Für diese der großen Hauptstadt nachgemachte Sommerlust ward auf dem kleinen Tannenberg auf unsrer Weide hart bei Giesendorf, der Bakenberg zugenannt, eine mächtige Stange mit einem Vogel aufgerichtet, nach welchem wir oft zwei, drei Tage so lange mit Flitzbögen und Bolzen schossen, bis das letzte heruntergeschossene Stück einen der Schar zum König machte. Das gab dann, gewöhnlich in der Pfingstwoche, eine große Festlichkeit. [42] Es ward ganz nach sundischer Weise mit großer Feierlichkeit unter dem Klang von Pfeifen und Hörnern vom Hofe ausmarschiert, einige mit Maien und Kränzen geschmückte Zelte waren aufgeschlagen, worin Butterbrot, Kuchen und Punsch gereicht ward und wozu in der Regel die Menge Junge und Alte unsrer sundischen Freunde und der Nachbarn geladen wurden.

Diese Luft erinnert mich einer bösen Unlust, die ich erzählen muß, und die wahrscheinlich in eines der letzten Jahre unsers Grabitzer Lebens fällt. Bruder Fritz und ich hatten zu der Schützenfeierlichkeit als Einladungsprogramm jeder sein Gedicht gemacht. Diese wurden vorgelesen und des Fritzens Worte gewannen als die wirklich lustigen und witzigen bei der zuhörenden Versammlung einen glänzenden Sieg, meine hochtönenden und bombastischen aber fanden keinen Anklang. Hier faßte mich der böse Neidteufel, und da der Fritz mir eben mit etwas in den Weg trat, rügte ich es derber, als recht war und zwar mit dem beschämenden Gefühl des Neides.

Jetzt muß ich endlich einer Stelle ganz besonders erwähnen, wohin von mir wenigstens selbst bis in die späteren Jahre, wo ich schon zwischen den Dreißigen und Vierzigen schwebte, wie zu einem festlichen Orte zu Fuß, Roß und Wagen viel gewallfahrtet worden ist. Diese Stelle heißt Posewald, eine kleine Stunde von Putbus, und ein zu Putbus gehörendes Gut. Dort wohnte der Patriarch unserer Familie, der alte Hinrich Arndt. Zu diesem, meines Vaters treuestem Bruder und Freund, ward gewöhnlich im Herbst und Winter, oft auf mehrere Wochen, gezogen, zur Zeit, wo Äpfel, Birnen und Nüsse reisten, wo die Bienenstöcke abgestoßen wurden, und wann die Jagd begann. Der alte Graf Malte ließ nämlich seine Pächter ohne Umstände die kleine Jagd treiben; nur die Pürsch der Hirsche hatte er sich vorbehalten. Der alte Ohm aber und mein Vater, eigentlich alle Vaterbrüder, waren gewaltige Nimrode vor dem Herrn, [43] und hielten sich die vorzüglichsten Flinten und Jagd- und Hühnerhunde; mein Vater war vielleicht der Meister von allen, und nicht leicht flog eine Schnepfe unbestraft vor seinem Rohr vorüber. Wie oft bin ich am Strande auf der Jagd gegen dieses Geflügel oder auf der Abendblinke gegen die wilden Enten, oder auf den Brachfeldern gegen die Myriaden Brachvögel als Diener mit ihm gegangen und habe mit dem herabfallenden Gevögel die Waidtasche füllen müssen! Wenn sie nun hier in den waldreichen und buschreichen Revieren von Posewald, Nadelitz und Süllitz, welche Güter mein alter Ohm als Pächter innehatte, mit ihren Hunden streiften, so ward ich gewöhnlich aufs Pferd gesetzt und zu beiden Seiten wurden Bänder an den Sattel gebunden, woran die armen Hafen und der Familie von Malepart geschwind abgestreifte Bälge aufgeknüpft wurden. Das mußte dann von Morgen bis Abend, oft durch Sturm, Regen und Schneegestöber, so fortgehen – denn die Männer waren damals noch in einem rüstigen waidlichen Alter – und ich durfte nicht mucksen, wie ich vor Nässe und Kälte innerlich auch oft schaudern mochte. Auch muckste ich nicht: denn es gab dabei so viele Abenteuer, und der alte Hinrich war ein so poetischer und romantischer Mensch, daß ich doch immer meine Ausbeute dabei fand.

Ich nenne den alten wackern Bauren poetisch und romantisch, und sollte eigentlich dieses Ländchen Putbus so nennen, welches mit seinen Hügeln, Wäldern, Hünengräbern, Grab- und Opfersteinen, Küsten, Inseln und Halbinseln selbst ganz eine Romanze und ein Gedicht ist. Der alte Hinrich, nichts weiter als ein etwas verfeinerter Bauer, war nur ein Bild davon, oder vielmehr, er bildete es in Sitte und Gespräch ab. Es war ein schöner Mann, von mittlerem Wuchs, einem edlen Gesicht, blondem Haar und blauen Augen, fast immer fröhlich und heiter und gleich einem, der von Sorgen und sorglichen Dingen nichts weiß. Er war weniger gebildet als mein Vater, hatte aber doch [44] einen schönen Naturgeist, und eben deswegen gar kein Bedürfnis künstlicher Vergnügungen. So spielte er zum Beispiel wohl die Geige, aber nie die Karten, und saß, wann er seine Feldarbeiten übersehen und besorgt, oder sich auf der Jagd ermüdet und der Gaben Gottes, die auf seinem Tisch immer in der reichsten Fülle aufgetragen wurden, mit uns genossen hatte, abendlich und mittäglich vor dem Thore seines Hofes auf breiten Steinen und hatte es dann gern, wenn man sich da zu ihm setzte und sich die Märchen und Abenteuer der Gegend, den Sprung des nordischen Helden Olaf Tryggveson ins Meer 6 A9 – da, wo der Kirchturm von Wusterhusen ragt, ist ein König mit der goldnen Krone ins Meer gesprungen: noch blinkt sein Kopf mit der goldnen Krone in der Johannismitternacht hervor – und die Geschichten der Schlachtfelder dieser Küsten, wo Karl der Zwölfte und der alte Dessauer miteinander gerungen hatten A10, von ihm erzählen und die Kanonenkugeln herbeitragen ließ, die seine Leute aus den Feldern um Nadelitz ausgepflügt und aus den Gräben und Teichen ausgegraben hatten. Denn der gute Alte erzählte gern und lebendig und ließ sich gern erzählen, wußte mancherlei von rügenschen und schwedischen Begebenheiten, und hatte sich aus manchen alten Chroniken, die auf seinem Kannbrett lagen, auch für die allgemeine und deutsche Geschichte manches herausgelesen. Das Veste aber [45] war der Mann selbst, den man sich aus seinen Worten und Thaten mit Freuden herauslesen konnte. Er war immer herzig und beherzt und quoll aus dem Kreise seines beschränkten Lebens immer von Scherzen und Schwänken über. Keine Luft und kein Spaß war ihm zu lustig, nur unsittlich durften sie nicht sein, und er pflegte gern den Spruch zu führen – ich weiß nicht, woher er ihn hatte –: »Doktor Luther hat gesagt, wenn Gott keinen Spaß verstünde, möchte ich nicht im Himmel sein.« Ich nenne ihn den Patriarchen: das war der glücklich geborene Mensch wirklich; redlich, frei, tapfer und hilfreich, wann und wo er konnte, ließ er im Glauben an Gott und seine Weltregierung Unglück und Trübsal meistens still und leicht neben und unter sich hingehen und richtete sich am Sonnenschein des Lebens bald wieder auf. Mein Vater, ein Mensch mit leicht beweglichem und reizbarem Gefühl, war ihm sehr unähnlich, auch körperlich, ein großer, starker, brauner Mann; weil sie aber mit ihren Verschiedenheiten einander ergänzten, hatten sie sich nur um so lieber. Als der Älteste des Hauses und als geborner Patriarch, hatte er nicht allein unter seinen Verwandten großes Ansehen, sondern genoß auch unter allen Nachbarn einer großen Achtung, und hieß nur Vater Arndt, duldete auch von seinem Gesinde keinen andern Namen. Das Wort Herr war ihm verhaßt, wenn jemand ihm damit aufwarten wollte; er meinte, nur sein Graf Putbus sei ein Herr – und er hatte wohl nicht unrecht. Kraft dieser Würde anerkannter Vaterschaft durfte er auch manches, was man von andern Männern nicht mit gleicher Geduld hingenommen hätte. Mir gab er, als ich schon im Jünglingsalter stand, weil ich über den König von Schweden ein mißfälliges Wort gesprochen, eine klingende Schelle mit den Worten: »Junge, sollst du so von unserm König sprechen?« Einen andern Verwandten, welchem seine Frau Zwillinge in die Wiege gelegt hatte und welcher über diesen Segen Gottes die Hände zusammenschlug, warnte und schalt er mit [46] den Worten: »Du feiger Mensch! meinst du nicht, daß Gott wird erhalten können, was er geboren werden läßt?« So blieb er bis ans Ende. Ich und meine Brüder besuchten ihn ein halbes Jahr vor seinem Tode (er starb im Winter 1811). Der Greis, in den Achtzigen, saß mit seinem alten Mütterchen schon zusammengefallen in seinem Stübchen, aber die alte Lebensflamme zuckte bei unserm Anblick frisch auf. Er setzte sich mit uns zu Tisch und ließ Wein auftragen und ward fast beredt wie in längst verschienenen Tagen und sagte beim Abschied ganz beherzt: »Kinder, ihr werdet mich bald in die Erde legen; dann sollt ihr recht fröhlich sein und von diesem Wein trinken: denn ich habe mit Gott mein Lebenlang ein frohes Leben geführt.«

Dies war der Patriarch. Noch saß in einem stillen Stübchen eine liebende und freundlich lächelnde Parze am Spinnrocken, des Patriarchen Mutter und meines Vaters Mutter, deren alte Tage der treue und fromme Sohn mit der größten und zärtlichsten Sorge und Liebe gehegt und gepflegt hat. Das war das Bild einer schönen und stattlichen Alten, das Angesicht meines Vaters, bräunlich und schön wie König David weiland, auch sie immer herzig und wohlgemut; hat 96 Jahr auf Erden gelebt und mit ihren Küssen manchen Segen auf meine Wangen und mein Haupt gedrückt.

Nun müssen auch ihre andern Söhne heran, die ich in jenen meinen Jugendtagen und später hier und dort und in der Gegend gesehen habe, auch diese alle durch Stärke und Reisigkeit berühmt und in ihren jungen Jahren auch durch heftige und armbrechende Geschichten, weswegen in der Umgegend wohl von demstarken heißen Arndtsblut die Rede ging. Es schien der Ahn, der alte schwedische Unteroffizier, in dem Geschlecht lange vorhalten zu wollen, und dies Blut soll auch in dem jüngeren Stamm der Söhne und Enkel hin und wieder etwas heiß hervorgequollen sein. Da war der eine Holländer (Kuhpächter) zu Darsband, [47] früher gestorben, dessen ich mich nur dunkel aus meiner Kindheit erinnere; ein anderer, Johann Arndt, Putbusser Förster in der Granitz, von Gesicht und Wuchs dem Hinrich ähnlich, aber milderen und weicheren Gemüts, auch ein rüstiger Jäger, Vogelsteller und Fischer, mit einer sehr geschickten Hand, sodaß er allerlei künstliche Arbeit weben und schneiden konnte. Dieser hatte in der alten Schwedenstärke alle seine Brüder übertroffen, so daß ihn in seinem jugendkräftigen Alter auch ein mächtiger Ringer nicht hatte aus der Stelle rücken können. Endlich die beiden Jüngsten, Jochim und Christian, Zwillinge, die auf meinen Vater gefolgt waren. Der Jochim war auch ein kleiner Pächter, nicht hoch von Wuchs, aber sehr gewandt und lebensrüstig, auch voll angeborner Schneidigkeit und Kräftigkeit, ein Sorgenlos und Sausewind, wie ich keinen andern gekannt habe; aber das galt nur für seine Feierstunden: denn er war in seinen Arbeiten ein sehr ordentlicher verständiger Mann. Diesen habe ich erst später kennen und erkennen gelernt. Er war sein und hübsch von Gebärde, mit leuchtenden Augen und festestem Blick, von der Art, die auch der Teufel nicht aus der Fassung bringen möchte. Mehr Verstand, klares Urteil und heiteres Wesen habe ich in wenigen Menschen gesehen; daher war er bei all seiner windigen und gutmütigen Lustigkeit zuweilen scharf, indem ihm die meisten Menschen wie Dummköpfe oder Träumer erschienen. Er war in den Jahren von 1804 bis 1812, wo ich wenigstens wechselnd mich in der Heimat aufhielt, viel in meinem väterlichen und in den brüderlichen Häusern, und da habe ich in manche Nacht tief hinein mit ihm gesessen, gespielt und geplaudert. Denn das bedurfte er. Wann die Zeit lam, wo die andern Menschenkinder schlafen gehen, dann bat er noch gern ein paar Gesellen, drei, vier Stunden in Karten oder Gespräch mit ihm durchzuspielen und ihm über die Nacht hinzuhelfen. Denn in ihm zeigte sich die eigentümliche Erscheinung, daß er in Verhältnis zu [48] andern Sterblichen kaum die Hälfte der Stunden zum Schlaf bedurfte. Obgleich er in seiner Jugend ein sehr arbeitender Mann gewesen, so genügten dem sechzigjährigen Manne doch zwei, drei Stunden dazu. Dies war eine Naturbesonderheit, die sich darin offenbarte, daß ihm zwischen elf und zwölf Uhr, wann es gegen die Mitternacht ging, das starke Haupthaar wie im Schweiß gebadet ordentlich zu rauchen begann.

Der Nebenhäusler dieses Jochim, der Christian, war in seiner Jugend als ein wilder und freudiger Gesell davongegangen und von dem berühmten preußischen Dragonerregiment Anspach und Baireuth eingefangen worden, worin er es bis zum Wachtmeister gebracht. Auch er lebte als ein Ab- und Überständiger in seinen späteren Jahren in dem Hause des Posewalder Patriarchen, hoch und schlank, ein Zwölfzoller, und auch von ungewöhnlicher Stärke, noch mit den Spuren ehemaliger Schönheit. Er gehörte mit zur Poesie dieses Hauses, indem der alte freundliche und sanfte Mensch unerschöpflich war, aus den Kreisen seines Lebens allerlei soldatische und volkliche Geschichten und Märchen zu erzählen; aber sein vorzüglichster Zauber für uns bestand in seiner schönen klangreichen Stimme, mit welcher er eine Menge lustiger Volks-, Jäger- und Soldatenlieder abzusingen wußte. Er war nach dem siebenjährigen Kriege Dragoner geworden und hatte unter dem großen Könige nur den bayrischen Erbfolgekrieg oder den sogenannten Kartoffelkrieg mitgemacht. Von dem alten König Fritz erzählte er mit Wohlgefallen zwei ihm begegnete Geschichten.

Nachdem er ihn bei der Musterung des Regiments das erste Mal nach seiner Heimat gefragt und erfahren hatte, er sei aus Rügen aus der Grafschaft Putbus, hatte er ihn die ersten Jahre bei der Heerschau freundlich auf die Wangen geklopft und gerufen: »Ach! der schöne Putbusser!«

Im bayrischen Erbfolgekriege hatte der König, die Vorposten durchreitend, von den östreichischen Plänklern der Kundschaftung der Stellungen wegen irgend einen Gefangenen [49] gewünscht; aber man hatte keinen östreichischen Husaren auf flinkem Pferde erjagen können. Da ließ der preußische Oberst, der die Vorposten befehligte, eine Büchse holen und rief den Dragoner Arndt, einen ihm als wohl zielender Jäger bekannten Schützen, heraus. Dieser sprang vom Pferde, lud die Büchse, sah den König an, und sprach: »Aber nur das Pferd, Ew. Majestät,« und mit den Worten stürzte ein Husarenschimmel, der Arndt geschwind auf sein Roß, den laufenden Husaren eingeholt und zum König gebracht. Der König drückte ihm zwei Goldfritzen in die Hand, mit den Worten: »Brav, mein Sohn! Nicht unnütz einen Menschen erschießen.«

Auch gebe ich von seinen Soldatenliedern hier ein recht charakteristisches, und wünschte nur, ich könnte gleich die Musik dabei setzen. Hier ist es:


In Böhmerland bei Prag

Da hat der König von Preußen

Getanzet mit der Königin

Von Ungern und von Böhmerland

Gar lustig wohl auf dem Plan.


Sie tanzeten so vortrefflich herum,

Daß ihnen das Gehirn im Kopf war dum,

Ein solcher Tanz kostet Mut –

Doch wenn ich's wiederum recht bedenk,

So thut es mich von Herzen kränk'n:

Meine Kameraden liegen in dem Blut.

Da heißt es nicht: Bruder, komm' herein!

Hier ist gutes Bier, hier ist guter Wein.

Nein, da kostet es Fleisch und Blut.


Potztausend! ei! ei! ei! ei! ei!

Eins hätt' ich bald vergessen:

Die Herren Sachsen waren auch mit dabei;

Sie machten ja solche weite Schritt,

Daß der Zehnte nicht konnte halten das Glied –

Da war der Tanz vorbei.


Ich sah aber in meiner Jugend nicht bloß das alte heiße Arndtsblut als von sehr stattlicher und reisiger Natur, [50] sondern noch andere Trümmer von Männern reisiger Größe und Stärke. Doch war diese Art nach dem Geständnis des alten Hinrich in seinen Tagen in der Herrschaft Putbus sehr ausgegangen. Der Graf Malte zu Putbus hatte nach dem Tode seines Vaters, des Tribunalspräsidenten Grafen Moritz Ulrich zu Putbus, der ein sehr milder Herr gewesen, die Herrschaft sehr verschuldet empfangen und war aus einem strengen Haushalter, der er anfangs aus Not sein mußte, zuletzt aus Gewohnheit ein harter Haushalter geworden. Er hatte große Dörfer zerstört und Pachthöfe daraus gemacht und überhaupt über seine Herrschaft ein so schweres Scepter geführt, daß sehr viele, und zwar meistens die schönsten und rüstigsten Jünglinge zur See und zu Lande in die Fremde entwichen und nicht wiedergekommen waren.

Auf diese hier geschilderte Weise war das gastwirtliche Posewald eine Stelle, wo sich nicht bloß die Brüder und Gefreundten, sondern alle guten Leute aus der Umgegend häufig einfanden, auch manche höchst wunderliche und seltsame Käuze, woran jene Zeit und diese Gegend reich war. Ich täusche mich nicht, indem ich das Gedächtnis jener Tage wiederhole: die Menschen waren damals ungebildeter, aber eigentümlicher, mannigfaltiger und poetischer als jetzt; das Naturgepräge war noch nicht zur glatten Einerleiheit so abgeschliffen, man konnte mehr von ihnen lernen, mehr von ihnen haben.

Es war das wirklich eine poetische Epoche, wo das liebe Deutschland nach einem langen matten Traum wieder zu einem eigentümlichen litterarischen und poetischen Dasein erwachte: und das war das Schöne darin, daß die Zeitgenossen viel mehr, als es mir von den Jetztlebenden deucht, an jenem Dasein teilnahmen. Dies war nicht bloß bei den Studierten und Gebildeteren der Fall, sondern auch bei den Einfältigen und Ungelehrten, wie z.B. bei meinen Eltern und ihresgleichen Leuten. Schon war man über den Grandison und die Pamela, A11 über Gellerts Schwedische Gräfin [51] und Millers Siegwart zu Werthers Leiden, zu Eschenburgs und Wielands übersetzten Shakespearen fortgeschritten, und Lessing, Claudius, Bürger, Stollberg wurden von Alt und Jung mit Jubel begrüßt. Das Leben wehte frisch anhauchend aus der Luft der Zeit, und ward nicht bloß von himmelstürmenden Jünglingen, wie Kosegarten und Hagemeister, in unser Haus hineingeblasen. In unsrer Schule fing Bruder Fritz zuerst an Verse zu machen, und zwar begann der Junge die Römische Geschichte in Dramen darzustellen, versuchte sich auch in manchem Andern, wovon ich noch einige gerettete Muster habe; auch wurden die Hausspäße und lächerlichen und komischen Begebenheiten der Nachbarschaft oft recht glücklich von ihm besungen. Das hat wahrscheinlich auch mich gereizt, der ohne ihn vielleicht keinen Vers gemacht haben würde. Ich habe wohl von der Natur nicht genug von jenem flüssigen und flüchtigen, phantastischen und magnetischen Fluidum erhalten, was den Dichter schafft, und wenn mir einzelne kleine lyrische Sächelchen hie und da leidlich gelungen sind, so ist es nach dem Sprichwort geschehen: Eine blinde Taube findet zuweilen auch eine Erbse. Der Fritz aber war ein ganz anderer Kerl, mit einem hellen Kopf und einem königlichen Gedächtnis, und noch wohl mit mehr bildnerischem als poetischem Talent. Er redete und deklamierte wie ein König, konnte aller Menschen und Tiere, aller Alter und Geschlechter Töne, Stimmen und Gebärden nachmachen, zeichnete vortrefflich und hatte jenen stillen und leisen Witz, der von sich nichts weiß und nie sich selbst belächelt. Er war damals ein in seiner leiblichen Entwickelung zurückgebliebener, etwas weichlicher und kränkelnder Knabe, und hockte viel hinter dem Ofen; woran wohl Unglücksfälle, die er mit Armbrüchen und Vergiftung durch verschluckte Kupferpfennige gehabt, mit schuld sein mochten. Später, schon mit dem fünfzehnten Jahre, raffte er sich auf und erwuchs zu einem stattlichen und schönen Men schen, der auch mit der F ust als Fechter und Ringer[52] vielen überlegen war. Leider hat dieser königliche Jüngling seine großen Gaben wenig entwickelt oder vielmehr verspielt. Er, der ein großer Maler, Bildhauer oder Schauspieler hätte werden können, auch, wenn er gewollt hätte, ein bedeutender Gelehrter, studierte die Rechte, ward Sachwalt, nahm zu früh ein Weib und mußte in den gewöhnlichen Lebenskarren eingespannt im Schweiß seines Angesichts ziehen. A12

Dieser prächtige Junge brachte nun in unser Schulleben manche ergötzliche Lustigkeit, teils durch die Karikaturen, die er auf jedes weiße Papier hinwarf, teils durch die komischen und launigen Späße, die er in seinen Versen ausgoß, indem er mit einem Vetter, der mit uns in Grabitz erzogen und von ihm mit der Versewut angesteckt ward, in Tragödien, Komödien und allerlei Hanssächsischem Fastnachtspiel ordentlich poetische Wettkämpfe hielt. Dieser, der Sohn meines Ohms Moritz Schumacher, ein recht wackerer und fleißiger Junge, hieß zum Unterschied von ihm der kleine Fritz. Diese beiden besangen und bereimten alles Denkliche und mischten die kleine und große Welt in den wunderlichsten Tragikomödien durcheinander, der große Fritz mit bewußter Laune, der kleine Fritz in begeisterter Unschuld. Besonders trugen sie – worin ich als ein Erztaubenkrämer auch mitspielte – die Welt der Götter und Helden des Altertums auf die Kämpfe und Liebesabenteuer ihrer Taubenfamilien über.


Der kleine Fritz sang:

Das ist wahr, Priamus,
Du hast einen tapfern Fuß,
Zu kämpfen mit Achill
Das ist dir nur ein Spiel.
und der große Fritz:

Ach! du tapfrer Hektor,
Wind' um deinen Hals dir Flor,
Traur' um Vater Priamus,
Achill biß ihn in den Fuß.
[53] Der kleine Fritz:

Eisen hast du, Gott Vulkan,
Greise doch die Feinde an;
Selbst der alte Priamus
Girret deiner Frau den Gruß.
und der große Fritz:

Weh! Vulkan, du alter Schmidt!
Wo, wer solche Schmach erlitt?
Denn die ganze Cölterburg
Geht mit deiner Venus durch.

Diese kindische Reimspielerei und was dahin gehörte, besonders die Begeisterung für die Dichter, die wir lasen, brachten durch meine Schuld eine Tragödie hervor, welche der guten Mutter mehr als eine Thräne und uns allen manchen guten Braten gekostet hat. Hier ist die schwarze Geschichte:

Wir hatten uns in dem Baumgarten hart unter den Augen unsrer Schulfenster, wo ein schöner sonnenbeglänzter Rasenplatz war, ein Ding gleich einem pegnitzischen Blumengarten angelegt. Der Rasen war nämlich in viele kleine Duodezgärtchen geteilt, und die Mitte jeder Abteilung war mit einem Haufen bunter am Meeresstrande aufgesammelter Steinchen belegt. Jedes einzelne Gärtchen trug den Namen eines Dichters: Gellert, Hagedorn, Uz, Lessing, Bürger, Stollberg, Hölty, Claudius, Overbeck u.s.w.; Goethens Großheit lag natürlich noch weit jenseits unsers Gesichtskreises. Damit nun diese bunt ausgelegten und mit Rasen umlegten Gärtlein recht grünen möchten, mußte Wasser zum Begießen geschafft werden. Das fehlte in dem Baumgarten, auch war kein Brunnen oder Teich in der Nähe. Da machte ich als der Stärkste der Teilnehmer mich ans Werk und beschloß einen kleinen Teich zu graben, worin sich Wasser sammeln könne. Das ward in der That in den Feierstunden einiger Wochen vollbracht und bald füllten auch ergiebige Regen meine Grube mit Wasser. Da begab sich, [54] daß die jungen Geschwader von etwa siebenzig, achtzig Gänsehäuptern, schon ziemlich er wachsen und wohlbefiedert, eines Abends in den Baumgarten getrieben wurden, um in seinem wohlbeschlossenen Bezirk die Nacht in sichrer Hut vor Hunden und Füchsen zu durchschlafen. Aber o weh! die armen Gänschen hatten nicht geschlafen, sondern Wasser gesucht und gefunden, waren in meine tiefe Grube gestürzt, welche keinen leichten Ausgang bot, und hatten sich übereinander schlagend und strebend bis auf vier, fünf, die man auf den Leichen der übrigen noch lebendig fand, sämtlich erstickt.

Noch eines jugendlichen Spiels muß ich hier erwähnen, das, wie ich mich erinnere, von mir ausging, der eine besondere Freude an Geschichten und Märchen hatte, nämlich unser Geschichten erzählen oder Geschichten treiben, wie wir es nannten. Wir größeren Jungen waren nämlich übereingekommen, daß während der winterlichen Zeit, wo die Abende und Nächte sich bei den Hyperboreern fast zu sehr längen, die Langeweile durch Geschichten, welche jeder umschichtig in seiner Reihe zu erzählen hätte, von uns gekürzt werden sollten. Dies ward denn auch mit großer Freude in lustige That verwandelt und während mehrerer Winter von uns fortgesetzt; denn die Luft daran ward so mächtig, daß wir oft um acht Uhr schon zu Bett eilten – denn im Bette, und zwar in einem dunkeln Kämmerlein ward Erzählung getrieben – damit die Geschichten recht lange genossen werden könnten. Hier suchte nun jeder, was er aus Erdkunde und Naturkunde Wundersames behalten oder vom lebendigen Munde anderer sich aufgelesen hatte, in neuer Gestaltung und Erfindung zusammenzuweben. Auch ward der Vertrag ebenso gewissenhaft gehalten als er feierlich geschlossen war, und ich erinnere mich nicht, daß jemals nur eine beschwerliche Unterbrechung eingetreten, geschweige, daß dem Erzähler etwas Bitteres oder Unangenehmes eingewandt wäre. Wir hörten vielmehr immer mit der anständigsten Geduld zu. Ich für meinen Teil hatte mir [55] einen fabelhaften Goldadler, den ich mit Mandeln und Rosinen und Feigen und Pommeranzen fütterte, vor einen lustigen Wagen gespannt, und er hat mich zu Magnetinseln und in Diamantgruben, in die Höhlen von Riesen und Zauberern und in die goldenen Paläste der Unterirdischen, ja durch die Mongolenwüste Kobi bis unter die gefährlichen Flügel des Vogels Rock getragen. Auch jene Kleinigkeit hing offenbar mit der poetischen Influenza jener Tage zusammen. Für uns hatte es wenigstens den Vorteil, daß wir zu rechter Zeit reden und erzählen lernten; für mich aber führte es die angenehme Beschwerde herbei, daß ich noch fünf, sechs Jahre später, wo ich im Kreise kinderbegabter Freunde erschien, meinen Goldadler satteln und anschirren mußte. So hatte sich der Ruf unsers Geschichten Treibens verbreitet.

Bei allen diesen kindischen und kindlichen Spielen und Entwickelungen des jungen Lebens hin und her, worin schon einzelne höhere und edlere Keime lagen, blieb der gewöhnliche Zustand doch in den Schranken des elterlichen Standes und Vermögens. Der rüstige damals noch in der Fülle der Kraft blühende Vater mutete uns mit Recht die Übungen und Arbeiten zu, welche er hatte durchgehen müssen; er sah es überhaupt gern, wenn wir aus eignem Triebe oder im wackern Wettkampf uns Strengen und Härten auflegten, die er eben nicht befohlen hatte. In der Erntezeit, wo viele Hände, und diese oft recht geschwind, gebraucht werden mußten, wurden auch die Jungen oft einige Stunden vor der Sonne aus dem Bette getrieben und mußten oft lange vor der Schulstunde Ochsen und Rosse herbeitreiben oder herbeireiten, oft auch den ganzen Tag in diesen oder ähnlichen jungenlichen und hirtlichen Geschäften ausharren. Waren junge Füllen zuzureiten oder Pferde durch die Teiche zu schwemmen, Bruder Karl, der nun wieder bei uns war und den Kaufmann, wofür er bestimmt schien, wieder gegen den Landmann vertauscht hatte, und ich wurden darauf gesetzt, [56] oft wenn es ins Wasser ging, ganz nackt, der Vater mit der knallenden Peitsche hinter uns. Noch erinnert's mich, daß ich, als ich einmal ein unbändiges Tier splinterfasernackt durch einen Teich ritt, von diesem beim Herausspringen in Nesseln und Dornen abgeworfen ward, daß mir das Fell brannte. Zu solchen Abenteuern durfte nicht sauer gesehen werden. Baden im nahen Meere, Fischen in den vielen Teichen und in den Gräben und Bächen der überschwemmten Wiesen auf Karauschen, Krebse, Krabben, Hechte und Aale, Vogelstellen im Herbste in unsrer trauten Lau, Schlittenfahrten und Schlittschuhlaufen – alles das verstand sich als die Regel eines tüchtigen Landlebens von selbst.

Bei allen diesen Arbeiten, Übungen und Vergnügungen, wie sie das Land darbietet, ward doch immer sehr streng auf die Zeit gehalten. Wir trieben einen mächtigen Taubenverkehr und hegten in unserm Wäldchen einen hübschen Dohnenstrich, der, weil die Ostseeküsten von Zugvögeln jeder Art zu wimmeln pflegen, uns oft Hunderte von Krammetsvögeln und Drosseln lieferte; auch wurden andre seltnere und buntgefiederte Gäste oft lebendig eingefangen und in Käfichten aufgehoben. Aber die Schulstunde mußte genau mit acht Uhr früh gehalten werden. Ich und der Fritz liefen also im Oktober und November, oft im schlimmsten Regen und Schneegestöber, schon in der Morgendämmerung und vor dem Frühstück auf unsern Vogelstrich, die Beute abzuholen und das durch Wind, Regen oder lose Buben Verwirrte wieder in Ordnung zu stellen. Wenn wir dann beschneit oder durchnäßt und zähneklappernd zurückkamen und uns an den Frühstückstisch setzten, jammerte es die Frauen wohl, aber der Vater lachte dazu, und lobte den Jungen, der lustig in alles Wetter hineinsah.

Hier glaube man nur nicht, daß der Vater ein harter Mann war; nein, er war von Natur fröhlich, freundlich und mild, meinte aber nach der Art jener Zeit, welche eine gute Art war, daß ein Junge, der wohl einmal Stein und [57] Stahl anfassen müsse, nicht in Baumwolle eingepackt werden dürfe. Auch gehörte er nicht zu den Vätern, welche den Stock häufig gebrauchen. Ich habe ihn selten gefühlt; doch die letzte wohlverdiente Züchtigung etwa in meinem fünfzehnten Jahre hatte ich dem Asmus omnia sua secum A13 zu danken. Der Vater war ermüdet und verdrießlich wegen eines unangenehmen Verlustes aus Stralsund zu Hause gekommen und hatte sich früh zu Bett gelegt. Ich und Bruder Lorenz, der vierte in unsrer Reihe, saßen im Nebenzimmer und lasen das berühmte Lied vom Riesen Goliath; wobei wir in ein gefährliches immer von neuem beginnendes Kichern gerieten. Zweimal gebot, ja bat der Vater Ruhe zu halten und riet uns lieber auch schlafen zu gehen; als wir das dritte Mal in Lachen ausplatzten, da platzte er herein und stillte unsre Überlust mit ungebrannter Asche.

Ich war wirklich in meinen Jugendtagen ein unglücklicher Kicherer und Lachenausberster und mußte mich bei jeder Gelegenheit vor mir selbst in acht neh men. An meinem Bruder Fritz habe ich das nie gemerkt, sondern er lächelte nur bei Gelegenheiten, wo ich und die andern mit lautem Lachen ausplatzten. Ich weiß nicht, ob das viele und leichte Lachen ein niedriges Gemüt verrät, wie man im Jesus Sirach liest; aber das scheine ich zu wissen, daß ein erhabenes Gemüt in der Regel kaum lächelt, wo die meisten lachen. Ich habe Goethens Gesicht oft darauf angesehen: ich glaube, das hat auch nur lächeln können.

Ein solches verderbliches Lachen, das den väterlichen Stock wieder gegen uns hätte reizen können, überfiel uns einmal beim Frühstück. Wir aßen unsre Milchsuppe aus einer bunten gemalten Schüssel, in deren Innerm der Vers Wie schön leucht't uns der Morgenstern gemalt zu lesen war. Nun ward es unter uns zum Schiboleth: »du issest bis zum Stern«; »du bis leuchtet« – und darüber brachen wir eines Morgens los und fürchteten, es würde nun die andern Morgen auch so gehen. Da bat ich,[58] indem der Vater schon wieder einigemale Stille! gerufen hatte, die liebe Base Sophie, uns den nächsten Morgen eine ungemalte und unbeschriebene Schüssel aufzusetzen, und so ward die Gefahr glücklich abgewandt. A14

Wir hatten nun bis in den Anfang meines siebzehnten Jahres so fortgelebt, wie es sich eben machte, und meine Eltern konnten wohl nicht daran denken, mich studieren zu lassen. Da kam es durch fremde Hilfe, wahrscheinlich durch Anregung und Vermittelung der Herren Stenzler und Brunst, daß ich plötzlich in die gelehrte Schule nach Stralsund verrückt ward. Mehrere Gönner, welche unbekannt bleiben wollten, hatten für diesen Zweck einen Zusammenschuß gethan, und im Februar des Jahrs 1787 ward ich in die Sekunda jener Schule eingeführt und bekam bei dem Herrn Konrektor Furchau meine Wohnung. Dies war ein Sprung! Der arme und blöde Landjunge erschien im schlechtesten Aufzuge unter vielen zum Teil zierlichen und nach ihrer Weise vornehmen Jünglingen der ersten Familien der pommerschen Hauptstadt. Ich trug einen grünen Rock von eigengemachtem Zeuge; wenn es ein bißchen besser sein sollte, einen grauen plüschenen, aus einem alten Rocke meines Vaters zusammen– genäht und von dem Landschneider etwas zu wulstig weit zugeschnitten; meine Stiefel ungefähr in ähnlicher Art von dem Leisten des Meisters Silverstorp in Rambin. Man kann denken, mit welcher Gier die zierlichen Stadtpfauen über die so aufgeputzte Landkrähe herfuhren, und wie die Krähe sich anfangs zurückmachte. Indessen Not bricht Eisen, und da mich einige etwas unsanft anzutasten wagten, fühlte ich mein ungeduldiges Arndtsblut aufsieden, und bald lagen ein paar Bursche zusammengeknickt zu meinen Füßen. In dieser Beziehung hatte ich bald Ruhe; denn in der ganzen Klasse war etwa nur ein einziger, der mich allenfalls hätte bestehen können, mein nachheriger Schwager Ascher: dieser aber ließ mich ungeheiet. Die Klasse war damals durch die lange Kränklichkeit des eben verstorbenen Subrektors Borheck sehr [59] vernachlässigt. Ich konnte mich darin bald mit den besten Schülern messen. Zwar verstand ich noch kein Wort Griechisch, aber in dieser Sprache sah es bei jedermänniglich damals schlecht in Sekunda aus. Nach des Subrektors Tode ward der Unterricht in dieser Klasse von den Lehrern der Prima mit bestritten und ging nur bruchweise fort, und mir blieb immer Zeit genug, durch Privatunterricht, den ich im Griechischen nahm, mit den übrigen, die alle nicht hoch standen, in wenigen Monaten auf gleiche Höhe zu gelangen. Im Frühling langte denn der neue Subrektor Herr Ruperti 7 aus Hannover an und erhob den Unterricht und die Zucht der Sekunda bald zu einer hohen Stufe. Ich habe in dieser Klasse zwei Jahre und in der Prima ein Jahr zugebracht und für einen der fleißigeren und besseren Schüler gegolten; was bei allem dem nicht viel sagen will. Warum?

Will ich etwa die Unterweisung, Verwaltung und Einrichtung der Lehrer tadeln oder schelten? Ich gewiß nicht.

Es war gerade eine glücklichere Epoche der Stralsundischen Schule, als sie lange nicht gewesen. Ihr Vorstand war Magistrat und Konsistorium der Stadt. In dem damaligen Ersten Bürgermeister und Königlichen Landrat Herrn Dinnies, einem gelehrten und eifrigen Mann, hatte sie einen würdigen Musageten. Der Rektor, Herr Groskurd, früher Direktor des Deutschen Lycei in Stockholm, war die Gewissenhaftigkeit und Ordnung selbst, ein Mann, welcher binden und zusammenhalten konnte. Wenn seine Art mir und andern damals zuweilen an Pedanterei zu grenzen schien, so habe ich späterhin solche Eigenschaften und die Farben und Schatten, welche sie in einem gewissen Alter gewinnen, als eine unvermeidliche Notwendigkeit doch achten gelernt. Auch war Groskurd keineswegs ein verbrauchter oder verworrener Lehrer, wiewohl ich gestehen muß, daß ich seinen [60] beiden Kollegen der oberen Ordnung mehr zu danken habe. Diese beiden standen glücklicherweise auf der Altersstufe, wo die Lehrer einer Schule durch Beweglichkeit und Schwunghaftigkeit des Geistes die wirksamsten und wohlthätigsten sind. Ruperti, ein Jüngling von vierundzwanzig Jahren, kam eben an, mit schönen Kenntnissen, mit schöner Begeisterung und Liebe für sein Amt begabt. Furchau, der Konrektor, ein Sohn der Reichsstadt Bremen, der zweite Mann nach dem Rektor, mochte eben ein Dreißiger sein, ein kleiner runder freundlicher Mann voll Lebendigkeit und Geistigkeit. Er hatte sich in der Wissenschaft nach allen Seiten hin umgesehen, war ein tüchtiger Philolog und Litterator und folgte seinen Studien mit dem rastlosesten Fleiße, ein Mann von Geschmack, würziger Laune und feinstem Bienenwitz, der anmutigste und heiterste Gesellschafter, und von einem glänzenden Vortrage, durch den Tacitus, Sophokles und Homer deutschen Klang und Sprache bekamen. Er führte für die beiden alten Sprachen und für Litterargeschichte in Prima das Scepter. Leider war er jedoch in diesen Jahren öfter kränkelnd, sodaß mehrere seiner Vorlesungen für uns halb verloren gingen. Ich wohnte in seinem Hause und hatte mein Stübchen seiner Bibliothek gegenüber. In ihr sah es ungefähr aus, wie jetzt auch in meiner kleinen Bücherei. Die meisten Bücher standen freilich in den Brettern, aber unordentlich durcheinander; ein großer Teil, besonders die zunächst von ihm gebrauchten, lagen auf Tischen, Stühlen und dem Fußboden in Verwirrung umher. Doch hatte er mitten in der Unordnung eine große Ordnung des Gedächtnisses und wußte das Verlangte und Gesuchte meistens augenblicklich zu finden. In dieser immer offenen Bibliothek konnte ich naschen, wie ich wollte, und meinen Bedarf hin und her schleppen, um so mehr, da der Herr Konrektor bald ein Hausfreund meines Vaters ward, mit welchem er in Stadt und Land mehrere gemeinsame Freunde hatte. Mehr aber noch als von Furchau ward [61] man in seinen Studien von Ruperti gefördert, bei welchem jeder fleißige Schüler immer den freiesten Zutritt und die bereiteste Hilfe fand.

Also an Geist, Gelehrsamkeit und Lebendigkeit fehlte es dieser Schule damals in keinem Wege. Aber doch hatte die Heynische Philologie, woraus diese Männer sämtlich hervorgegangen waren, einen Mangel, welcher dem Meister oft genug vorgeworfen ist, den Mangel der Vernachlässigung der Lehre von den Sprachformen, den Mangel der grammatischen Strenge. Hat doch Heyne selbst gegen diese Ankloge sich damit entschuldigt, daß er sich den Dichterphilologen nannte, als welchem es nicht auf die seinen Klaubereien der Grammatik, sondern auf das innere Leben der Alten, auf Geschmacks- und Schönheitsfindung und -Bildung ankomme.

Meine Stellung in Stralsund war ungefähr folgende:

Die ersten anderthalb Jahre meines dortigen Aufenthalts genoß ich die oben erwähnte Unterstützung, von welcher ich den eigentlichen Belauf nie erfahren habe. Diese hörte dann auf, da meines Vaters Verhältnisse sich unterdessen wesentlich erweitert und verbessert hatten. Daneben hatte ich Freitische, mehr als ich bedurfte, indem mein Vater in der Stadt so viele Freunde und Bekannte hatte, daß sie sich um mich rissen: diese Freitische beide für den Mittag und den Abend. Die letzten aber benutzte ich nicht immer, weil sie mir zu viele Zeit raubten, und nahm zu Hause mit einem Butterbrot und Glase Wasser oder Bier vorlieb. Das war auch des Morgens mein Frühstück; und auf diese Weise ist es auch in der Folgezeit meistens von mir gehalten worden; sodaß ich bis zu meinem vierzigsten Jahre Kaffee und Thee nur bei außerordentlichen Gelegenheiten genossen habe. Später, erst näher dem fünfzigsten, hat die Gemütlichkeit und Bequemlichkeit des häuslichen Lebens meiner zweiten Ehe mich auch an diese Genüsse gewöhnt, welchen ich nun in Ansteigen des hohen Alters weise, aber zu spät, wieder zu entsagen beginne. Das aber, was Fichte selbst aus seinem [62] geschlossenen Handelsstaat nicht auszuschließen wagte, Wein, Punsch und deren Gesellen (den Branntwein jedoch selten und nur einzelne Gläschen) habe ich nimmer verschmäht. Auch schien ich von der Natur zu einem bacchischen Leben gestempelt zu sein: der Wein ist mir von jeher wohl bekommen, eine Tasse Kaffee hingegen, wenn sie ja einmal über meine Lippen kam, machte mir vor meinen Dreißigen das Blut so wallen und die Hände so zittern, daß ich kaum einen Buchstaben grad aufs Papier bringen konnte.

Diese Freitische hatten für mich allerdings ihre Gefahr. Zuerst verlor ich etwas von Zeit dabei; aber dies war das Kleinste. Das Zweite war schlimmer, das für einen Jüngling von siebzehn, achtzehn Jahren zu gute und reiche Leben. Es waren fast lauter angesehene und reiche Häuser, wo ich zu Tische ging; die Gastlichkeit, die Gütigkeit der Freunde war überdies nach Landesgewohnheit unermeßlich; das Leben in jenen Tagen überhaupt waidlich und wohlgemutig, und, da die politischen Stürme nur erst in der Ferne brausten, auf anmutigen und fröhlichen, auch wohl auf künstlerischen und ästhetischen Sinnengenuß gerichtet. Hier muß etwas von den Menschen gesagt werden.

Stralsund ist eine große Stadt, durch ihre Leiden und Freuden und durch große Kämpfe, worin die Namen Wallenstein, Gustav Adolf, Friedrich Wilhelm der große Kurfürst, Karl der Zwölfte und der alte Dessauer Leopold von Anhalt mitklingen, eine glorreich berühmte Stadt. A15 Im Mittelalter war sie nach Danzig, der alten Hauptstadt Hinterpommerns, die mächtigste und prächtigste Stadt im Pommerlande, und noch sieht man ihren Marktplätzen, dem herrlichen Rathause und den drei größten Kirchen den alten vergangenen Glanz an. Sie entwuchs wenige Jahrzehende nach ihrer Gründung im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts der Macht der Fürsten von Rügen und nach deren Erlöschung der pommerschen Herzoge, und war die nächsten Jahrhunderte nur dem Namen nach eine abhängige, der [63] That nach aber fast eine freie Reichsstadt. Wegen Fehden mit den Fürsten und der Landschaft oft abgeschlossen und auf ihre Ringmauern oder höchstens auf einige Gebiete in der Insel Rügen angewiesen, hatte sich in ihr in einiger Ähnlichkeit mit der herrlichen Reichsstadt Köln ein ganz eigner Volksdialekt gebildet, der mit dem umwohnenden Lande wenig gemein hat und in seinem Ton und Accent bis diesen Tag sich mit einer gewissen Dünnheit und Weichlichkeit bricht, welche zu der Thatenkraft und Rüstigkeit ihrer Bürger von weiland und jetzt wenig paßt. Diese Stadt wie die anderen größeren schwedisch-pommerschen Städte hatte aus der Zeit der gewaltigen Hanse bis zu unsrer alles stürzenden und ändernden Epoche große und achtbare Freiheiten und für ihre Obrigkeiten und Stiftungen in Rügen und Pommern höchst bedeutendes Gut und weite Gerichtsbarkeit gerettet. Sie war selbst unter schwedischer Herrschaft bis zum Untergange des heiligen römisch-deutschen Reichs als eine ehrwürdige Ruine der Vergangenheit, gleichsam noch als eine eigne Herrlichkeit stehen geblieben. Nun bestanden jene Trümmer alten Glanzes damals noch mit einem seinen und würdigen Schein. Der Magistrat, d.h. Bürgermeister und Rat, zog in der Stadt und auf seinen sehr zahlreichen Gütern und fast ebenso zahlreichen Gerichtsbarkeiten wie eine Art Majestät auf; die verschiedenen Bürgerausschüsse und Genossenschaften hielten sich unter ihnen oder ihnen gegenüber in achtbarer Geschlossenheit und Ehrenfestigkeit; und jeder einzelne Bürger als Mitgenoß einer so altberühmten und glorreichen Gemeinschaft trat auf dem sundischen Pflaster stolzer einher als die Bürger der andern Städte auf dem ihrigen. Und die Stadt Stralsund hatte schöne stattliche Menschen und konnte auch in Hinsicht der Frauen, selbst in den unteren Klassen, wie Korinth bei den Griechen, für eine schönweibrige Stadt gelten. Ein schönes Menschengeschlecht findet man auch in den andern großen Städten Pommerns, vorzüglich in Wolgast und Barth, viel [64] weniger in Greifswald, welches schlechtes Wasser und schlechte Luft, und natürlich also, obgleich eine Universitätsstadt, auch schlechtes Licht hat.

Die Sitten waren freilich, wie ich angedeutet habe, sinnlich auf Genuß und Lebenslust gestellt; hohes und höchstes Glück und Unglück, hohe und höchste Fragen und Kämpfe ahndeten in jenen Tagen wenige. Aber wie auch vieles locker, ja lockerer als recht war, es war doch von dem alten Glauben und der alten Treue und von den etwas versteiften, aber doch wohlanständigen Gebräuchen und Gestalten genug übrig, um das Ganze des Lebens mit einer gewissen äußeren Würdigkeit zusammenzuhalten und zu tragen. Einzelne Schäden wurden durch ziemlich allgemein herrschenden Wohlstand, Rechtlichkeit und Gutmütigkeit reichlich vergütet. Nur ein Schaden war da, der aber durch den ausgebrochenen russisch-schwedischen Krieg während des größten Teils meiner sundischen Anwesenheit fehlte, nämlich die schwedisch-pommersche Soldateska. Die Offiziere derselben waren meistens schwedische oder pommersche, einige auch mecklenburgische Edelleute, aber die Gemeinen aus allen Weltgegenden zusammengeworbenes Gesindel, viel mehr als in dem benachbarten Preußen, wo die Kantonspflichtigkeit wenigstens doch einen ehrenwerten Stamm von einheimischen Gemeinen lieferte. Dieser Schaden war bei der Art der Zusammensetzung ein unheilbarer und den Sitten höchst verderblicher, und die zwei dort liegenden Regimenter Fußvolk nebst einer Abteilung Artillerie, Ingenieure und Pioniere waren ein Krebs in dem gesunden Fleische der Bürgerschaft. Auch begab sich hier damals das Unerfreuliche, daß der größte Teil der Offiziere durch eignen Übermut und Unart von der bessern Gesellschaft der Stadt abgeschlossen leben mußte.

In dieser Stadt war ich nun in die gute Gesellschaft hineingestellt, und hatte es in ihr nur zu gut, besonders an solchen Tagen, wo mein Vater, der alte Ohm von Posewald und andere Hausfreunde oder Gefreundte zum Vergnügen [65] oder in Geschäften in der Stadt erschienen und dann in einem Atem zu Mittag und zu Abend, wobei die Gastgelage oft bis tief in die Nacht hinein reichten, bei den Freunden rings in der Runde eingeladen wurden. Ich verlor mich aber nicht weder in einer breiten und eitlen noch in einer schwelgerischen und sinnenberauschenden Geselligkeit, sondern behielt meinen Vorsatz fest im Auge und war in der gewöhnlichen alltäglichen Zeit eher zu ernst und abgeschlossen, als daß ich ein Leichter oder gar ein Leichtfertiger hätte gescholten werden dürfen. Es hatten sich in den beiden letzten Grabitzer Jahren in meiner Familie Vorfälle und Verhältnisse ergeben, deren Erzählung nicht hieher gehört, die aber in meinem Gemüte tiefe Nachbebungen hinterließen, welche ich jahrelang gespürt habe, und deren Folgen, indem sie, wie zu geschehen pflegt, in andern Fibern und Nerven ihren Sitz aufgeschlagen, vielleicht in unbewußten Bebungen noch in mir fortzittern. A16 Ich kam sehr ernst gestimmt und mit sehr ernsten Entschlüssen nach Stralsund, welchen ich dort auch keinen Augenblick untreu geworden bin. Ich war gesund, stark und rüstig, und hatte mir vorgenommen, es um jeden Preis zu bleiben. Mitten aus den Genüssen des dortigen fröhlichen, sinnlichen Lebens, mitten aus den Genüssen des breiter und weiter gewordenen elterlichen Lebens in dem Hause Löbnitz, wo meine Eltern jetzt wohuten, riß ich mich strenge wieder zu meiner Schule und noch strenger zu den freiwilligen Mühen und Strapazen, welchen ich meinen Leib unterwarf. Ein blöder, unverdorbener, unschuldiger Junge war ich in die Schule getreten; aber der Trieb, von dem Gott einst über dem Paradiese gesprochen hatte: es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, ließ sich in den Seltsamkeiten und Träumereien, die um dieses Alter in unbestimmten Suchten und Sehnsuchten spielen, auch ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, schon genug merken, und ich betete und rang keusch und unschuldig zu bleiben, um so eifriger, da ich wohl gewahrte, [66] wie es unter den größeren Schülern mehr als einen leichtfertigen und liederlichen Gesellen gab, der solche schwere und düstere Käuze, als ich solchen wohl zuweilen erschien, auslachte und verspottete. Alle Wälder, Büsche und Stranduser um Stralsund bis auf zwei, drei Stunden in der Weite haben meine spazieren laufenden und noch im Oktober und November zum Bade eilenden Fußtritte gefühlt. Die Stunden, welche dabei und bei fröhlichen Gastgeboten drauf gingen, mußten der Nacht abgespart werden. Gottlob, ich bedurfte wenig Schlaf, hätte sein aber vielleicht mehr bedurft, wenn ich mich der Abhärtung und Abmattung weniger bedürftig gefühlt hätte. So mußte in den Jahren 1787,1788 und 89 der einsame Schüler durch Wald und Feld streichen; er rief sich dabei die horazischen Worte Hoc tibi proderit olim zum Troste zu: und der Spruch hat sich bewährt: es ist aus solchen einsamen Umnebelungen und Verfinsterungen später einiger Sonnenschein hervorgegangen.

Doch soll keiner glauben, daß ich immer als der Einsame und Freudenlose erschien; nein, ich fand auch meine Kameradschaft, und zwar eine recht liebe. Manches Gemeinsame in Studien verband mich vorzüglich mit Karl Asmund Rudolphi 8, Sohn einer armen Predigerwitwe, welche eine kleine Mädchenschule hielt, und mit Johann Arnold Pommeresche 9, dessen Vater, Königlicher Kammerrat und Procurator Fisci, mein besonderer Gönner und Wohlthäter war. Außer diesen konnte ich den liebenswürdigen und geistreichen Friedrich Reincke (in späteren Jahren ein treuester Freund), Johann Jakob Grümbke, A17 Ernst von Gagern, Bernhard Cummerow und Johann Israel zu meinen Getreuen zählen. Eisbahn, Kegelbahn, Schlittenfahrten, Spaziergänge mit solchen lieben Gesellen fehlten nicht, noch einzelne lustige Wanderungen in der Insel Rügen oder auch [67] mit diesem und jenem gelegentlich zu meinen lieben Eltern nach Löbnitz. Hierzu kam noch, daß mein Bruder Fritz, der aber von mir sehr verschiedene (ich meine keine schlimmen) Wege ging, nach zwei Jahren sogleich als Primaner die Schule und neben mir ein Stübchen bezog, und daß Lorenz Stenzler, der Sohn des ehrwürdigen Pastors zu Gartz, mir als Stubengesell beigethan ward. Ich als der Ältere und nun schon Geübtere sollte diesem gelegentlich helfen, und half auch; was Fritz, der hier auch bald einen guten Namen gewann, weniger bedurfte.

Doch blieb für mein Gutes und Bestes das elterliche Haus immer die Oberburg meiner Gefühle und Gedanken, und zu wie vielen Orten und Menschen ich auch freundlichen Zutritt hatte, nirgendshin zog es mich so mächtig als zu diesen Wurzeln meines Daseins. Dieses Haus und die ganze Lage desselben hatte sich bald nach meinem Abzuge nach Stralsund vier Meilen weiter gegen Nordwesten auf das Festland und in viel größerer Breite hingestellt. Mein Vater hatte drei Meilen von Stralsund an der großen Straße zwischen Stralsund und Rostock die sogenannten Löbnitzer Güter (mehrere Höfe und Dörfer) gepachtet. Diese Güter gehörten auch unter die Herrschaft Putbus, welche von der verwitweten Gräfin zu Putbus Wilhelmine Gräfin von der Schulenburg verwaltet wurden, welche für ihre Söhne, die Kinder des verstorbenen Grafen Malte zu Putbus, die Vormundschaft führte. Mein Vater hatte diese Pachtung wohl vorzüglich dem Einfluß zu danken, den unser Patriarch Hinrich zu Posewald bei der Gräfin Witwe hatte. Dieses große Unternehmen schlug ihm bald sehr vorteilhaft aus. Die französische Umwälzung und andere Zeitereignisse trieben die Preise des Getreides viele Jahre zu einer ungewöhnlichen Höhe, und wer Landgüter bebaute, konnte nun gewinnen.

Hier war nun wieder etwas von Schoritz, und mehr als Schoritz, obgleich das heilige Meer fehlte. Löbnitz war [68] auch eine verlassene Schönheit, deren Glanz zum Teil freilich abgebleicht war, aber deren Jugend Schoritz sicher um vieles überglänzt hatte. Löbnitz war ein Sitz der Grafen von Schwerin gewesen. Der Vater meines Gönners und Freundes, des schwedischen Generals Grafen Philipp Schwerin, A18 hatte noch darauf gewohnt. Nach dem Tode desselben hatten er und seine Brüder ihre pommerschen Güter dem Grafen Malte von Putbus verkauft. Es war auch im erblassenden Glanze immer noch ein sehr schöner Hof. Das Haus mit zwei stattlichen Flügeln zählte zwei große Säle und über zwanzig Zimmer, deren ein Teil noch goldene Leisten und Getäfel, seidene Tapeten und schön geformte Öfen hatte, die andern mit vergoldeten Tapeten verziert waren, die einen mit Kriegsthaten Karls des Zwölften, die andern mit Abenteuern des Ritters von der traurigen Gestalt geschmückt. Der Erbauer des Hauses, ein Oberst Graf Schwerin, war nämlich ein Kämpe des großen Schwedenkönigs und Vetter des berühmten preußischen Feldmarschalls gewesen. Unter dem Hause, das zwischen grünen Wiesen auf einem sandigen Hügel lag, dehnte sich der von einem tiefen Bach durchströmte Lustgarten aus, mit seinen Lindenalleeen, Lusthäuschen, Hecken und Grotten, alles in dem Stil von 1740 und 1750. Gegen das Ende des Gartens stieg man einen kleinen Olymp hinan, um welchen die hölzernen Bilder der Dei majorum et minorum gentium standen, ein kleiner Hügel, von welchem man auf die Stadt Barth und auf alle Türme der umliegenden Kirchdörfer eine hübsche Aussicht hatte. Nahe am Hause hart am Bache war eine mit Epheu und Jasmin umwebte Grotte, die Grotte der Königin betitelt. Darin hatte die schwedische Königin Ulrike Luise, Gustavs des Dritten Mutter und Friedrichs des Zweiten Schwester, erzählte der alte siebenzigjährige Gärtner Benzin, zur Sommerzeit häufig die Kühlung gesucht. Im Hause zeigte man die Zimmer mit goldnem Getäfel und grünen seidnen Tapeten, worin sie gewohnt und [69] geschlafen hatte. Sie hatte hier nämlich einst monatelang ihren Wohnsitz genommen, in der Zeit, als ihr Gemahl mit dem schwedischen Reichsrat den härtesten Streit um die Herrschaft gestritten und als der Vater des Generals Philipp Schwerin, schwedischer Reichsherr und Oberpräsident des Tribunals in Wismar, Löbnitz bewohnte. Außer diesem Garten gab es noch zwei wohl besetzte Baumgärten und rings um den Hof Wiesen und zur Ähnlichkeit mit Schoritz ganz nahe zwei liebliche Eichenwäldchen gleich der Lülo und für die Krewe ein ähnliches etwas entfernteres Wäldchen mit den Trümmern einer alten Burg, worum Gespenster und Hexen und allerlei wunderliches Gesindel ihr Wesen trieben, und eine Viertelstunde weiter hin einen großen prächtigen Buchenwald. Der Bach aber, die Zier und Freude des Gartens, ergoß sich nach einem Lauf von zehn Minuten in den Fluß die Barth, der unweit Barth, ein paar Stunden von hier sich ins Meer gießt, immer nur ein Flüßchen, aber doch ein anmutiges, auch wegen der Tiere und Fische, die es hegte, und wegen der Badegelegenheit, die es uns im Sommer reichte.

Hier wohnten also meine Eltern und Geschwister nun recht nett und behaglich; doch ward ihr Einzug bald durch eine Familientrauer bezeichnet, indem mein dreijähriges Schwesterchen Karoline, ein sehr liebliches Kind, besonders zu meinem tiefen Schmerze, an der Bräune starb. Doch gab der liebe Gott dafür im Sommer bald wieder Ersatz durch ein Dirnchen, welches das jüngste und letzte Kind des Hauses bleiben und viele Verluste heilen sollte. Es ward deswegen Dorothea oder Gottesgab genannt.

Löbnitz war von Stralsund drei Meilen entfernt, von jenen Meilen, welche, wie die gemeine Rede spricht, der Fuchs gemessen und den Schwanz zugegeben hat. Ich war unterdessen durch meine spartanischen Übungen recht suchsbeinig geworden, und lief diese Strecke oft in vier guten Stunden. Dies geschah häufig des Sonnabends Nachmittags, [70] und den Montag in aller Frühe ging es wieder zur Stadt und Schule, oft mit Gelegenheit, oft in der Weise, daß der Vater anspannen und mich den halben Weg fahren ließ. Gelegenheit gab es auch im Sommer und Winter genug: erstlich die fahrende Hamburger Post, die hart an unserm Hause hinfuhr, aber nach der damaligen Art den fürchterlichsten Schneckengang ging und in jedem Dorf und bei jeder Schenke anhielt; zweitens hatte mein Vater auf den Vorwerken drei bis vier sogenannte Holländer oder Kuhpächter und einige Müller und Schmiede, welche Waren hin und zurückführend auch oft zur Hauptstadt kutschierten; drittens zogen im Herbst und Winter Reihen von zehn bis zwölf mit Korn oder Weizen beladenen Vierspännern ihr zu. Die Abfahrt derselben geschah gewöhnlich um zwei, drei Uhr in der Frühe, und sie waren, indem sie unterwegs einige Mal zum Füttern anhielten, gegen sieben bis acht Uhr zur Stelle; so daß ich mit der Schule nicht in Verdruß geriet. Da lag der Schüler denn auf den dickgefüllten Säcken, in irgend einen alten Mantel seines Vaters gehüllt, und ließ es mutig auf sich schneien und regnen; oft aber leuchteten die winterlich blitzenden Sterne auch freundlich über seinem Haupte, und noch jetzt sehe ich Siebengestirn und Arktur und Orion, die im Winter ein gewaltiges Licht führen, wehmütig darauf an, wie viele Freuden und Leiden des Jünglings, der an ihnen damals oft die Stunden zählte, unterdessen unter ihrem unsterblichen Laufe auch dahingerollt sind. Die Schulferien, versteht sich von selbst, wurden fast immer bei den Eltern verlebt, wenn nicht zuweilen für Posewald und Putbus eine Woche abgegeben ward.

Der Herbst von 1789 war herbeigekommen und vor dem Anfang desselben die gewöhnlichen öffentlichen Darstellungen und Prüfungen. Mein Vater war dabei anwesend gewesen, und ich war unter andern guten Schülern ordentlich durch öffentliches Lob ausgezeichnet worden; doch sollte und wollte [71] ich noch ein zweites Jahr in Prima bleiben. Es ging in jenem Herbst beinahe ein Dutzend Primaner ab, nach Göttingen (dem gewöhnlichen Ausflug der Sundischen, wohin auch die Lehrer, alle weiland Göttinger, immer wiesen), Erlangen und Greifswald; und da gab es mehrere Tage hintereinander nichts als Einladungen und Abschiedsschmäuse. Dies war mir und meinem Blute wahrscheinlich zu viel geworden. Ich geriet in außerordentliche Stimmungen und Kämpfe mit mir selbst, und es lief in mir herum, ich würde, wenn ich mein Schülerleben hier so fortsetzte, zu einem weichlichen und liederlichen Lappen werden. Also etwas anderes – aber was? Landmann oder eine Art Schreiber und Rechnungsführer bei irgend einem Landmann. Ich wußte wohl selbst nicht viel zu meinen noch zu wollen. Genug, einen guten Nachmittag ging ich aus dem Frankenthor, wo Karl der Zwölfte in einer Mauernische weiland sein strohenes Lager gehabt hatte, in die Welt hinein. Den Vormittag hatte ich für meinen Vater noch Geschäfte besorgt, unter anderm 400 Thaler für ihn eingenommen, die ich ihm herausschickte. Ich mochte zehn oder zwölf Thaler in meinem Sacke haben; damit und mit meinen besten Kleidern auf dem Leibe und einem Bündel Wäsche unter dem Arm lief ich davon, schrieb aber meinem lieben Vater in der damaligen Fassung und Stimmung meines Herzens einen so pathetischen Brief, als wenn ich auf das Nordkap oder die Magellansstraße zusteuren wollte. Ich ging gegen Süden fort die große Straße, welche nach Greifswald führt, in eine Weltgegend hinein, wohin ich noch nie den Fuß gesetzt hatte. Es muß in den ersten Tagen des Weinmonds gewesen sein. Als es nachtete, begann es zu regnen; ich kam in ein Dorf, wo es keine Schenke gab, und trat in eines Schäfers Haus, Nachtquartier begehrend. Die Leute sahen mich verwundert an, nahmen mich jedoch auf, und gaben mir, da sie kein übriges Bett hatten, einige Kissen und ein Laken mit auf den Heuboden, worein ich mich [72] wickelte und königlichen Schlaf hielt; denn die vorige Nacht war auf dem Abschiedsschmause meines lieben Reincke durchschwärmt worden. Jedoch krähte der Ruf von einem halben Dutzend Hähnen, die auf einem Balken über mir Posto gefaßt hatten, mich einigemale auf. Dies war mein erstes Nachtlager, das ich unter wildfremden Menschen hielt, gleichsam eine kleine Schicksalsvorzeichnung. Den andern Morgen sah ich Greifswald vor mir liegen, wagte aber nicht, um oder in die Stadt zu gehen, aus Furcht, ich möchte auf irgend einen mir bekannten Studenten stoßen. Ich ging also nun am linken Ufer des Ricks hin und steuerte den ganzen Tag, im schönsten Sonnenwetter nur schlendernd, in den Westen hinein und gelangte so, ich weiß nicht auf welchem Wege, in ein Dorf an der Peene unweit Demmin, wo ich das zweite Nachtlager hielt. Den dritten Tag frühmorgens in und durch Demmin über die Peene, ohne Paß und Kundschaft; ich ward aber von keinem Menschen gefragt. Nun deuchte ich mir weit genug von der Heimat zu sein, um irgendwo in dieser Fremde mich zu verdingen. Ich ging also längs der Peene hin auf mehrere Rittersitze und Pachthöfe, fragend, ob sie nicht irgend einen jungen Schreiber oder Rechnungsführer nötig hätten. Nachdem ich so mehrere Nein entgegengenommen hatte, kam ich nachmittags zu Zemmin an, wo ein alter Hauptmann von Parsenow wohnte. Dieser empfing mich auf meine Frage sehr freundlich, ließ mir sogleich Speise und Trank auftragen und ein nettes Schlafzimmerchen anweisen, unterhielt sich dann des Breiteren mit mir, und erklärte, ich gefalle ihm, und er wolle mich gern behalten, wenn mein Vater einwillige. Diesem müsse ich es melden und seine Antwort abwarten. Es lief also ein Brief mit der Post nach Löbnitz, und den fünften Tag kam statt aller Antwort mein Bruder Karl und mein Ohm Moritz Schumacher, der damals bei meinen Eltern lebte, mit einem vierspännigen Wagen und einem Brief meines Vaters, worin er mir freundlich schrieb, ich [73] möge doch nach Hause kommen, er lasse mir die freieste Wahl, ob ich ein Bauer oder ein Studierter werden wolle; wähle ich das erste, so könne ich die Landwirtschaft ja nirgends besser und bequemer lernen als unter seiner Anleitung, Beschäftigung werde er mir schon zu geben wissen.

Ich war dieser Entwickelung sehr froh; denn jene Dunstwolken, die mich aus Stralsund weggescheucht hatten, waren durch die harten Wanderungen und soldatischen Nachtquartiere schon weggesunken. So setzte ich mich denn mit den Meinigen auf den Wagen und den folgenden Nachmittag waren wir in Löbnitz.

Dies war also ein Entweichen, wenn man will, ein Entlaufen von der Schule, wie es schien, ohne Grund. Doch muß es in meinem Wesen und in dem Gedränge von Gefühlen und Sorgen, die meine Brust beklemmten, einen tieferen Grund gehabt haben, den ich selbst jetzt nicht begreifen kann. Denn grade die Tage vor meiner Flucht war ich mit meinen Freunden und besonders mit meinem lieben Friedrich Reincke vorzüglich fröhlich gewesen. Was meine Eltern davon gedacht haben, weiß ich nicht; sie haben sich wohl mit allerlei Ängsten über mich gequält: denn wie konnten sie mir in mein dunkles Herz sehen, da ich selbst nicht klar hineinschauen konnte? Daß sie aber Schlechtes von mir geglaubt haben, bezweifle ich. Sie kannten mich ja, und der beste Beweis, daß ich nicht wegen Schlechtigkeiten und für Schlechtigkeiten davon gegangen, lag wohl in der unberührten bedeutenden Summe, die ich für meinen Vater einkassiert und ihm zugeschickt hatte. Die Welt aber oder das sogenannte große Publikum hatte auch hierüber seine Fabeln gemacht und von bösen Liebschaften und von noch Schlimmerem umhergeschwatzt, welchem damals gewiß kein Jüngling tapferer aus dem Wege lief als grade ich. Das kam auf dem zehnten, zwanzigsten Seitenwege, wie es zu geschehen pflegt, endlich auch zu meinen Ohren. Ich [74] verachtete es, und habe damals und im Laufe des Lebens noch mehr gelernt, daß nichts thörichter und kindischer ist, als um Urteil, Vorurteil und Nachurteil der Menge zu buhlen und aus solcher Rücksicht nur einen Strohhalm breit von seinem gewöhnlichen Wege abzulenken.

Die Eltern ließen mich nun einige Wochen so ruhig bei sich fortleben, als ob nichts geschehen wäre, und ich nur meine Ferien bei ihnen gehalten hätte. Dann sprach der Vater mit mir und meinte, es sei doch wohl das Beste, daß ich, da ich einmal den Weg betreten habe, bei den Studien bleibe; so kamen die Freunde und Brüder allmählich heran; so die Briefe meiner Lehrer. Und die Meinung des Konrektors Furchau fiel dahin aus: wenn ich glaube meiner Gesundheit wegen auf dem Lande leben zu müssen, so könne ich da ja auch in allerschönster Muße für mich fortstudieren. Dieser letzte Vorschlag leuchtete mir ein, und ich nahm ihn an. Meine Sachen und Bücher wurden aus Stralsund abgeholt. Was ich zur Fortsetzung meiner Studien von Büchern u.s.w. wünschen konnte, versprachen die Lehrer und andere Freunde mir immer zu verschaffen, und sie haben es verschafft. Und ich habe auf diese Weise wirklich in allerschönster Muße und mit nicht mattem Fleiße vom Herbste 1789 bis zu Ostern 1791 anderthalb Jahre zu Löbnitz verlebt. Jedoch wurden neben diesen edleren Übungen die Strapazen und Abhärtungen tapfer fortgesetzt. Soldatische Lager auf harten Brettern oder Reisig, Übernachtungen unter freiem Himmel, wo ich mich, in meinen Mantel gehüllt, unter irgend einem Baum oder hinter einem Heuhaufen hinstreckte, Wanderungen oft meilenweit nach allen Seiten hin, besonders nächtliche Wanderungen, die ich begann, wann die andern schlafen gingen – alles um den in üppiger Jugendkraft schwellenden Leib Tapferkeit und Gehorsam zu lehren. Das erstaunte die Eltern und betrübte sie wohl zuweilen, und ich sah sie über mein Wesen und Treiben oft kopfschütteln; aber da ich das Meinige sonst[75] verständig zu thun schien und mich nicht närrisch gebärdete, so mußten sie mich schon gewähren lassen.

Dieser merkwürdige Abschnitt in meiner kleinen Lebensgeschichte war auch einer in dem ganzen Zeitalter. Die französische Umwälzung begann. Diese machte eben nicht den Abschnitt oder Durchschnitt der Zeit, sondern war auch nur etwas von ihr Gemachtes. Die unbewußte und guten Teils unschuldige sinnliche und auf das Bequeme und Zierliche in Leben und Kunst gerichtete Behaglichkeit, welche von dem Ende des siebenjährigen Krieges bis dahin durch ein Vierteljahrhundert geherrscht hatte, war ausgeschöpft und ausgeleert und in Schlaffheit und Empfindelei übergegangen, und nach allen Seiten hin in Sitten und Neigungen, in Kunst und Wissenschaft, in Theologie und Philosophie entstanden mit einemmale entweder neue Richtungen und Strebungen, oder die Geburten des alten Daseins schienen so reif und fertig, daß die Menschen wenigstens neue Richtungen und Strebungen erwarten konnten. Es war zu gleicher Zeit sowohl ein neues politisches, als ein neues philosophisches Streben in die Welt getreten und ward mit ungeheurer Geschwindigkeit und Lebendigkeit in den Zitterungen und Erschütterungen, die es mit sich führte, von der Hütte bis zum Palaste mitempfunden und nachempfunden. Und selbst in den engeren Kreisen unsers Hauses und bei der Festigkeit und Beständigkeit, wel che meine Eltern in ihrem Wesen schienen gewonnen zu haben, ward diese neue Epoche der europäischen Entwickelung zwar nicht mit Plötzlichkeit, aber doch in Absätzen von je fünf zu fünf Jahren, merklich verspürt.

Mein Vater hatte die Pachtung von Löbnitz nebst seinen Zubehören auf achtzehn Jahre übernommen und hatte diese achtzehn Jahre bis zum Sommer 1805 dort in Friedlichkeit durchgewohnt. Das Haus blieb das alte in rügenscher Freundlichkeit und Gastlichkeit, nur daß bei größerer Wohlhabenheit der Kreis der besuchenden Freunde und Nachbarn [76] sich erweiterte, und bei dem jugendlichen Aufschuß der Kinder auch die Schar der Gesellen und Gesellinnen sich mehrte. Es war Raum im Hause, und die Mutter konnte allenfalls zwanzig Betten aufmachen. Da gab es Vergnüglichkeit und Wirtlichkeit. Und gern ergingen die Freunde sich bei uns; denn der Vater verstand auf eine seltene Weise Anständigkeit mit Freiheit zu vereinigen und dabei seine vielen Arbeiten und Geschäfte so zu ordnen, daß darin nichts aus dem ordentlichen Geleise kam. Er war im Sommer immer mit der Sonne, im Winter um fünf, sechs Uhr auf, brachte in den ersten Stunden seine Hauptbücher in Ordnung und besorgte dann die dringenden Geschäfte bis zum Frühstück, darauf in noch einigen Stunden mit den Söhnen und Großknechten die laufende Wirtschaft, und dann hatte er immer noch ein paar Stunden für den geistigen Menschen übrig. Es war ein stiller frommer Natursinn in diesem guten Menschen, und er konnte bei rollendem Gewitter oder im Morgen- und Abendrot mit gefalteten Händen stundenlang auf seinem Olymp sitzen und schweigend und anbetend in die Unendlichkeit hineinschauen. Auch die liebe Mutter blieb unverrücklich in ihrer klaren und sichern Natürlichkeit, wie sehr auch der Welt der alte Boden, worauf sie bisher geruht hatte, durch gefährliche Unterminierung zu entsinken begann.

Da in diesem Hause nun nicht bloß die alten Freunde und Gefreundten und die Nachbarn aus- und eingingen, sondern nun auch die studierenden Genossen und die umwohnenden Geistlichen, der gute Pastor Dankwardt zu Bodenstede mit eingerechnet, und in den Ferien oft auch unsre werten sundischen Lehrer als Gäste hinzukamen, und die Söhne nun auch allmählich anfingen ihre Geelschnäbel in Gesprächen und Streiten zu wetzen, so fehlte es auch an edlerer Lebendigkeit nicht; und auch die politische Teilnahme an den Weltbegebenheiten wuchs von Jahr zu Jahr, ohne daß sie hierlandes noch einen heftigen Charakter angenommen [77] hätte. Auch ich war mit darin, noch zwar nicht tief eingebrannt, obgleich ich schon seit manchen Jahren nicht bloß ein eifriger Vorleser, sondern auch ein emsiger Selbstleser der Zeitungen gewesen war.

Nachdem ich hier in Löbnitz im väterlichen Hause wieder anderthalb Jahre recht wohl verlebt hatte, bezog ich die Universität Greifswald, um Theologie zu studieren, ein Studium, zu welchem der Sohn eines Landpfarrers und Landmanns, wenn er nicht unfromm ist, auf die allernatürlichste Weise hingezogen wird. Ich lebte in Greifswald zwei Jahre. In der Theologie hat mir der Doktor Schlegel genutzt, damals Generalsuperintendent des Landes, ein gelehrter, nur im Vortrage etwas zu sehr springender Mann; in Naturwissenschaften der Schwede Brismann, ein heller lebendiger Kopf; in der Philosophie Muhrbeck, auch ein Schwede, ein scharfer Denker und eifriger Wolfianer, von einem trefflichen Vortrage und tüchtiger Gelehrsamkeit: dieser alte Schwede war von unendlicher Lebhaftigkeit und Heftigkeit; noch klingt mir's in den Ohren, wie er, wenn er meinte, Kant in den Temperamenten aller vier Winde zusammengehauen zu haben, im Feuer seines philosophischen Zorns im gebrochenen Schwedisch-Deutschen ausrief: »Und nun? was will du nu, Kant, Vir juvenis?« Geschichte, Erdkunde und die Sprachen, für welche hier eben keine vorzüglichen Vorleser waren, trieb ich fleißig für mich.

Im Frühling des Jahres 1793 bin ich von Greifswald nach Jena gegangen und habe dort bis zum Herbst 1794 gelebt. Griesbach, Schütz, Reinhold, Fichte, Ulrich muß ich unter meinen Lehrern hervorheben, auch Paulus, welcher damals jung und frisch, noch nicht lange gelehrt hatte. Schütz, damals ganz von der Allgemeinen Litteraturzeitung beschlagen, betrieb seine Vorlesungen leider wie ein Nebengeschäft. Aus der Philosophie, welche alles begeisterte und auch unter meinen Genossen manchen trocknen Kopf verrückt machte, habe ich wenig Scharfes und Spitzes ziehen und gewinnen [78] können, doch hat mich Fichtes tapfre Persönlichkeit begeistert; Ulrich war lebendig, witzig und geistreich und las Geschichte der Philosophie und Literargeschichte mit mehr Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit, als Reinhold und Schütz. Für Geschichte war hier, außer Griesbach nichts: der alte Heinrich war trocken und einförmig wie die Wüste Sela, und der eben auftretende Woltmann bedeckte seine vornehme Oberflächlichkeit mit schön klingenden Worten; er schillerte damals durchweg ohne Schillers edle Seele.

So kurz zeichne ich meine Studentenjahre an, weil sich darin für meine Entwickelung scheinbar nichts Merkwürdiges begeben hat. Ich wandelte auf dem alten Wege fort, ward aber allmählich freier und leichter. Gottlob nicht leichtfertig. Am meisten half mir dafür wohl das gute Beispiel aus dem Vaterhause, viel gewiß auch das Urteil und Vorurteil, welches mich ganz beherrschte, daß ein Theologus keusch und unbefleckt sein müsse. Am meisten halfen doch wohl Gott und Glück, welches auch Gottes ist; aber gewiß thun auch jene angeführten Items ihr Großes. Ich will hiemit nicht andeuten, als habe ich gleichsam ein strenges Klausnerleben geführt. Nein keinesweges. Ich habe mit der andern Jugend studentisch und deutsch gejubelt und mitgelebt, auch manche fröhliche Nacht mit drein gesetzt, was ich mehr als andere durfte, ohne in meinen Fleiß zu große Risse zu machen: ich bedurfte wenig Schlaf. Dann aber wallte mein Leben wieder stiller auf einsamen Pfaden dahin. Überhaupt, damit ich für meine Jünglingsjahre mich nicht zu rühmen scheine, bemerke ich nach meiner Erfahrung hier einmal für allemal, daß die Jugend in einer eigenen unschuldigen und phantastischen Idealität gegen Verderben und Liederlichkeit schon Waffen hat, welche für spätere Jahre auf einem ganz andern Amboß ausgeschmiedet werden müssen.

Mein lieber Bruder Fritz war in Jena auch ein Jahr mit mir zusammen. Ich hatte aber damals gar wenig von ihm; unsre Wege liefen zu weit auseinander. Wenn ich [79] mich auch zuweilen in den wilden jugendlichen Strudel stürzte, so brauste er doch oft ordentlich mit ihm fort und schlürfte sein kaiserliches Studententum mit aller Lust und Überlust in vollsten Zügen aus. Ich sage oft; denn weit mehr als ich konnte dieser wundersame und reichbegabte Mensch auch wieder die Einsamkeit ertragen und oft vier Wochen in einem verborgenen Dorfstübchen versitzen, wohin er sich seine Bücher schleppte und im Genuß der Alten und auch der Kantischen und Fichtischen Philosophie schwelgte. Er war ein trefflicher Lateiner, überhaupt bei einem königlichen Gedächtnisse, das ihm alles Nötige immer sogleich aus dem Stegreif darreichte, ein gewandtester und klarster Sprecher und erschien deswegen gern bei allerlei öffentlichen Disputationen, wo die Leute erstaunten, daß dieser, den sie selten in den Hörsälen sahen, und der nur durch seinen Degen berühmt war, in omni scibili sich so gewandt und fertig zeigte.

Meine Universitätsreisen machte ich nach meiner Weise zu Fuß, wie auch andere Ein- und Ausflüge durch das liebe Vaterland und zwar nicht bloß, um den starken Mann zu zeigen oder zu machen, sondern auch, um Land und Menschen kennen zu lernen; was von Tage zu Tage mehr ein leidenschaftlicher, ich möchte fast sagen, naturhistorischer Trieb in mir ward. Bei meiner Heimkehr von Jena wanderte ich über Leipzig, Dessau, Quedlinburg, durch den Harz und Braunschweig bis Celle und fuhr dann durch die Lüneburger Haide mit der Post nach Hamburg, wo ich einige Wochen blieb und Schrödern in mehreren Rollen und auch als König Lear bewunderte. Wandsbeck besuchte ich, sah Asmus' Haus und nicht ihn. Auch hatte ich eine Furcht auf berühmte Männer einzudringen; ich habe da, wo die meisten zu viel thun, zu wenig gethan. Auch Goethen hatte ich nur noch von fern gesehen. Gegen Ende des Oktobers dieses Jahres 1794 war ich in Löbnitz.

Hier saß ich nun wieder zwei behagliche Jahre, indem ich meine beiden jüngsten Geschwister unterrichtete und für [80] mich studierte, ich sollte lieber sagenrepetierte. Ich hatte in den letzten sechs Jahren seit meiner Flucht vom sundischen Gymnasium, wo ich mein freier Herr geworden war, mit recht lüsternem Heißhunger, wie aller lebendigen Jugend wohl begegnet, mancherlei genascht, mitunter auch wohl manche rohe und wüste oder meinem Magen wenigstens unverdauliche Speise hinuntergeschluckt. Dies fing nun an gleich im Meer versunkenen Inseln sich zur Oberfläche des Lichts zu erheben und einiges auch sich zu gestalten. Ich war lange ein Dämmerer gewesen und ein Träumer sollte ich in vielen Dingen wohl immer bleiben. An Reibung und Reizung fehlte es mir selbst im ländlichen Hause meines Vaters nicht; und so flossen diese zwei Jahre meist fröhlich dahin.

Im Herbst 1796 lud mich der alte Hausfreund Kosegarten zu sich, der mehrere Jahre als Rector scholae in Wolgast gelehrt und dann die beste Pfarre im Lande, die zu Altenkirchen auf Wittow, erlangt hatte. Ich sollte seine Kinder unterrichten, die aber in der That für den Unterricht noch zu jung waren. Ich ging gern zu ihm, weil er eine ausgewählte Bibliothek hatte. Ich war nun Kandidat der Theologie, auf eine unbeschreiblich leichte Weise von dem alten Schlegel tentiert und zum Predigen berechtigt; und ich predigte auch zuweilen und zwar mit Schall und Beifall. Ich kann nicht sagen, daß ich mir selbst so vielen Beifall gab, wiewohl ich merkte, daß ich Leichtigkeit und Flüssigkeit genug hatte. Ich hatte wenigstens einige vortreffliche Prediger gekannt und mir selbst ein Muster gestellt, das nicht leicht war. Ja grade hier auf Wittow, wo die Leute anfingen etwas von mir zu meinen, kam ich ganz von dem Entschlusse ab, ein Geistlicher zu werden. Warum? Ich bildete mir ein, weil ich nach und nach erfuhr, daß die meisten Stellen in Pommern und Rügen, welche Königlichen Patronats waren, oft fast wie durch Kauf und Verkauf, gelindest doch durch nicht immer löbliche Verbindungen in Stockholm gewonnen [81] wurden; es war aber wohl, weil die Welt mich nach einer andern Seite hinzog, weil ich den rechten Beruf nicht hatte, weil ich auch, wenn gleich mir damals noch unbewußt, von der allgemeinen theologischen Lauigkeit der Zeit ergriffen war. So ist es also in der Ordnung gewesen, daß ich mich von den fetten rügenschen Pfründen nicht habe locken lassen, sondern den schwarzen Rock nicht angezogen habe. Denn locken konnten rügensche Pfarrstellen wohl den pfaffischen und weltlichen Sinn, deren mehrere bei den damaligen Kornpreisen 2000 und 3000 Thaler schwer Geld eintrugen, deren Inhaber Gerichtsherren ihrer Kirchdörfer waren, mit vier schwarzen Rappen vom Bock fuhren und sich Kirchherren schrieben. Nein, nicht alle – auch mein Kosegarten nicht, den kein Hochmutsteufel plagte, – sondern nur einer, der auch andere schnurrige Eitelkeiten zur Schau trug. Ich traf diesen Herrn einmal in einer Gesellschaft von Edelleuten und fragte ihn, warum er sich bei einer öffentlichen Ankündigung Kirchherr unterschrieben habe mit einem in Rügen ganz ungewöhnlichen Worte. Er entgegnete mir keck, das sei sein gebührlicher Titel und schicke sich in der Insel für einen Gerichtsherrn recht gut, um so mehr, da in Schweden selbst alle gemeine Pfarrer ihn gebrauchen. »Ei!« entgegnete ich ihm da etwas boshaft: »Herr Pastor, Sie haben das Wort nur unrichtig übersetzt: das schwedische Wort Kyrkoherde ist ebenso weit vom Kirchherrn, als der umwandelnde Apostel Paulus vom Papst zu Rom: es heißt nicht Herr der Kirche, sondern Hirt der Kirche; ich denke, Sie bleiben beim Wort Pastor.«

Doch diese Anekdote beiseite hatte meine liebe Insel grade damals und zum Teil in den besten und ersten Pfründen mehrere durch Kenntnisse, Sitten und Charakter sehr ausgezeichnete Männer, von welchen ich nur den trefflichen Stenzler in Gartz, der leider früh heimgegangen war, die Pröbste Pistorius zu Poseritz, Picht zu Gingst, Schwarz zu Wyk auf Wittow, die Superintenden Pritzbur zu Gartz und [82] Droysen in Bergen und meinen Doktor Kosegarten in Altenkirchen hier nenne. An solchen hätte sich ein junger Mann wohl aufbauen und für die würdige Führung des heiligen Amts bereiten und stärken können.

Ich wollte denn der Geistlichkeit Ade sagen und mich in die volle Weltlichkeit hineinstürzen. Ich war jetzt achtundzwanzig Jahre alt, und eine große Sehnsucht lockte mich die Welt zu sehen. Mein Vater reichte mir die Mittel, ich verstand mich zu behelfen; und so ging es ganz leidlich, wenn auch nicht freiherrlich, doch zuweilen herrlich. So bin ich denn anderthalb Jahre in mancherlei Abenteuern, die nicht hieher gehören, zu Fuß, zu Wagen, zu Schiff herumgepilgert vom Frühlinge 1798 bis in den Herbst 1799, habe ein Vierteljahr in Wien gelebt und mir das Ungerland betrachtet; dann über die Alpen nach Italien. Dort hat mich in Toskana der wieder ausbrechende Krieg überrascht und mich geschwinder weggetrieben, als ich gedacht hatte; ich habe Rom, Neapel und Sicilien nicht zu sehen bekommen. Als die Kriegsflamme aufzulodern begann, war ich in Nizza, dann in Marseille, den ganzen Sommer in Paris; den Herbst bin ich über Brüssel, Köln, Frankfurt, Leipzig, Berlin langsam heimgezogen A19. Auch diesen Ausflug, wie so vieles in meinem Leben, was ich leider beklagen muß, habe ich mehr aus Instinkt als für einen bewußten Zweck gethan. Ohne bestimmte Richtung und Ziel, ohne Vorbereitungen und Vorarbeiten für die Straßen, die ich durchlaufen wollte, bin ich fast zu leicht durch die Welt fortgeschlendert. Ich habe diese Reise fast wie Bruder Sorgenlos gemacht, fast, als wäre ich ein hochgeborner Reichsfreiherr gewesen, die straffe Börse und die blanken Wechsel desselben abgerechnet. Indessen ich bin später gewahr geworden, daß in mir ein dunkles Ziel lag, das ich damals nicht gewahrte. Ich habe die Dinge, Menschen und Völker dieser Welt doch sehen und erkennen gelernt. Ich glaube aber nun, da mir die Augen über dem, was ich alles ersehen habe, oft übergehen wollen, es wäre [83] ein Unglück, wenn ein Mensch sehen könnte, wann und wodurch ihm auf seinem Pilgerlaufe das Gesicht wächst.

Ich war wieder in der Heimat. Die Frage war: Was nun? Diese ward zunächst durch die Liebe entschieden. Eine alte Liebe, zuweilen mit dünnen weißen Aschen bedeckt, hatte fünf Jahre im Stillen gebrannt; sie schlug ans Licht auf. Durch sie bin ich nach Greifswald gekommen und Universitätsmann geworden. Diese kleine unberühmte Universität Greifswald war eine der ältesten deutschen Lehranstalten und besaß so bedeutende Güter und Stiftungen, daß sie wenigstens etwas besser und berühmter hätte sein können, als sie war. Aber ihre Leitung und Verwaltung ruhten auf keinen ernsten und sicheren Grundsätzen, sondern liefen ganz zufällig, wie die obersten Leiter eben wollten. Denn sie war, außer andern Übeln, die sie drückten, erstlich in eine Versorgungsanstalt für die Schweden ausgeartet. Manche gute schwedische Köpfe, die in Lund und Upsala oder als Dichter und Redner auf Reichstagen nachher berühmt geworden, haben in Greifswald ihre Studien gemacht und ihre akademischen Anfänge als außerordentliche oder ordentliche Professoren. Zweitens war sie eine Versorgungsanstalt für die Söhne und Töchter der Professoren und mancher angesehenen Familien der Stadt. Ich heiratete die natürliche Tochter des Professors der Naturgeschichte, Dr. Quistorp, Charlotte Marie und ward Privatdocent und das folgende Jahr, nicht ohne den Einfluß dieser Familie, Adjunkt der philosophischen Fakultät mit etwa 300 Thalern Gehalt, im Jahr 1805 außerordentlicher Professor mit einer Verbesserung von etwa 200 Thalern. Meine Frau schenkte mir im Sommer 1801 einen schönen Sohn, der ihr das Leben kostete.

An dieser kleinen Universität war ich zehn Jahre befestigt, von welchen ich ungefähr die Hälfte auf Reisen und in Schweden zugebracht, die zweite Hälfte gelehrt habe. Als ich antrat, waren einige sehr würdige Alte da und etwa ein halbes Dutzend Jüngere, die meistens erst zugleich mit mir [84] begannen und von welchen einige berühmt geworden sind: Parow, Rudolphi, Rühs, Schildener, Muhrbeck A20. Dies brachte durch das junge Blut etwas Belebung und Erregung in den Greifswalder Schlaf. Es hat sein Mißliches mit solchen Mühlen der Gelehrsamkeit, welchen das Wasser d.h. die Studenten, zu sehr fehlt; es tritt leicht Vertrocknung und Erstarrung oder Verfaulung ein. Es hat sein Gutes mit ihnen, daß der Wetteifer die jungen Kräfte beim Anspannen und Ziehen nicht übertreibt und zur Notreife austrocknet und auf solche Weise Talente, die später wirksam werden können, zersplittert und aufreibt. Manche von uns, obgleich wir nach Art des Landes leicht mit dem Tage fortlebten, waren doch strebsam und fleißig und lernten beim Lehren, welches die herrliche Notschule ist, daß sie die Gewissenhaften nötigt, ein Chaos von Gesammeltem und Aufgespeichertem, was in ihrem Gehirn noch in völliger Unordnung über- und untereinander liegt, in Ordnung und Klarheit zu stellen. Ich begann als Lehrer mit allerlei, welchem ich kaum halb gewachsen war, blieb endlich bei geschichtlichen Vorlesungen stehen, hatte oft zahlreiche Zuhörer und war gesund und fleißig. Noch gedenke ich jener Tage neben manchen traurigen Erinnerungen mit Luft.

Außer den eben genannten jungen Männern lebte ich mit andern würdigen Altersgenossen und erprobten Freunden, deren Namen ich mit Dankbarkeit hieher setze: Dr. Billroth, Dr. Gesterding (jetzt beide Bürgermeister der Stadt), Dr. Ernst von Gagern und Wilhelm Ledebur, auch ein ehemaliger Sundenser, den wir leider frühe begruben. Unter den älteren waren die würdigen Männer, Archiater Professor Weigel, Professor Muhrbeck der Alte, Generalsuperintendent Schlegel, Professor Dr. Ziemßen, Professor von Hagemeister, später Oberappellations- und Geh. Revisionsrat, und Oberappellationsrat Sonnenschmidt meine Gönner und Beschützer.

Doch ward von hier außer zu dem allerbesten älterlichen Hause, oft auch in die Insel Rügen aepilgert zu meinem [85] Patriarchen in Posewald, zum General von Dyke auf Losenlitz, und zum Superintendenten Pritzbur in Garz A21, auch zwei Patriarchen anderer Stufen, als der wackre alte Hinrich Arndt. Ich fühlte oft die Sehnsucht, diese herrlichen Menschen zu suchen, die ich in fünf, sechs Stunden von Greifswald erreichen konnte. Was ich da empfangen habe, das läßt sich auf kein Papier bringen. Es waren herrliche Abdrücke von Gottes Ebenbilde, drei Patriarchen, aus denen sich Kraft saugen ließ, wenn die lustigen Geister der Spekulation, die oft in dünner und unerquicklicher Gespenstigkeit wie Herbstwinde durch die dürren Stoppeln, durch die öden Bücherblätter hinpfeifen, einen in die kalte und leere Nebelwelt forttragen wollten.

Hier ward ich auch bald ein politisch schreibender und handeln müssender Mensch. Mein Freund Steffens hat ein Buch geschrieben des Titels: Wie ich wieder Lutheraner ward. Ich will hier wenigstens kurz andeuten, wie die einzelnen Keime nach und nach sich zu einem großen politischen Kraut oder Unkraut entwickelt und erhoben haben. Ich beschreibe hierin zugleich das ähnliche Keimen, Wachsen und Erstehen der Gefühle und Ansichten von Millionen deutscher Menschen.

Mit Recht betrachtet man den Anfang der französischen Umwälzung als den Punkt des Übergangs der sinnlich sentimentalen und ästhetischen Epoche zu der überschwänglich philosophischen und politischen, und als den Beginn des Erlöschens oder doch Untertauchens aller andern Gefühle und Ansichten. Aber in einem gewissen Sinn hatten sich bei mir doch schon viel früher, schon im Knabenalter manche eigentümliche und einseitige Ansichten festgesetzt, welche noch jetzt bei meinem schneeweißen Kopf oft besserer Warnung und Einsicht nicht weichen wollen. Ich hatte als kleiner Junge, als Zeitungsvorleser und Chronikenleser zwischen meinem neunten und zwölften Jahre schon gewisse politische Verhärtungen und Versteifungen. Ich brauche diese Worte absichtlich,[86] weil ich die Sache als Fehler in mir erkannt habe. Ich bin von jeher vielleicht ein übertriebener Königischer (Royalist) gewesen. Ich glaube, ich bin es geworden, wie die meisten Menschen ganz unbewußt etwas werden durch die ersten Gewöhnungen des frühen Alters. Mein Vater war wenig ein politischer Mann, er ließ selbst in späteren Jahren, wo die politischen Stürme auch zu unsrer Heimat immer näher und dräuender heranbrausten, zwischen 1800 und 1806, die Begebenheiten und die Urteile und Streite über die Begebenheiten meistens unbekümmert und lächelnd an sich vorübergleiten. Nur bei dem Namen Gustavs des Dritten von Schweden geriet er in Glut. Diesen und die Schönheit und die glänzenden Auftritte desselben hatte er in den ersten glücklichsten Jahren jenes Königs in Stockholm mit jugendlichen Augen gesehen. Auch hatte er höchstens für ein paar andere schwedische Namen noch einige Liebschaft. Alles andre blieb ihm fremd. Aber es waren zwei andre meiner Gefreundten, welche Feuer in mir anschüren konnten, der alte Hinrich zu Posewald und mein anderer Ohm und Pate Moritz Schumacher. Hinrich war ganz Schwede – war sein Großvater vielleicht in ihm wieder aufgelebt? – und riß mich mit seiner Heftigkeit unwiderstehlich in die Schwedenliebe und Schwedenverehrung hinein; er lebte auch, so viel sein niederer Lebensstandpunkt es erlaubte, in ihren Geschichten und in allen Geschichten und Anschauungen des gewaltigen norddeutschen und skandinavischen Luthertums. Darin konnte der herrliche Wasa, Gustav Adolf, wohl für Millionen Könige gelten. Wie sollte ich denn die Könige nicht angebetet und über alle Republiken, griechische, römische, platonische und fichtische, gestellt haben? Moritz Schumacher auf der andern Seite war ein heftiger Preuße ganz gegen die Neigungen meiner meisten Landsleute, welche, an eine gewisse gutmütige Lockerheit und sorglose Ungebundenheit mit großer einzelner Freiheit des schwedischen Wesens gewöhnt, jenseits der Peene etwas Korporalischfreudenloses und [87] Fiskalischhartes zu sehen glaubten. Moritz Schumacher war durch seine Art und Neigung ganz natürlich zu dieser preußischen Begeisterung gekommen. Er war ein seiner, hübscher, schlanker Mensch, mit einer trefflichen Gesangstimme und andern Talenten und liebte das Eitle und Blanke. Mein Vater war ein bäuerlicher und, obgleich nicht ungebildet, ein ganz bürgerlicher Mann und drängte sich nimmer zu Vornehmen und Adligen hinaus. Ganz anders aber mein Herr Ohm Moritz. Rügen wimmelte damals weit mehr als jetzt von kleinen Edelleuten, welche als Hauptleute oder Majore in ihrer Jugend im preußischen Heere gedient hatten. Diese suchte er, wie er nur konnte, auf und erzählte jedes Wort des gnädigen Herrn Hauptmanns und Rittmeisters, jeden Einfall, den die gnädige Frau ihm gegenüber hatte fallen lassen, als eine Gnade; ja, der Äpfel und die Birne, welche die Frau Majorin oder das gnädige Fräulein ihm beim Abschiede in die Tasche gesteckt hatte, bekam dadurch einen Geruch und Geschmack, als hätte er sie im Paradiesesgarten gepflückt. Auch trug er sich ganz, legte Schabracke und Sattel, schnallte Stiefeln und Sporen, drückte den Hut über Zopf und Locken wie ein alter preußischer Rittmeister. Von dieser seiner Gesellschaft holte er sich die preußische Farbe. Wie sollten diese Männer den Namen und die Thaten des großen Friedrich nicht vergöttert haben? Diese ritterliche Vergötterung trug er mit in unser Haus und blies also auch von dieser Seite etwas Königisches in mein Herz. Auch dieses große Königsbild ward so vor meine Kindheit gestellt und neigte meinen politischen Glauben der Monarchie zu. Ich bin später der Nichtachtung des großen Helden beschuldigt worden A22; ich glaube es nicht verdient zu haben 10. Ganz [88] gemäß solchen ersten Jugendlehren und Jugendeindrücken geschah es denn auch, daß ich kleiner Zeitungsleser bei Debatten immer für England gegen Amerika stritt, da doch die meisten Alten amerikanische Parteigänger waren.

Und die Franzosen und ich? Auch da war mein politischer Glaube wohl in erster Jugend entstanden. Ich habe oben mehrmals erwähnt, wie ich in den Jahren, wo wegen der kleinen Umstände der Eltern mir aller regelmäßig fortlaufende Unterricht versagt war, doch mit reichlicher Lesung alter Geschichtbücher und Chroniken gefüttert ward. Unter diesen waren auch die deutschen und ins Deutsche übersetzten Bücher Pufendorfs und anderer, welche den dreißigjährigen Krieg und die herrschsüchtigen Hinterlisten und mordbrennerischen Thaten Ludwigs des Vierzehnten beschrieben haben. Dies hatte mir Abneigung, ja oft Abscheu gegen das ganze mitspielende Volk eingeflößt. Daher freute ich mich zur Zeit jenes Zeitungsvorlesens über jede ihrer Niederlagen und war im Haß gegen sie auch ganz Engländer.

Nun brach in meinem blühenden Jünglingsalter die große französische Umwälzung und mit ihr die große Umwälzung und Umrollung der Herzen von halb Europa los. Diese ward allenthalben und auch bei uns im Hause für und wider heftig bestritten, hatte aber auch da mehr Freunde als Feinde; und ich mußte mich trotz meiner Abneigung gegen das Volk doch oft zu den ersten gesellen, weil die Verschuldungen der Regierungen vor Ludwig dem Sechzehnten entsetzlich gewesen, weil manche von den Führern aufgestellte Lehren und Grundsätze unleugbar gerecht und heilig waren, wie sehr sie später auch entheiligt und befleckt worden sind. [89] Doch jammerte mich jeder französische Sieg über die Deutschen und über die andern gegen sie Verbündeten, ohne daß ich Deutschland schon nach voller deutscher Pflicht gefühlt hätte. Ich saß noch weit vom Schauplatz und Getümmel am Baltischen Meere und hatte noch mehr ein schwedisches als deutsches Herz. Ich war wohl heftig und ungestüm, auch gewiß keine knechtische und dienerliche Seele, aber nicht geboren, mich mit einer Schwärmerei, welche selbst den Greis Klopstock hat Lieder und Gegenlieder singen lassen, in ein Chaos verworrener und nebelvoller Ansichten und Leidenschaften hinabzustürzen. Vielleicht bin ich dazu zu sehr als Philister geboren, der gern sogleich von allem klaren Bescheid haben möchte, mag auch zu viel von jener bleiernen Schwere in mir tragen, welche in dem charakteristischen Fluche des Volkes Schwere Not die ursprüngliche Weltansicht desselben ausdrückt, wie der Schwede mit den Teufeln und die romanischen Südländer bei erregteren Gefühlen mit jenem Dinge, welches die größte sinnliche Luft anspielt, um sich werfen müssen. Diese philistrige Natur, welche das Edelste und Höchste in seiner allgemeinsten poetischen Reinheit anzuerkennen sich sträubt, mag sich schon in den horazischen Versen, welche ich in die Stammbücher meiner Kommilitonen zu malen pflegte, offenbaren, als da sind: Nil admirari und Perfer et obdura, daß ich mich also früh schon gegen die erhabensten Täuschungen sträubte.

Ich hatte endlich das Volk selbst gesehen, und sein Liebenswürdiges und Leichtes wie sein Trügerisches und Lügenhaftes war mir kein Geheimnis geblieben. Ich war durch Belgien und längs dem Rhein langsam ins Vaterland zurückgezogen, hatte mich in Brüssel, Aachen, Köln, Koblenz und Mainz aufgehalten und allenthalben die von jenem übermütigen Volke zertretenen und geschändeten Trümmer der alten deutschen Herrlichkeit gesehen A23. Ich hatte Unmut und Ärger genug, aber wahrlich noch keinen rechten Zorn empfunden. In Frankfurt und bei Höchst war ich mitten[90] unter Gefechte geraten. Der französische General Baraguai d'Hilliers hatte mich mehrere Tage in Frankfurt eingesperrt; am Main waren die Plänkler an beiden Ufern hin und her gesprengt; der Spessarter Landsturm Albinis A24 hatte mich umbraust. Das war meinen Augen und Ohren noch nicht viel mehr als ein Schauspiel gewesen, obgleich ich mich allerdings von Herzen gefreut haben würde, wenn durch einen Engel Gottes, wie weiland den Scharen Sanheribs geschehen, die Franzosen um Frankfurts Mauern in einer Nacht alle als Leichen gelegen hätten. Aber nicht lange, so erwachte der Zorn, ach! der freilich kein Glück bedeutende Zorn, der mir aber doch über manchen schweren Tag hingeholfen, mich an manchem schwersten Tage sogar beglückt hat. Denn glückselig ist der Mensch nur in dem Maße, als er am gewaltigsten empfindet, wenn nämlich das Empfinden der Art ist, daß ihm das Denken darüber nicht ausgeht; denn sonst wird es ein zermalmender Mühlstein.

Napoleon war einige Tage nach meiner Abreise von Paris aus Agypten zurückgekommen. Ich sah die herrische Gestalt der Zeit sich schwingen und fortschwingen, folgte seinen Listen, seinen Schlachten, seinen Weltklängen und Faustgriffen. Begriff ich ihn schon klar? Ich weiß nicht; aber nach der Schlacht von Marengo wandelte mich ein Grauen an vor dieser Gestalt, vor dieser von so vielen und von so hohen Menschen vergötterten Gestalt: es schien ein unbewußtes Grauen vor dem Jammer der nächsten zehn Jahre zu sein. Der Zorn aber, ein Zorn, der bei der deutschen und europäischen Schmach oft ein Grimm ward, kam mit dem Frieden von Luneville und mit den schimpflichen Verhandlungen und Vermäkelungen, worin Talleyrand und Maret des Vaterlandes Los und Lose ausschnitten und ausfeilschten. Die Jahre 1805 und 1806 rissen endlich die beiden letzten Stützen nieder, woran sich ein bißchen Deutsches geschienen hatte halten und erhalten zu können. Jetzt war das Letzte geschehen, alles einzelne Deutsche, das Kleinste wie das Größte, [91] das Ruhmvollste wie das Dunkelste, lag nun in einem großen gemeinsamen Jammer über- und untereinander hingeworfen, und der übermütige welsche Hahn krähte sein Victoria! über den Trümmern der geschändeten Herrlichkeit. Da war der Tag gekommen, wo alle einzelne Gefühle und Urteile und Vorurteile und Lieben und Vorlieben in dem großen Schutt mit zusammensanken. Was Kaiser und Könige verloren und aufgegeben hatten, davon mußten sich endlich auch die Kleinen lösen! Als Österreich und Preußen nach vergeblichen Kämpfen gefallen waren, da erst fing mein Herz an, sie und Deutschland mit rechter Liebe zu lieben und die Welschen mit rechtem treuen Zorn zu hassen. Es war nicht allein Napoleon, nicht der listige, geschlossene, höhnische, in dem Lande, wo Honig Gift ist, geborne Korse, auf welchen die Lügenhaften später, als auf ihren großen Sündenbock allen Zorn Europas hinzuhetzen gesucht haben, den ich zornig haßte, den ich am meisten haßte – sie waren es, die Franzosen, die Trügerischen, Übermütigen, Habsüchtigen, die hinterlistigen und treulosen Reichsfeinde seit Jahrhunderten – sie haßte ich im ganzen Zorn, mein Vaterland erkannte und liebte ich nun im ganzen Zorn und in ganzer Liebe. Auch der schwedische Partikularismus war nun auf einmal tot, die schwedischen Helden waren in meinem Herzen nun auch nur andre Töne der Vergangenheit; als Deutschland durch seine Zwietracht nichts mehr war, umfaßte mein Herz seine Einheit und Einigkeit.

Fast zu gleicher Zeit erließ ich zwei kleine politische Schriften. Die erste unter dem Titel Germanien und Europa war nichts als eine etwas wilde und bruchstückige Aussprudelung meiner Ansicht der Weltlage von 1802; die zweite, Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen behandelte ein heimatliches Übel. Sein Inhalt war ungefähr folgender:

Die Inseln und Küstenländer dieser Ostsee sind nach geschichtlicher Wahrscheinlichkeit ursprünglich nicht von Slaven und Wenden bewohnt worden.

[92] Bei den Stößen, welche die Zerstörung des großen Gothenreichs durch die Hunnen in der letzten Hälfte des vierten Jahrhunderts und die fortwährende Drängung der Hunnen gegen Westen veranlaßt haben, ist die ungeheure Bewegung entstanden, welche Völkerwanderung genannt wird. In jenen Tagen, wo auf die Begebenheiten, die an der Weichsel und Oder vorgefallen sein können, auch kaum ein Schimmer von Licht fällt, sind die Slaven und Wenden auch wohl von Osten nach Westen weiter vorgeschoben und haben die verlassenen oder entvölkerten Landschaften Ostgermaniens besetzt.

Als die Deutschen, die nach dem großen Karl versunken waren, unter den Sachsenkaisern im zehnten Jahrhundert sich wieder erhoben, begannen sie ihre Herrschaft auch gegen Nordosten auszubreiten, und der Krieg gegen die slavischen Völkerschaften begann, ward unter ihnen und ihren Nachfolgern bis ans Ende des zwölften Jahrhunderts fortgeführt und endigte trotz der mutigsten und hartnäckigsten Gegenwehr der Slaven mit ihrer Ausrottung oder Unterjochung.

Die deutsche Herrschaft rückte vor, deutsche Städte und Festungen wurden gebaut, welche die wendischen Bewohner meistens ausschlossen, deutsche Einwanderungen und Ansiedelungen begünstigt und in den verwüsteten Landen unter und über den Wenden gegründet. Was früher germanisch gewesen, ward nach und nach wieder germanisiert.

Wir finden in Pommern und Rügen, als der neue Zustand geschichtlich ans Licht zu treten beginnt, fast allenthalben mehr oder weniger strenge Leibeigenschaft oder Hörigkeit, aber durchaus nicht in so eigenmächtig willkürlichem Maße, als im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert.

Aus den Gesetzen des sechzehnten Jahrhunderts sehen wir, daß Dienste und Leistungen fast allenthalben bestimmt, daß sie nicht ungemessen waren; daß auch die Edelleute keine Bauerhöfe oder Bauerdörfer willkürlich zerstören und in große mächtige Güter verwandeln durften.

Für die Insel Rügen, wo im achtzehnten Jahrhundert [93] die Willkür und Plackerei die ungemessenste war, und der Dienst und die Abhängigkeit der armen Leute sich als die härtesten darstellten, ergiebt sich, daß der Bauer dort im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert in einer viel besseren und unabhängigeren Lage war als in Pommern. Wir haben über die bäuerlichen Verhältnisse derselben die Schrift eines rügenschen Edelmanns, des Landvogts von Normann auf Tribberatz, im sechzehnten Jahrhundert unter dem Titel Rügenscher Landgebrauch A25 verfaßt. Es ist vorauszusetzen, daß der Landvogt, selbst ein adliger Gutsbesitzer, für die Bauern keine parteiische Darstellung abgefaßt hat. Auch verschweigt er ihre Gebrechen und Fehler keinesweges, sondern stellt sie dar als übermütig, streit- und schlagsüchtig, hoffärtig und wild und als solche, die es im ungebundenen und herrischen Wesen den Junkern fast gleich thun wollen. Das seien die natürlichen und heillosen Folgen zu großen Wohlstandes und übertriebener Freiheit, daß die Frechheit und der Übermut sogleich neben ihnen wuchere. Aus dem Landbuche erhellt, daß die rügenschen Bauren Gewinner waren, welche eine große Einlage in das von ihnen bewohnte Gut gemacht hatten; daß, wann sie freiwillig oder aufgekündigt (was an gesetzlich bestimmte Bedingungen gebunden war) von dem Gute zogen, ihnen die ganze volle Wehr, alle Gebäude nebst Saaten und Hofraide ausbezahlt werden mußten; sie waren auch bei ihrem Abzuge von jeglicher Gutspflichtigkeit frei und mochten als Leute ihres eigenen Willens ziehen, wohin sie wollten. Beim Todesfall und beim Antrit des Besitzers mußte das Besthaupt und der Gewinn entrichtet werden. Als Mitrichter und Mitschützer ihrer Rechte saßen sie bei Feld- und Gard- oder Kreisgerichten neben den Edelleuten und verheirateten – was dem alten Landvogt in seiner adligen Gestrengheit sehr mißfällt – ihre Söhne und Töchter häufig in adlige Geschlechter hinein.

Wir finden in jenem sechzehnten Jahrhundert beides in Pommern und Rügen eine Menge einzelne Höfe und ganze [94] Dörfer, wovon um die Mitte des siebzehnten auch keine Spur mehr da ist. Nach der Erlöschung des alten Herrscherstammes empfingen die Schweden durch die Friedensschlüsse, welche den scheußlichen dreißigjährigen Krieg endigten, das Land verwüstet, entvölkert und verknechtet. In solchem Zustande übernahmen es die Schweden, der früheren deutschen Zustände weder kundig noch sorglich. Auch die besten ihrer Verwalter und Einrichter wurden von den Vorteilen und Ansichten des pommerschen Adels und der pommerschen Juristen (worunter der berühmte Möwe, später von Mevius A26 obenan steht), welche an die deutschen Acker- und Landverhältnisse ganz das Maß des späteren Römischen Rechts legten, damals und in den folgenden Zeiten geleitet. So sind die wenigen leidlich oder mittelmäßig freien Leute in dieser Landschaft auf dem Lande fast ganz verschwunden, und alle Rechte, die wenigstens als Brauch und Herkommen noch bestanden hatten, in die böseste und unermeßlichste Knechtschaft hinein verdeutet. So ist es denn geschehen, besonders seit dem Schluß des siebenjährigen Krieges, seit den Jahren 1760 bis in die von 1790 hinein, daß der Bauerstand nicht nur allenthalben mit ungemessener Dienstbarkeit belastet, sondern durch Verwandlung der Dörfer in große Pacht- und Rittergüter endlich sehr zerstört worden. Diese Wut des sogenannten Bauernlegens (quasi castratio) herrschte nicht bloß bei den einzelnen Besitzern vom Ritterstande, sondern ergriff auch die Verwaltung des Domanii und der Güter der Städte und Stifter, wiewohl die Bauren, welche in den letztgenannten Besitzungen noch übrig sind, nicht mit ungemessener Willkür behandelt und mißhandelt werden durften. Kurz für das schwedische Pommern galt noch um das Jahr 1800 der Lichtenbergische Scherz in seiner vollen Bedeutung einer hübschen Preisfrage Eine Salbe zu erfinden zur Einschmierung der Bauern, damit sie drei-, viermal im Jahre geschoren werden können.

Diese Gräulichkeit hatte ich mit angesehen, und sie hatte [95] mich empört. In Rügen war noch in meinen Tagen eine Menge Dörfer verschwunden, und die Bewohner der Höfe waren als arme heimatlose Leute davongetrieben, so daß die früher Knechte gehalten hatten, nun selbst auf den großen Höfen wieder als Knechte und Mägde dienen mußten. Ja es gab Edelleute, welche große Dörfer ordentlich auf Spekulation kauften, Wohnungen und Gärten schleiften, große und prächtige Höfe bauten und diese dann mit dem Gewinn von 20000 und 30000 Thalern wieder verkauften. Dies veranlaßte an mehreren Stellen förmliche Baurenaufruhre, welche durch Soldatenentsendungen und Einkerkerungen gedämpft werden mußten. Auch wurden, wie es munkelte – was aber des verhaßten Gegenstandes wegen vertuscht ward – einzelne böse Edelleute und Pächter gelegentlich wie Tiberius durch nächtliche Überfälle unter Kissen erstickt. Aber dergleichen Gräulichkeiten waren nur eine kurze Warnung, und die Dinge liefen darum nichtsdestoweniger ihren gewöhnlichen häßlichen Lauf.

Wie diese Verwüstung der Menschen der Hartherzigkeit oder Habsucht unbarmherziger oder verschuldeter Herren preisgegeben war, so war es auch die Persönlichkeit der an die Scholle gebundenen Leute. Fast in allen deutschen Landen, wo Leibeigenschaft oder Hörigkeit herrschte, war durch festen Brauch oder bestimmtes Gesetz ein leidliches Maximum gesetzt, wodurch ein Mannsen oder Weibsen oder Kind aus solchen Banden gelöst werden konnte. Selten überstieg es für den Mann zwölf bis zwanzig, für das Weib zehn, für das Kind fünf Reichsthaler. Hierlandes war gar kein fester Brauch noch sicheres Gesetz, sondern mancher Herr ließ sich für die Freiheit von einem rüstigen und schönen Jüngling hundert, ja wohl hundertundfünfzig und von einer ähnlichen Magd fünfzig oder sechzig Thaler bezahlen, konnte auch die Freilassung überhaupt gegen jede Summe ganz verweigern.

Nach den Gesetzen sollten die Bauren, deren Wehr gelegt ward, nebst ihrer ganzen Familie wenigstens mit voller [96] Freiheit und mit ihrer ganzen lebendigen Hofraid ausziehen, welche oft einen ganz beträchtlichen Wert ausmachte, da es Vollbauren gab, die wohl zwölf Pferde, zehn bis zwölf Kühe, einige Ochsen und dazu Schweine, Schafe und Geflügel auf ihrem Hofe hegten. Hätte man ihnen dies alles nebst der Freiheit lassen müssen, so hätte mancher schlechte Herr sich vielleicht zweimal bedacht, ehe er zum Zerstören und Abtreiben gegriffen hätte. Ich erweckte nun meinen lieben Bruder Fritz, der damals als Tribunalsadvokat und später als Bürgermeister in der Stadt Bergen auf der Insel Rügen lebte, und er trieb durch ordentliche Prozesse einige Edelleute, zu Gunsten der Bauren zu Paaren. Er zog sich dadurch bittern Haß und auch wohl Nachteile und Verluste seiner Einnahme und Weltstellung zu, doch gewann er auch unter den Milden und Frommen des Adels mehrere treueste Freunde. Solche waren und blieben unter andern der alte würdige Herr von Scheelen zum Stedar und der Freiherr von Barnekow auf dem paradiesischen Ralswyk A27.

Mein Büchlein machte natürlicherweise Haß und Lärm, nicht bloß bei dem Adel, welchen ich darin am meisten anzuklagen schien, sondern auch bei andern Halbvornehmen und bei manchen reichen und junkerisch gesinnten Großpächtern, welche schrieen, ich sei ein Leuteverderber und Baurenaufhetzer. Selbst manche Recensenten schienen mir dies in die Schuhe zu gießen, und einer sagte mit dürren Worten: es stehe das Verhältnis zwischen den Großgütern und Bauren im schwedischen Pommern gar so übel nicht; man merke es meiner Schrift wohl an, daß ich Bauren angehöre und den Druck in meiner Familie gefühlt habe: das habe mich denn wohl, wenngleich unabsichtlich und unbewußt, die Dinge oft einseitig und parteiisch betrachten und darstellen lassen.

Bei dieser Gelegenheit muß ich gleichsam ex domo pro domo sprechen. Mein Vater war freilich eines Schäfers Sohn und der Freigelassene eines Grafen, aber ich hatte von Kindauf nichts von diesen Verhältnissen gefühlt. Als [97] ich ins Knabenalter trat, war er ein unabhängiger und angesehener stralsundischer Gutspächter; als ich Jüngling ward, wohnte er auf dem schönen ehemaligen Grafensitz Löbnitz und hatte Macht und Patrimonialgerichtsbarkeit wenigstens über dreihundert Seelen. Es ward aber mit jenen Patrimonialgerichtsbarkeiten, welche einige uns jetzt noch als ein gar hübsches patriarchalisch-väterliches Verhältnis zwischen dem großen Grundbesitzer und seinen Bauren anzupreisen wagen, so unverantwortlich leichtsinnig gehalten, daß sogar das Königliche Domanium, nicht allein der Adel sie dem ersten besten oft rohesten und gemeinsten Pächter mitverpachteten. Mein Vater war kein Mann, irgend ein Recht aus Habsucht oder Hartherzigkeit zu mißbrauchen; aber ich habe von andern genug kleine und große Frevel üben sehen, auch dann noch üben sehen, als für die Bewachung dieser so vielen Mißbräuchen und Willküren ausgesetzten Untergerichte in der Person des nachherigen Oberappellationsrats Sonnenschmidt ein sehr würdiger und gelehrter Oberlandesfiskal angestellt ward. Und groß ist meine Freude gewesen, als für diese so vielen Ungerechtigkeiten preisgegebenen Gerichte mehrere allgemeine Kreisgerichte eingesetzt sind A28.

Aber gegen mich tobten nun nicht bloß Haß und Lärm, sondern mir ging eine förmliche Anklage zu Leibe. Mehrere Edelleute, an ihrer Spitze ein Freiherr Schultz von Ascheraden auf Schloß Nehringen bei Demmin, ein Käufer und Vermäkler von Bauerdörfern in der oben erwähnten spekulativen Weise, und ein Brüderpaar von Bagevitz in Rügen, die sich in ihren Geschlechten sehr weise däuchten, stellten sich zusammen und lieferten mein Buch in die Hände meines Königs Gustav des Vierten Adolf, und zeigten ihm rot unterstrichen mehrere Stellen in demselben, wo ich über einzelne längst verblichene schwedische Herrscher in Beziehung auf die Regierung meiner Heimat einige, wie ihnen däuchte, zu freie und ungebührliche Urteile gefällt hatte. Die Herren hätten mir gar gern einen Majestätsprozeß auf den Hals gehetzt. [98] Der König in erster Aufwallung hatte das Buch mit seiner gefährlichen Bleifederröte an den damaligen Generalgouverneur über Pommern und Kanzler der Universität Greifswald, Freiherrn von Essen, geschickt mit dem Auftrage, den frechen Schriftsteller zur Verantwortung und Untersuchung zu ziehen. Der General von Essen lud mich nach Stralsund 11, deutete mir die Personen meiner Ankläger ungefähr an, welche sich aber auch an andern Stellen schon hatten laut vernehmen lassen und zeigte mir die angeröteten Gefährlichkeiten mit der Frage: Wie ich mir aus dem schlimmen Handel zu helfen gedenke? denn der König scheine höchst angeblasen und entrüstet. Ich bat ihn um das Buch und um eine Bleifeder, unterstrich nun auch eine Menge Stellen, worin die Gräulichkeit und Ungerechtigkeit dieser Verhältnisse dargestellt war und bat ihn, er möge diese nun auch Sr. Majestät zur Ansicht und Betrachtung vorlegen. Das hat er gethan, und der König hat geantwortet: »Wenn dem so ist, so hat der Mann recht.« Und so bin ich nach Greifswald zurückgefahren, und ist mir auch kein Haar gekrimmt worden. Vielleicht haben die von meiner Hand unterstrichenen Stellen mit beigetragen, daß die Leibeigenschaft nach einigen Jahren durch jenen König aufgehoben und du Patrimonialgerichtsbarkeit durch Königliche Kreisgerichte ersetzt ist.

Nach diesen und andern kleinen Arbeiten meiner Greifswalder Lebensjahre beschloß ich meine Reise nach Schweden zu machen und einen Wunsch zu befriedigen, den ich lange im Herzen getragen hatte, jenes nordische Land, welches zum deutschen Volke und zur deutschen Geschichte so viele Beziehungen hat und zu meiner Heimat damals die nächste Beziehung hatte, durch eigne Anschauung und Mitlebung lebendiger kennen zu lernen, als ich es durch Bücher und [99] durch die vielen bei uns lebenden und verkehrenden Schweden bisher erkannt hatte A29. Ich begehrte zu dieser Reise, die ich ganz auf eigne Kosten machte, Urlaub und erhielt ihn. Diesmal zu meinem großen Schmerz. Denn eben als ich ihn erhalten hatte, traf ein Brief von einem reichen Freunde und Landsmann aus Hamburg ein, der mich einlud, mit ihm ganz auf seine Kosten, bloß damit er einen heitern und beherzten Reisegesellen hätte, auf anderthalb Jahre einen Durchflug durch die ganze pyrenäische Halbinsel zu machen. Wie gern hätte ich diese Seltenheit benutzt! aber ich hatte mich so gefesselt, daß ich nicht wohl zurück konnte: denn ich hatte meinem Urlaubsgesuch für Schweden derlei Gründe untergelegt, deren schnelle Aufgebung den Freiherrn von Essen erzürnen konnte.

So fuhr ich denn im Herbst 1803 nach Schweden und kam nach einem vollen Jahre im Herbst 1804 zurück, zu einer Zeit, wo der politische Teufel in Nord-und Süddeutschland ungestümer und gewaltiger zu rumoren anfing. Bald kam das Jahr 1805 mit dem österreichischen Unglück, dann das schrecklichere Jahr 1806, welches Preußen niederwarf. Jetzt flog mein Erster Teil des Geistes der Zeit in die Welt. Ich saß und lag jenen Sommer des Jahrs 1806 in Stralsund, wo ich in der Regierungskanzlei für die! schwedischen Angelegenheiten arbeitete. Ich sage ich lag. Ich ward in einem Zweikampf mit einem schwedischen Offizier, der den schönen apollischen Beinamen Gyllensvärd (κρνσάωρ) führte, von einer Kugel durchschossen und lag ein paar Monate auf dem Bette hingestreckt. Ich habe hierüber nichts zu sagen. Man lehrt du sollst nicht töten, du sollst nicht zweikämpfen; aber es giebt hier gar wunderliche Fälle. Wir saßen, ich unter mehreren liebsten Freunden, beim Trunke in einem öffentlichen Garten, die Herzen vom Wein durchglüht, die Gespräche munter. Da ließ der Schwede ein schlechtes Wort über das deutsche Volk fallen, grade indem ich ihm sein schwedisches ins Gesicht lobte. Es ward [100] mir zu Mute wie dem Moses in Ägyptenland; wir gerieten aneinander und schossen den dritten Tag eine halbe Stunde von Stralsund am Meeresstrand auf fünfzehn Schritt aufeinander. Als die Kugel mich durchfuhr, sank ich wie in Ohnmacht zusammen und glaubte, ich hätte den Tod im Leibe. Es war etwa sechs Uhr abends, der schönste Abendsonnenschein, und ich grüßte mit liebenden Augen die gegenüberliegenden Küsten meiner schönen grünen Insel wie zum letztenmal. Aber das war nur ein fliegender Zuck der Natur gewesen, bald stand ich wieder selbstmächtig auf den Beinen, ging mit meinem Sekundanten in die Stadt, ließ mich zerschneiden und verbinden und mußte dann freilich noch ein sechs, acht Wochen auf dem Streckbrett liegen. Sonderbar!? als die Kugel in mich hineinfuhr, war ihr Marsch mir ein ganz bekanntes Gefühl. Grade mit demselben Gefühl war ich im Traum einigemale von Kugeln durchbohrt: so als wenn man einem einen kalten Eiszapfen durch den Leib stieße. Ich fragte: »was ist das? und woher?« O Origenes!

Kurz vor diesem Kugelspiel hatte ich in Greifswald eine Todesangst ausgestanden höchst lächerlicher Art, wobei ich meines asmussischen Riesen Goliath und der mit frommen Reimen bemalten Milchschüssel gedenken konnte. Ich ging nämlich auf zum Königlichen Hoflager, mich unterthänigst zu neigen und zu bedanken, daß Se. Majestät mich zum außerordentlichen Professor mit Gehaltszulage ernannt hatte. Der König empfing mich in einem weiten Saal ganz allein mit seinem gewöhnlichen feierlichen Ernst; aber hinter ihm standen zwei Gemächer offen, wohin mein Gesicht stand und wo der General Armfelt und der Oberkammerherr Graf Stenbock miteinander Possen trieben und zwar mit so lächerlichen Männchen, daß es der Gegenwart der königlichen Majestät bedurfte, damit ich nicht in Lachen ausplatzte. Da hatte ich meine Angst: denn Possierlicheres gab es nichts als jenen Stenbock, er mochte nun selbst Possen machen oder mit sich machen zu lassen geruhen. Seine ganze Gestalt, [101] Stellung und Gebärde war mehr als lächerlich: wie ein Hasengesicht auf der Lauer. Ein weit vom Stamme gefallener Enkel des großen Feldherrn Karls des Zwölften.

Gegen Michaelis waren meine Arbeiten in Stralsund geendigt, und ich war zu meinem Vater nach Trantow gegangen, einem Königlichen Gute bei Loitz an der Peene, wo er seit zwei Jahren wohnte. Hier erreichten uns die Nachrichten und bald auch die Flüchtlinge der Schlacht bei Jena. Da sich an diesem Grenzstrom bald Freund und Feind zu drängen begannen, so begaben wir uns nach Stralsund, von wo der Vater nach Rügen und ich nach Schweden ging. Bei den verworrenen oder vielmehr gar keinen tüchtigen Kriegsanstalten in der kleinen schwedischen Provinz war wenig Tröstliches zu hoffen. Ich hatte nicht Luft, mich allenfalls einfangen und wie einen tollen Hund von den Welschen totschießen zu lassen A30.

Ich kam also gleich einem geächteten Flüchtling grade an meinem Geburtstage, den zweiten Weihnachtsfeiertag dieses Jahrs 1806 in Stockholm an, wo ich Freunde und Bekannte genug aus alter Zeit hatte und bei meinem Freunde Karl Nernst, Direktor des deutschen Lycei, fürs er ste Quartier nahm. Es dauerte kaum einige Wochen, so hatte ich dort auch eine bestimmte Anstellung. Mein Freund, der Professor der Rechte Dr. Schildener aus Greifswald und der Kammerrat von Schubert aus Wolgast waren dahin berufen, um an einer Überarbeitung und Übersetzung der schwedischen Gesetze für unser kleines Ländchen zu arbeiten. Schubert war auf Urlaub nach Hause gegangen und blieb zu Hause, und ich wurde in seine Stelle eingerückt und erhielt seine Tagegelder. Hier bin ich denn einige Jahre mit dieser vergeblichen Arbeit und auch mit einzelnen kleinen Arbeiten in der Staatskanzlei unter dem Kabinettssekretär Wetterstedt beschäftigt gewesen; auch schwedische Ankündigungen und Manifeste während des im Jahr 1808 ausbrechenden Russenkrieges und englische und spanische Sachen habe ich gelegentlich ins Deutsche übersetzen[102] müssen, welche über den Sund mit einzelnen Reisenden und nach Preußen hin mit Schiffen übers Meer ausgeworfen wurden. Dies geschah auch mit der berühmten Staatsschrift des spanischen Ministers Don Pedro Cevallos A31, worin er den Gang der Hinterlisten und Zettelungen aufdeckte, wodurch die spanische Königsfamilie vom Thron und ins Elend und in den Kerker verlockt worden. Hiedurch hätte ich einen meiner besten Freunde unglücklich machen können. Ich schickte nämlich im Sommer des Jahrs 1809, wo ich entschlossen war auf jeden Fall wieder nach Deutschland zurückzugehen, mit einem nach Stralsund absegelnden Schiffe einige Koffer mit Büchern und Kästchen an meinen lieben Freund Reincke. In dem Kästchen, worin allerlei kleine schwedische Andenken lagen, hatte sich unter anderm auch ein Exemplar jener Schrift des Cevallos in ein Schublädchen verkrochen. Die Zöllner der Stadt, mit gebornen Franzosen gemischt, hatten alles auf das schärfste durchsucht, aber zum Glück dieses Papier übersehen. Als Reincke aber das Kästchen im Hause hatte, stieß er diese versteckte Giftschlange, welche ihm bei der Unsicherheit und Verräterei so leicht hätte verderblich werden können, heraus und ließ sie flugs in Flammen auflodern.

Ich hatte liebe Freunde in Stockholm, auch pommersche Landsleute von allen Ständen, vor allen meine geliebten Getreuen Schildener und Nernst und einen ältesten geprüftesten Freund, den königlichen Leibarzt Freiherrn von Weigel, die mir ein großer Trost waren; auch manche edle Schweden, die ich in den Jahren 1803 und 1804 kennen gelernt hatte. In der anmutigen schönen Stadt und unter dem gebildeten gastlichen Volke ließ es sich schon aushalten. Indessen diesmal war ich unfreiwillig da (und drei Jahre unfreiwilliger Abwesenheit aus dem Vaterlande sind eine lange lange Zeit), und das Gewitter, welches mich aus der Heimat getrieben, zog sich im Herbst 1807 auch über Schweden zusammen und das folgende Jahr 1808 ward ein Jahr scheußlichen Verrats [103] in Finnland und großen Unglücks für dieses von mir so sehr geliebte Land. Ich hatte dort Freunde, ich genoß Freundschaft und Liebe mehr, als ich verdiente; aber doch waren diese Jahre auch für mich sehr unglückliche Jahre. Erstens, wie hätte ich nicht des Jammers meines geliebten Vaterlandes jenseits des Meers gedenken sollen? und zweitens, wie hätte ich hier froh und friedlich leben sollen? hier, wo mit dem Jahre 1808 sich alles in Hader und Zwietracht aufzulösen drohte, das Volk in Rotten und Parteien zerspalten, von welchen die meisten den Welschen Glück wünschten, der König starr und unerschütterlich in seinen Entschlüssen, aber ebenso starr im Handeln, d.h. im Nichthandeln, wo es galt, ein königliches Wagen und Wollen zu zeigen? kurz, mitten unter den Zeichen alles Verderbens und Untergangs, wo die vorbedeutenden und weissagenden Unglücksraben des Schicksals mit ihren schwarzen Flügeln einem jede Sekunde um das Haupt schwirrten? Endlich im Frühling des Jahrs 1809 kam das Getümmel, das den König in den Kerker und bald vom Thron stieß, ein unvermeidlicher Sturz, den ich vorhergesehen hatte, und der mich nichtsdestoweniger doch tief betrübte A32.

Indessen obgleich jedermänniglich mich als einen Franzosenhasser und als keinen Bewunderer des von den meisten Schweden vergötterten Napoleon kannte, so muß ich doch der Wahrheit zu Ehren gestehen, daß auch nach des Königs Fall kein einziger Schwede mich das unedel hätte empfinden lassen. Denn selbst Freunde hatte ich, mit welchen ich über diesen Punkt immer im Streit lag. Doch ward es mir jetzt herzlich schwermütig und unheimlich, und oft so heiß, als wenn mir die Sohlen unter den Füßen brennten. Dieses schmerzliche und brennende Gefühl wuchs, als die neuen deutschen Getümmel an der Donau und in den Alpen ausbrachen und in einzelnen Blitzzuckungen durch ganz Deutschland fortzitterten. Diese zitterten selbst einige Tage nach Schweden hinüber. Es war die Nachricht dahin gekommen, [104] Schill sei mit 10000 Mann in Stralsund eingerückt und warte nur auf englische Schiffe, um nach Schonen überzugehen und dort für den gefangenen Gustav Adolf die Fahne aufzuwerfen A33. General Schwerin, mein Freund, kam eines Morgens zu mir und erzählte mir lachend diese verbreitete und hierher geflogene Nachricht, und wie einige anfingen sich zu fürchten, »aber,« setzte er ernster hinzu, »ich glaube nicht daran; man schüttelt die Zehntausende nicht so aus dem Ärmel.« Den nächsten Vormittag begegnete ich ihm im Park zu Haga; er kam heftig auf mich zu, drückte mir die Hand und sprach, indem ihm die Thränen aus den Augen stürzten: »Schill mit seinen Zehntausend ist hin, er ist tot, die Dänen und Holländer haben ihn in der Fährstraße abgeschlachtet. Noch muß vor dem Satan alles fallen.«

Ich machte denn meine Sachen allmählich fertig, schaffte mir Wechsel und Pässe und fuhr gegen das Ende des Sommers wieder gegen Süden. Ich hatte durch einen treuen Freund doppelte Pässe, die einen auf England, die andern auf Deutschland genommen. In Schweden nahm ich der Sicherheit wegen (ich meine, zwei Menschen nur wußten meine wahre Reise), weil die halbe Welt mit wälschen Helfern und Spähern bedeckt war, von den Leuten Abschied, als wenn ich über Gothenburg nach England ginge. Ich aber fuhr nach Blekingen und segelte im Anfange des Septembers mit einem preußischen Schiffe von Karlshamm nach Rügenwalde ab, wo ich nach geschwindester Fahrt mit einem mächtig treibenden Winde als Sprachmeister Allmann landete. Von hier fuhr ich den folgenden Tag mit einem Küstenschiffchen nach Kolberg. Denn ich wollte mich nicht gern der Reise auf Postwagen und mehr mitten im Lande anvertrauen, weil ich fürchtete, es könne mir das Spiel des Zufalls dort unwillkommene Bekannte zuführen; ich könne auch vielleicht auf französische Zöllner und Schnüffler stoßen. Als Wandrer aber nach meiner [105] Weise bei Nacht und Nebel und auf wenig betretenen Pfaden durch Brüche und Wälder mich durchzuschlagen konnte ich hier nicht brauchen. Denn ich war diesseits der Oder ein Fremdling und hatte früher nie einen Fuß hierher gesetzt; wozu noch kam, daß ich wegen der langen Abwesenheit aus Deutschland der einzelnen Zustände in diesen Gegenden völlig unkundig war.

Kolberg, obwohl durch Gneisenau und seine tapfern Krieger und durch Schills Husaren wieder mit neuen Lorbeern gekrönt, warf doch in dieser Zeit einen schwarzen Schatten des Todes auf mich. Ich sah auf der Haide preußische Husaren und Artilleristen exerzieren, sah die Schanzen am Meer, worin und worum so blutig gefochten war, gedachte der Schatten der vor den grünen Wällen gefallenen Helden; aber meine Stimmung war der weiten kahlen Sumpfhaide und dem darüber hinwehenden Nebelbrodem der Salzwerke und dem öden Geschwirr der kahlen und entasteten Tannen gleich, die um die Schanzen und in den Dünen standen. Ich hatte in meiner Gaststube in der Zeitung die wiederholte Trauerbotschaft gelesen, daß an der Donau der Friede wahrscheinlich bald werde abgeschlossen werden.

Ich hatte hier drei Tage gewartet, indem ich wieder mit Salzschiffen abgehen wollte, die längs den Küsten fortsegeln und in die Oder einlaufen sollten. Den zweiten Tag war ich schon eingeschifft, aber kaum waren wir eine halbe Stunde auf der See, so kam ein heftiger widriger Wind, und alle diese flachen und schlechten Schiffe liefen wieder zurück, und der Schiffer erklärte mir nach den Luftaspekten, daß sie noch wohl vier bis fünf Tage liegen bleiben müßten, ja daß sie in Erwartung günstiger Winde oft acht bis zehn Tage so liegen müßten. Was war zu thun? Ich mußte nun endlich schon die Landreise wagen und bedang mir einen Fuhrmann, der mich in anderthalb Tagen über Treptow und Kamin in Wollin ablieferte. Da saß ich [106] nun wieder fest. Hier hätte ich mich mit dem Stabe in der Hand über die Inseln Wollin und Usedom leicht nach dem mir bekannten Wolgast durchschlagen können, wenn ich erstlich nicht gefürchtet hätte, dort sogleich auf Bekannte zu stoßen, und wenn ich zweitens nicht zu schweres Gepäck geführt hätte, was ich nicht gern fahren lassen wollte und was mich doch wieder leicht verdächtig machen konnte. Ich führte nämlich zwei Koffer und einen gewaltigen großen Korb eines recht erbaulichen Inhalts: denn er war von meinen Stockholmer Freunden bei meiner Abreise mit edlen Weinen, Chokolade, Thee, Wurst, Käse u.s.w. u.s.w. bis zum Übermaß vollgepfropft. Hier mußte also wieder ans Segeln gedacht werden, und zwar auf dem Achterwater in die Peene hinein und auf Anklam zu. Aber auch hier waren die Winde nicht mit mir im Bunde. Zweimal versuchte ich mit einem kleinen Segelkahn die Ausfahrt, zweimal brachten uns Windstille und Gegenwind wieder in das Städtchen Wollin zurück. Erst den fünften Tag gelangte ich nach dem Städtchen Neuwarp und den sechsten gegen Mitternacht an die Anklamer Brücke. Hier ließ ich meine Sachen an der sogenannten schwedischen Seite ans Land setzen und flugs ans Wach- und Zollhaus tragen. Ich, ohne zu wissen, wes Geistes Kinder drinnen seien, gebärdete mich wie ein Mann des vollsten Mutes und Rechts, pochte und lärmte gewaltig, denn alles schlief. Ich gewahrte auch nicht, welcherlei Volk es war. Alles lag schlaftrunken da, einer rappelte sich auf, sah meine Sachen kaum an – denn die Nacht war kalt, und eines guten Trinkgeldes froh streckte er sich sogleich uneder hin. Ich winkte meinem Schiffer, und er und seine Frau trugen mein Gepäck in ein nahestehendes Gasthaus, wo ich in früheren Jahren zuweilen eingekehrt war. Dies war auf dem sogenannten Anklamer Damm der schwedischen Seite. Ich hielt mich hier nur ein halbes Stündchen auf, nahm einige Erfrischung, befahl dem Wirt meine Sachen, die ich morgen werde abholen lassen und [107] flog dann wie ein Vogel über den Damm weiter. Dann ging es durch Ziethen linker Hand des Weges auf Gützkow, welchen ich in jüngeren glücklicheren Tagen oft befahren und gepilgert hatte. Aber es war eine stockfinstre neblichte Nacht, oder vielmehr eine Morgennacht, und bei Lüssow, einem mir wohl befreundeten Rittersitz der von Wolfradt, geriet ich auf eine falsche Fährte und verlief mich ins Peenebruch, und als ich mich von da wieder zurückgewendet hatte, wieder rechts in ein falsches Dorf, wo der Nachtwächter nicht übel Lust hatte, mich als einen Dieb auszuschreien. So hatte ich mehrere Stunden wie auf Irrwischpfaden verloren; doch als ich endlich den Turm von Gützkow sah, konnte ich nicht mehr irren und trat in der Morgendämmerung in den Trantower Hof, als aus dem andern Thore desselben die Ochsen von den Pflügern eben zur Früharbeit herausgeführt wurden.

Diese meine abenteuerliche Hedschra fiel in die er sten Tage des Oktobers.

Hier war ich denn wieder an sehr traulicher Stelle, sah mein Kind, meinen achtjährigen Sohn, sah meine Geschwister, ach! den lieben Vater sah ich nicht wieder. Ihn hatten sie den vorigen Sommer begraben. Unruhen und Sorgen und Verluste des Vermögens von allen Seiten her, wie es in so bösen und räuberischen Zeiten nicht anders sein konnte, hatten ihn, den einst so Starken, vor seinen Tagen getötet. Solche freundliche, friedliche Natur, als Gott ihn geschaffen, war dieser Zeit nicht gewachsen. Meine Mutter war ihm schon vor vier Jahren vorangegangen. Sie war 56, er 68 Jahre alt geworden – wie weit hinter seiner Mutter und seinem Bruder Hinrich zurückgeblieben!

Weil das Land, worin einige Mecklenburger als Rheinbundsgenossen standen, noch von Franzosen beherrscht und hie und da von französischen Verwaltern durchstrichen ward, saß ich hier in Trantow des Tages gewöhnlich in einem einsamen Stübchen versteckt und verborgen, den meisten [108] Kommenden und Gehenden ein Geheimnis; abendlicher und nächtlicher Weile erging ich mich denn gewöhnlich im Baumgarten oder im Walde mit einem der Brüder oder mit der geliebtesten Schwester Gottesgab oder der alten lieben Base Sofie. Nur eine einzige Fahrt machten wir im Dezember durchs Land zu meinem Bruder Karl, der zu Zipke bei Barth auf Domänengütern wohnt, ungefähr sechs Meilen von Trantow. Ich hatte mich so verhüllt und verkappt und so wunderlich greisenhaft mit Mänteln und Mützen verstellt, auch meinen Bart für diese kleine Ausfahrt so genährt, daß, wenn uns auch Bekannte begegnet wären, der Teufel selbst uns kaum gekannt haben sollte. Doch brauchten wir die Vorsicht, unterwegs nirgends einzukehren, sondern im Freien, in irgend einer hübschen Waldecke am Wege, wurden die Pferde und auch die Menschen gefüttert. Ich hatte alten schwedischen Wein aus meinem gewaltigen Speisekorbe und pommersche Gänsebrüste mit. Die letzte Lagerung hielten wir im Tannenwalde bei Franzburg. Dort trank ich auf das süße Gedächtnis längst verweinter und verschienener Tage – einst hatte ich dort unter Finken- und Nachtigallenschlag mit meiner Braut einen fröhlichen Sommernachtstraum gefeiert bei einer Frühlingsfahrt zwischen Greifswald und Löbnitz – ich trank auch den Minnetrank meiner lieben Stockholmer, die mir den Wein auf Flaschen gefüllt hatten. So mußte ich in der Heimat neben so vielen Verwandten und Bekannten mich wie ein Bandit durchs Land schleichen. Das waren Zeiten! Es war aber dieser Reisetag ein heller sonnenscheiniger bereifter Dezembertag.

Ja das waren Zeiten! das war ein Jahr das Jahr 1809! Es hatte mit der Ächtung und Flucht aus Berlin des edlen Ministers vom Stein begonnen; alle seine Arbeiten, Aufstände, Kämpfe und blutigen Männerschlachten waren durch einen fürchterlichen Frieden verloren und beruhigt; so viele und große Hoffnungen von vielen Millionen Menschen lagen wieder versunken in dem Abgrund der [109] Verzweiflung. Es endigte mit der Auslieferung und Hinrichtung des frommen Andreas Hofer A34.

Ich war in der Heimat; aber es war mir hier alles zu durchsichtig. Das Land war freilich, wie gesagt, nicht von Franzosen, sondern von mecklenburgischen Truppen besetzt; aber es gab dort einzelne französische Angestellte und Beamte; es strichen hin und wieder einzelne wälsche Abenteurer oder Sendlinge durch; auch einzelne für die wälschen Zwecke erkaufte und eingelernte Schelme und Späher deutscher Zunge, die einem Geächteten gefährlich werden konnten. Ich meine mit den Schelmen deutscher Zunge keine Pommern. Ich darf die Art meiner Heimat nicht schwärzen; sie ist etwas träg und bequem, aber durchaus gutmütig und grade, ihre mit Recht gepriesene Fröhlichkeit, Tapferkeit und Treue beugt sich gottlob selten zu Ränken und Hinterlisten hinunter.

Ich ging nach Berlin. Dort hoffte ich in dem dichten Menschengewühl mich der Welt verbergen und still und verschlossen für mich leben und studieren zu können. Ich kannte die Stadt kaum, war nur einige Male durchgeflogen, ein einziges Mal vor elf Jahren etwa eine Woche da gewesen. Ich konnte hoffen, der Sprachmeister Allmann werde von niemand erkannt und nur von denen, welchen er sich anvertrauen durfte, gekannt und anerkannt werden. Ich hatte dort einen treuesten redlichsten Herzensfreund aus jugendlichen Jahren, den Buchhändler Georg Reimer, einen gebornen Greifswalder A35. Dem hatte ich geschrieben, mir ein Quartier zu bestellen nicht zu weit von ihm; mein Bruder führte mich mit eignen Pferden bis Pasewalk; von da ließ ich mich auf der Schneckenpost, welcher ein Fußgänger damals leicht ein paar Meilen voraus abgewinnen konnte, nach Berlin ziehen.

Ich kam ein paar Tage vor Weihnachten an, den Tag vor dem feierlichen Einzuge des Königs und der Königin aus Preußen A36. Ich mußte den Zug und die Freude mit [110] ansehen. Jedes Herz, in welchem noch ein deutsches Fünkchen atmete, war durch das fürchterliche allen gemeinsame und mehr oder weniger von allen verschuldete Unglück jetzt ein allgemeines deutsches Herz geworden. Das weiland so stolze und glorreiche Berlin lag ja nun auch da in Staub und Aschen wie eine Königin der Länder, deren Gemahl und Herrscher von einem bösen Feinde mit Banden umstrickt ist. Ich mußte heraus aus meinem Stübchen und mit den Jauchzenden und Weinenden die Straße unter den Linden und die großen Plätze um das Schloß mit durchhinken. Denn ich ging ein Knie mit einem Schnupftuch umwunden; war in Zehdenick beim Aussteigen aus dem Postwagen ausgeglitscht und blutig verwundet. Ich spreche von Weinenden unter den Jubelnden. O mehr Augen waren naß von Wehmut und Schmerz als von Freude. Der schönen Königin, die sich dem begrüßenden Volke im Fenster zeigte, sah man an den rotgeweinten Augen den tiefen Gram in der Wonne an. Denn wo waren die alten siegklatschenden Adler hingeflogen? Meine Augen suchten Scharnhorst, der blaß und verschlossenen Blickes und vornüber gebückt sich von seinem Rosse unter andern Generalen ruhig forttragen ließ.

Ich blieb denn in meinem notwendigen Versteck. Meine herzigen Reimers und der Tiergar ten und die prächtigen Spaziergänge längs der Spree in Belle-Vue, mit deren düstersten und einsamsten Winkeln ich vertraut ward, teilten sich in die Stunden meiner Muße. Doch ging ich zuweilen mit in das Schützenhaus, wo mein Freund und mehrere gute Gesellen sich im Schießen mit Büchsen und Pistolen übten, der Gesinnung und Hoffnung, sie würden diese Fertigkeit einmal gegen den Reichsfeind gebrauchen können. Ich machte das so mit.

In dem Hause dieses meines Freundes und noch bei einem ward ich denn auch mit einigen trefflichen Männern und Jünglingen bekannt, die den Gefühlen, wodurch die Menschen damals zusammengeführt wurden, treu geblieben [111] sind. Es war das doch eine schöne Zeit: alles bedrückt, bedrängt, verarmt und im Wechsel zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwebend; doch wenn auch nur ein Lichtfunken der Hoffnung aufschimmerte, zu welchem hellen Morgenrot der Zukunft entfaltete es plötzlich sein mächtiges Gefunkel! und die Nacht und die mitwissenden Sterne belauschten Worte, welche in Gesellschaften die Furcht damals kaum zu wispern wagte. Es war ja eine Donnerwetterzeit, und man weiß, daß auf den schwärzesten Wolken das Licht sich am schönsten abspiegelt.

Furcht? Sind die Deutschen so feige Kreaturen der Furcht und des Schreckens? Nein! aber seit Adams Apfelbiß fürchtet sich jeder vor Schlangen. Die Franzosen – sie sagen, Napoleon, aber in diesen Künsten sind sie von jeher Meister und Überlister gewesen – hatten über das alte Germanien ein Gewebe der Auflaurerei und Späherei geworfen, in dessen weiten Falten jene zischelnden und giftzüngelnden Würmer der Hinterlist und des Verrats verborgen lauerten. Dieses Gewebe, ja dieses Netz und die einzelnen Fäden desselben hielt vor vielen andern der französische Gesandte Reinhard in Kassel und der westfälische Botschafter Freiherr von der Linden in Berlin und der Franzose Bignon in Stuttgart in der Hand, welcher später unter den Bourbons unverschämt genug, den Verfechter der sogenannten großmenschlichen und freisinnigen Ideen des Jahrhunderts gespielt hat. Es hat mich immer geschämt und gegrämt, daß jener deutsche Apostat Reinhard, noch dazu ein deutscher Schwabe, ein Mann aus dem besten deutschen Stamm, erst Jakobiner, nun ein williger Scherge des Mannes, der sein deutsches Vaterland schändete, sich zu solchen Künsten gebrauchen ließ. Nein! nein! nicht das hat mich geschämt und gegrämt – was können die wackern Schwaben für einen einzelnen Unreinen? – sondern jenes viel Schlimmere, daß die deutsche Sorglosigkeit und Herzlosigkeit gegen das geliebte Vaterland und seine Ehren sich so weit hat vergessen können, [112] diesen Renegaten einen Warner, Helfer und Beschützer der Deutschen, ja einen edlen Deutschen, einen deutschen Mäcenaten und Musageten zu nennen. Dank ihm der Teufel sein böses Handwerk! Und was soll man Rühmliches und Löbliches da herauspressen, daß er, während er das ganze Volk nach seinen Kräften mit in den Sack schieben half, diesem und jenem deutschen Schriftsteller wohl mal irgend eine Hilfe oder einen Wink der Vorsicht gegeben hat?

Um Ostern 1810 verließ ich Berlin. Meine Heimat war wieder an Schweden zurückgegeben A37; ih ward von dem schwedischen General-Statthalter Grafen von Essen wieder in meine alte Stelle in Greifswald eingesetzt. Er bewillkommnete mich als einen, der aus England zurückkomme; so weit hatte sich jenes Gerücht über meine Reise dahin in Schweden doch bewahrt. Ich trat wieder in meine Stelle ein, nicht weder mit der Luft noch mit der Hoffnung, daraus nicht verrückt zu werden. Wer konnte sich hier nur für ein paar Jahre irgend etwas Sicheres und Bleibendes einbilden? Aber ich bedurfte fürs erste der Stellung bürgerlicher Ehre und Unbescholtenheit; ich bedurfte auch, meine Haus- und Familiengeschäfte einmal wieder ein wenig zu ordnen. Schon im folgenden Sommer 1811 war ich damit fertig, suchte und erhielt meine Entlassung, packte mein Gerät, meine Bücher und Papiere zusammen und ging nach Trantow aufs Land. Ich hatte meine Füße leicht gemacht und war körperlich und gemütlich auf alles gerüstet A38. Denn neue ungeheure Wetterwolken zogen sich an dem europäischen Horizont zusammen. Gewarnt war ich genug, mich in acht zu nehmen, von mir selbst und von Freunden gewarnt, unter andern auch von dem edlen Villers 12. Ich setze ein Zettelchen [113] hieher, das er mir in jenem herrlichen Kometensommer 1811 schickte, mit griechischen Lettern in deutscher Sprache geschrieben, welches ich noch unter meinen Kleinoden bewahre. Es lautet wie folgt: »Man ist in Paris und Hamburg äußerst besorgt über eine geheime Gesellschaft in Deutschland, die feindliche Absichten gegen Frankreich hegen soll. Man vermutet, daß sie ihren Hauptsitz in Berlin habe und sich über den nördlichen Teil von Deutschland verbreite. Davoust A40 hat Aufträge bekommen, ein wachsames Auge zu haben.«

Meine letzten anderthalb Jahre in Greifswald waren mit vielen Dornen durchsäet, besonders durch die Flauheit und den welscheinden Sinn derjenigen, welche ich wegen alter freundlicher Erinnerungen und verwandtschaftlicher Verhältnisse hätte ehren sollen. Kosegarten war unterdes Professor in Greifswald geworden. Dieser und mein Schwiegervater Quistorp und dessen Bruder der Maler Quistorp waren so von der napoleonischen und französischen Bezauberung und von der Vergötterung der sogenannten liberalen Ideeen der Franzosen befangen, daß dies die alte herzige Gemeinschaft unter uns störte. Die Geister sonderten sich jetzt und nahmen ihre verschiedenen Quartiere ein; und daß mußte so sein. Dies ging denn oft über bloße Verdrießlichkeiten hinaus. Ja es ging bis zu dem Grade, daß der alte Quistorp seinen Enkel, meinen neunjährigen Sohn, der einmal gesagt hatte »die großen Deutschen sollten die kleinen Franzosen alle totschlagen« züchtigte mit den Worten: so ein kleiner Naseweis müsse das Maul halten. Doch mochte immer der gebrochene Johannes Müller gerufen haben: »Ich habe Napoleon gesehen, ich sah den Finger Gottes und alles soll sich beugen!« mochte Leeren in dem von Perthes herausgegebenen Deutschen Museum dem deutschen Volke eben eine hoffnungslose Grabrede gehalten haben; mochten auch andre nachkrächzende Krähen solcher Verirrten und dienstfertige Zurechtmacher und Ausschmücker der Feigheit und[114] Schande sein, welche, wie später der große Niebuhr von ihnen sagte, gleich gefesselten Opernhelden, die unter Schäferinnen geraten, sich die garstigen Ketten schon mit Blumen umwanden – es gab allenthalben noch recht zornige und auch hoffnungsvolle Protestanten gegen diese Lehre eines widerlichen fatalistischen Gehorsams; es gab gottlob auch in Greifswald recht viele. Wenn ich bei denen, welche meine Eigensten hätten sein sollen, nur den Gegenklang aber nicht den Wiederklang meiner Gefühle und Hoffnungen fand, so fand ich bei den ehrwürdigen Männern von Weigel und von Hagemeister und bei meinen jüngeren Freunden Schildener, Billroth, Gagern, Gesterding, Eichstedt – denn Rudolphi und Rühs verließen nun auch Greifswald für Berlin – die Fülle des Zorns und der Hoffnung, das Herz ausströmen zu lassen. Uns war nicht bloß der Komet aufgegangen, aus welchem einige Abergläubische große Veränderung der Dinge deuten wollten; wir hatten den Glauben in der Hand, wir hatten Spanien und Arthur Wellesley. Wie oft haben wir dieses großen europäischen Retters, Wellingtons, Gesundheit geklungen! Ja dieser große Engländer und die Spanier Romana, Ballesteros, Empecinado und Castagnos wurden durch mich, der ich bei Besuchen meiner Brüder oft mit Pächtern und Landedelleuten in Berührung kam, so romantisch und phantastisch bekannte Namen, daß sie bei solchen, welche Merinoherden hatten oder sich anlegten, die edelsten Widder bezeichnen mußten, mit einer bessern Bedeutung, als die deutschen Hunde im siebzehnten, achtzehnten Jahrhundert die Namen der französischen Feldherren und Mordbrenner Melac und Duras geführt haben.

Ich saß also in Trantow bei Loitz, zur Reise oder Flucht gerüstet. Durch Freunde in Petersburg hatte ich mir Empfehlungen an den russischen Gesandten Grafen Lieven in Berlin verschafft. Gleich nach Neujahr 1812 fuhr ich auf eine Woche nach Berlin und erhielt von ihm einen Paß für Rußland. Dort war doch noch Europa. Nie hatten [115] meine Gedanken nach Amerika gestanden – selbst wenn ich gefürchtet hätte, Europa sei verloren – nach seiner habsüchtigen und gebildeten Barbarei. Kaum war ich einen Tag aus Berlin zurück (wir waren, eine große Schar, in sehr fröhlicher Abendgesellschaft bei dem Probst in Loitz, Konsistorialrat Barkow), so erschien ein reitender Bote mit einem Briefe meines Freundes Billroth aus Greifswald, meldend, die Franzosen seien über die Grenze gerückt und würden morgen wohl das ganze Land überschwemmt haben A41. Wir packten und bündelten uns nun auf das geschwindeste auf. Ich fuhr noch in derselben Nacht nach dem noch franzosenleeren Stralsund, wo ich einige Gelder einkassierte, schlief die folgende Nacht bei einem alten werten schwedischen Freund, Oberhofmarschall Freiherr Munck in Brandshagen und fuhr frühmorgens in einem Schlitten von dannen, schon mitten hindurch durch hin und her sprengende französische Husaren und Dragoner, erreichte mit der Morgendämmerung das schon von welschen Soldaten wimmelnde Greifswald, drückte einigen Freunden die Hand, ging dann auf bekannten Pfaden fern von den Landwegen auf eine Stelle, wo ein Schlitten meines Bruders von Trantow hielt und kam dort in der Abenddunkelung an. In Greifswald bei der Einfahrt über die Brücke am Steinbecker Thor ward mir wunderlich zu Mute. Ich erblickte einen verdächtigen Kerl, der mich sogleich erkannte und mit wunderfreundlicher schlauer Miene grüßte, einen Greifswalder Schelm, der eben nicht Ursache hatte, mein Freund zu sein, und den alle Welt beschuldigte, er habe während der früheren Anwesenheit der Franzosen für sie den Späher und Besteller gemacht. Er hat wenigstens mein Blut nicht begehrt.

Ich schlüpfte zu Trantow durch eine Hinterthür ins Haus und begab mich auf ein Seitenstübchen, von wo ich bei entstehendem Lärm sogleich hätte in den buschigen Garten gelangen können, dessen Wirren und Ausgänge ich alle kaunte, und von wo ich in wenigen Minuten in die Wälder [116] und Gebüsche der mir wohl bekannten Peenesümpfe entrinnen konnte. Es waren schon mehrere französische Offiziere und Gemeine im Hause. Diese nahm mein Bruder mit Wein und Branntwein tüchtig zusammen; sie waren durch Märsche über Eis und Schnee erfroren und ermüdet und schnarchten ruhig und unschädlich, während ich die ganze Nacht mit Einpacken und Ordnen von Papieren und mit Briefschreiben beschäftigt war und den Meinigen die letzten Aufträge, Wünsche und Segnungen zu übergeben. Denn so lange der Mensch lebt, meint er immer noch etwas zurecht zu legen und zu ordnen zu haben, selbst wenn das Licht des Todes ihm schon auf die Finger brennt. Gegen die Morgendämmerung ging ich denn wieder aus dem Hinterpförtchen durch die Küche ins Freie auf den unter meinen geschwinden Schritten knirschenden Schnee hinaus. Meine Vase, meine Schwester, mein Knäbchen hielten mich umklammert. Ich mußte sie abschütteln mit Küssen und Wegschiebungen und mit geschwinderen Schritten ihnen enteilen. Ich hörte meinen kleinen Sohn, als wenn er mich einholen wollte, hinter mir her laufen und laut heulen. Da ward meine Seele in mir zornig und fluchig. Rasch ging mein Lauf nun durch Büsche und Geröhrig zur Peene hinab und über die gefrorene Peene hin. Als ich gegen das gegenüberliegende Hochfeld aus den Flußwiesen ins preußische Gebiet hinaufstieg, da ging die Sonne hell auf für den schönsten Wintertag. Ich grüßte sie mit betender Seele als ein glückweissagendes Zeichen, traf bald den Schlitten meines Bruders, der durch Loitz gefahren war; wir fuhren auf einem adligen Hof an und aßen ein pommersches Frühstück bei einem alten Hauptmann von Glöden, und langten gegen Abend zu Clempenow an der Tollense an bei dem Oberamtmann Fleischmann, einem lieben alten Freund und Gastfreund A42.

Jener glückweissagenden Sonne, die an jenem Morgen über mich und mein Gebet an der Peene aufging, gedenkend [117] setze ich einen Brief hierher, den meine jüngste liebste Schwester, Schülerin und Freundin – sie und mein Bruder Fritz die begabtesten Kinder meiner Mutter – mir in jenen Tagen des Getümmels nach Clempenow geschrieben hat A43. Die Blüte der Gefühle jener Tage will zuweilen unter dem grauen Mose der Jahre wieder hervorsprießen:

»Lieber Moritz. Ich weiß nicht, ob es die Ahndung Deines Glückes für die Zukunft ist, aber auch ich fühle mich ruhig, seit Du weg bist, und nur die fromme Wehmut, als ob man einen lieben Toten beweint, herrscht noch in meinem Herzen. Dein Karl ist nun so allein; die letzten schönen Tage, die das Schicksal uns ihn noch gönnt, können wir nicht genießen in Freundlichkeit und Liebe. Ich fühle einen Mut in mir, den so leicht nichts niederbeugt; nur bitte ich Gott täglich, daß er mich zum Guten leite, damit ich ihn auch recht gebrauche. Wenn nur die Großtante gesund bleibt, so geht alles wohl. – Mein bester Moritz, auch ich sah den Mond und die schöne Morgenröte, als Du von uns gingst, und mir war es, als schwebten tausend Schutzengel über Dir. Karl Treu küßt dies Blatt, und ich und die Tante wünschen tausend Glück und Segen.«

So war ich denn mitten durch die Feinde glücklich wieder zur sichern und freundlichen Stelle gekommen. Bei solchen Gelegenheiten hilft Mut und die Klugheit, nicht zu viel zu sorgen und zu fragen, besonders aber die Klugheit, weder eine zu sorgliche noch zu gefaßte Gebärde vorzustellen. Die Mitte. Aber frisch drein muß man gehen, wie ich vor zwei Jahren in der Mitternacht die Zollbude auf dem Anklamer Damm stürmte. Doch wem hilft Mut allein? Gott hatte mir durchgeholfen. Hier in Clempenow ruhte ich noch zwei Wochen aus und kam den Anfang des Februars in Berlin an.

In Berlin fand ich ein unendliches Getümmel und Gewimmel von den verschiedensten Menschen und den verschiedensten Ansichten, Gedanken, Hoffnungen und Verzweiflungen, [118] wie und wann das Gewitter, das wieder schwarz am Horizont hing, losplatzen werde, und wohin sich jeder stellen solle; wohin der König von Preußen sich stellen werde. In diesen Wirbel geriet ich frisch hinein, und natürlich geriet ich in den Kreis, worin mein alter Freund Reimer und meine Freunde vom Winter 1809 sich bewegten. Dies war ein Leben und Weben, ein Wogen und Treiben der Kräfte. Die Herzen schlugen vollern Schlag, die Liebe fand vollste seligste Umarmung; der Laß und Zorn, damals ganz jugendliche frischeste Gesellen, welchen noch keine Polizei die Flügel gestutzt hatte, gaben einen Augenblick fast ebenso große Seligkeiten. Da habe ich viele trefflichste Männer zuerst gesehen und kennen gelernt und war mit einemmale mitten in einem großen gewaltigen Männerbunde, der einen einzigen Gegenstand seines Bedürfnisses hatte, Haß und Abschüttlung und Vernichtung der Welschen. Andere Schibolethe und Geheimlehren gab es dort gewiß bei den wenigsten, wenigstens bei mir keine andere.

Hier aber klang es nun bald wieder Marsch! Der König von Preußen hatte sich der Weltlage nach mit dem Erzfeind verbinden müssen A44, und im Anfange des Märzes machte ich mich weiter gegen Osten nach Breslau auf den Weg, außer dem russischen Passe auch mit einem österreichischen auf die böhmischen Bäder lautenden versehen. Als das Bündnis mit Napoleon bekannt ward, nahmen und erhielten viele preußische Offiziere, welchen das Herz zu schwer ward, unter französischen Fahnen zu streiten, von dem Könige gnädigen Abschied. Der Herrscher verstand sie und mißbilligte sie nicht. Viele gingen nach Schlesien, dort zu warten, wie die Dinge sich entwickeln würden; andere suchten, ehe ihnen alles gesperrt würde, die verschiedenen Straßen, welche zur See und zu Lande nach Rußland führen, dort Arbeit für ihre Degen hoffend; mich nahm der Oberst Graf Chazot mit in seinen Wagen bis Breslau, wo er noch einige Wochen verweilte und dann nach Rußland entflog.

[119] Meine Breslauer Frühlingsmonate waren zuerst ebenso lebendig und fast auf ähnliche Weise lebendig wie mein Februar in Berlin gewesen war. Zuerst Bekannte schon von Berlin hier: die Obersten Graf Chazot und von Gneisenau, der Polizeipräsident Gruner, welcher als ein Franzosenfeind gezeichnet natürlich in Berlin jetzt nicht hatte in seiner Stellung bleiben dürfen und außer ihnen mehrere andere. Das bewegte sich einige Wochen in einem Kreise zusammen, bis es nach verschiedenen Seiten hin auseinanderfloß. Hier hinein kam zuweilen auch der alte General Blücher, der auch bei fröhlichen Gelagen etwas vom Feldmarschall hatte. Trotz seines Alters trug er eine herrliche Gestalt, groß und schnell, mit den schönsten rundesten Gliedern vom Kopf bis zum Fuß, seine Arme, Beine und Schenkel noch fast wie die eines Jünglings scharf und fest gezeichnet. Am meisten erstaunte sein Gesicht. Es hatte zwei verschiedene Welten, die selbst bei Scherz und Spaß, welchen er sich ganz frisch und soldatisch mit jedem ergab, ihre Farben nicht wechselten: auf Stirn, Nase und in den Augen konnten Götter wohnen; um Kinn und Mund trieben die gewöhnlichen Sterblichen ihr Wesen. Daß ich es sage: in jener oberen Region war nicht allein Schönheit und Hoheit ausgedrückt, sondern auch eine tiefe Schwermut, die ich der schwarzdunklen Augen wegen, die der finstern Meeresbläue glichen, fast eine Meerschwermut nennen möchte; denn wie freundlich diese Augen auch zu lachen und zu winken verstanden, sie verdunkelten sich oft auch plötzlich zu einem fürchterlichen Ernst und Zorn. War der alte Held ja auch nach dem Unglück von 1806 und 1807, als er in Hinterpommern befahl, eine Zeit lang durch seinen dunklen Zorn verrückt gewesen und hatte auf alle Fliegen und schwarze Flecke an der Wand mit dem Rufe Napoleon mit dem gezückten Schwert gestoßen. Mund und Kinn aber gaben einen ganz anderen Eindruck, obgleich in den äußeren Formen mit den oberen Teilen des Gesichts in Übereinstimmung.[120] Hier saß immer die Husarenlist gesammelt, deren Zügenspiel bisweilen sogar bis in die Augen hinauslief, und etwas wie von einem Marder, der auf seinen Fang lauscht.

Hier sah ich auch Scharnhorst, der vor den neuen Dingen aus Berlin entwichen war und seine unvergeßliche ihm ähnliche Tochter, die mit allen hohen Gefühlen bis in den siebenten Himmel aufflog, die Gräfin Julie zu Dohna. Ihr Gemahl, der Rittmeister Burggraf Friedrich zu Dohna, gegenwärtig Obergeneral der pommerschen Heerabteilung, holte mich ab und führte mich zu Vater und Tochter. Ich war hinfort viel mit ihnen, und sie nahmen mich oft mit in die grüne Einsamkeit der umliegenden Dörfer und Wälder, wo man sich freier und menschlicher ergehen und über das Leid und die Hoffnung des Augenblicks besprechen konnte. Wie war das nun wieder ein gar anderer Mann als der Blücher! Schlank und eher hager als wohlbeleibt trat er, ja schlenderte er sogar unsoldatisch einher, gewöhnlich etwas vornüber geneigt. Sein Gesicht war von edler Form und mit stillen edlen Zügen ausgeprägt; sein blaues Auge groß, offen, geistreich und schön. Doch hielt er das Visier seines Antlitzes gewöhnlich geschlossen, selbst das Auge halb geschlossen, gleich einem Manne, der nicht Ideeen in sich aufjagt, sondern über Ideeen ausruht. Doch tummelten sich die Ideeen in diesem hellen Kopfe immer herum; er hatte aber gelernt, seine Gefühle und Gedanken mit einem nur halb durchsichtigen ruhigen Schleier zu umhängen, während es in seinem Innern kochte. Doch wie sicher und fest geschlossen er sein Angesicht und die Gebärden desselben auch hielt, er machte den Eindruck des schlichten besonnenen Mannes; man sah keine Vorlegeschlösser vor denselben. So war sein Wesen, er hatte es wohl gewonnen durch sein Schicksal sowohl als durch seinen Verstand. Er hatte sich aus niederm Stande emporgerungen und von unten auf viel gehorchen, auch der Not gehorchen lernen müssen. Seine Stellung in Preußen war bei aller Anerkennung seiner Verdienste durch seinen König und durch [121] viele Edle doch die eines Fremdlings, eines beneideten Fremdlings, geworden: denn in der bösen Zeit, seit den Jahren 1805 und 1806, hatte er, von den Eigenen und Fremden belauert und den welschen Spähern längst verdächtig, auch wo er Großes und Kühnes schuf und vorbereitete, immer den Unscheinbaren und Unbedeutenden spielen, sich freiwillig gleichsam zu einem Brutus machen müssen. Auch seine Rede war diesem gemäß: langsam und fast lautlos schritt sie einher, sprach aber im langsam dehnenden Ton kühnste Gedanken oft mit sprichwörterlicher Kürze aus. Schlichteste Wahrheit in Einfalt, gradeste Kühnheit in besonnener Klarheit, das war Scharnhorst: er gehörte zu den Wenigen, die glauben, daß man vor den Gefahren von Wahrheit und Recht auch keinen Strohhalm breit zurückweichen soll. Soll ich noch erinnern, daß dieser edle Mensch, durch dessen Hände als des stillen und geheimen Schaffers und Bereiters Millionen hingeglitten waren, auch nicht den Schmutz eines Kupferpfennigs daran hatte kleben lassen? Er ist ein Vir innocens im Sinn der großen Alten gewesen: er ist arm gestorben.

Solche war die Art und Gebärde dieses ernsten und tugendhaften Mannes, der tiefer als irgend einer des Vaterlandes Weh gefühlt und mehr als irgend einer zur Heilung desselben gestrebt und gewirkt hat. Wenn er so da stand, auf seinen Stock gelehnt, sinnend und überschauend, gesenkten Haupts und halb verschlossnen Auges und doch zugleich kühnster Stirn, hätte man meinen mögen, er sei der Todesgenius, der über den Sarkophag der preußischen Glorie gelehnt, den Gedanken verklärte: wie herrlich waren wir einst!

Ich lebte aber diese Monate nicht allein in Breslau und in den nächsten Orten der Umgegend, sondern ich besah mir, das schöne Schlesien und das preußische und böhmische Riesengebirge durchstreifend, nach meiner Weise auch die Orte und die Menschen und hatte dabei die Freude, in den Bädern von Reinerz, Landeck und Kudowa zusammengedrängte Freunde[122] aus Berlin wiederzufinden und mit ihnen auf die großen Hoffnungen des Tages anzuklingen.

Fragt jemand: aber woher und wie nimmst du Pilger und Flüchtling die Mittel und Gelder? so antworte ich: Gott hatte mir dem Knaben schon die Vorahnung meiner Schicksale in die Brust gelegt; aus Abscheu vor Weichlichkeit und Wollust ward ich frühe trotzig und hart und hatte frühe sowohl entbehren als genießen gelernt. Dies hatte ich fortgesetzt auch jenseits der Dreißig und Vierzig, hatte oft freiwillige Nachtwochen und Hunger- und Durstübungen versucht und war meines Fußgängerglücks, worin Gott auch gefallen hat mich zu erhalten, mir bewußt, oft in einem Zuge sechs, acht Meilen zu Fuß gegangen, wann meine Herrn Brüder, wie die Wohlhabigkeit der Zeiten damals noch stand, auf schönen Pferden einhersprengten. Seit Napoleons Emporkommen war ich auf harte Proben gefaßt und hatte mich und mein Leben darauf eingerichtet. Ich hatte von meinen Tagegeldern in Stockholm, vom rückständigen Gehalt mehrerer Jahre, das mir im Jahr 1810 in Greifswald ausgezahlt ward und von dem Gewinn einiger Schriften mir einen Reisepfennig erspart. Wenn ich auch zuweilen unter Freunden bei fröhlichen Gelagen einen Friedrichsd'or oder Dukaten springen ließ, so hatte ich einsam oder als wandernder Pilger die wenigsten Bedürfnisse. Was soll ich hier erzählen, wie der Flüchtling oft auch nur die Tafel eines Jägers im Walde oder eines versprengten Husaren gehalten hat?

Endlich mußte ich fort. Napoleon war um die Mitte des Mai in Dresden angelangt, wohin er die Könige und Fürsten zur letzten großen Beratung beschied. Den 29. Mai flog er aus Dresden nach Polen. Jetzt war mir der Krieg nicht mehr zweifelhaft. Ich ging im Junius nach Prag, entschlossen, mich so geschwind als möglich weiter gegen Osten zu machen, ehe mir alle Wege dahin gesperrt würden.

Wir lasen nun seine und der Seinigen Weissagungen für diesen scythischen Feldzug. Die Vorbedeutung sollte [123] erfüllt werden, allein sie ward von Gott nach einer andern Seite hin ausgelegt und gedeutet als von den Menschen. Auch der christliche Gott spielt den Vermessenen und Stolzen durch ihre Orakel hin.

Da klang es in der »Allgemeinen Zeitung« aus Dresden vom Toge der Abreise des Fürchterlichen: Dresden hat das Glück genossen, den größten Helden und Herrscher des Jahrhunderts zwölf Tage lang unter Umständen und Umgebungen in seinen Mauern zu besitzen, welche für die Geschichte ewig denkwürdig bleiben müssen. Jede Minute war gewissermaßen verhängnisschwer und durch große Beschlüsse wichtig, und die Folgen der hier gepflogenen Unterhandlungen und hier verabredeten Maßregeln werden einst noch ganz Europa in Erstaunen setzen.

Und er selbst gebrauchte in der Kriegsankündigung, die er den 22. Junius an seine Soldaten erließ, unter anderm die Worte: »Ein unvermeidliches Schicksal reißt Rußland mit sich fort. Des Schickfals Wille muß erfüllt werden.«

In Prag traf ich Gruner. Dieser sagte mir sogleich, der Minister vom Stein, der vom Kaiser Alexander aus Prag nach Petersburg berufen war, verlange mich aufs baldigste zu sich. Gruner hatte ihm nämlich berichtet, daß ich schon in Berlin meine Pässe für Rußland in der Tasche gehabt habe. Er wunderte sich, daß ich so spät in Prag erschien: denn er hatte mir schon vor mehreren Wochen Steins Wunsch nach Breslau geschrieben; aber sein Brief ist nie in meine Hände gekommen.

Jetzt entstand die Frage: wie kommt man unter den obwaltenden Umständen auf das kürzeste, geschwindeste und sicherste in Rußland hinein? wie erhält man Pässe durch die österreichischen Lande dahin? Der Krieg war erklärt, und die Kämpfe hatten vielleicht schon begonnen; und Österreich war Napoleons Bundesgenosse gegen Rußland. Wir fanden [124] bei dieser Frage, daß ich, ein unbedeutender unbekannter Mensch, unter diesen Verhältnissen auf meine Person für solche Reise einen Paß erhalte, sei ein Ding der Unmöglichkeit; ich werde wohl den Weg gegen Norden zurück zur Ostsee nehmen und aus einem dortigen Hafen über Schweden meine Nordostpassage zu durchbrechen suchen müssen. Endlich fand sich aber glücklicherweise doch noch ein Ausweg, der einige Sicherheit zu bieten schien, allenfalls aber auch mißlingen konnte. Indessen hier mußte gewagt werden. Wir trieben einen kleinen Kaufmann auf, einen geborenen Wiener, der gewohnt war als Schmuggler über das Riesengebirge und über die Karpathen zwischen Böhmen, Schlesien, Ungarn und Polen hin und her zu fahren. Dieser hatte eine Reise nach Brody vor. Ich erbot mich die Kosten derselben für ihn mitzutragen, wenn er mich als seinen Kommis oder Diener auf seinen Paß setzen lasse. So wurden wir handelseins.

Nun ein Wort über Gruner. Ich hatte ihn vor Berlin weder gesehen noch seinen Namen nennen gehört. Ich fand ihn dort unter denjenigen, die ich für meine treuen Freunde halten mußte. Er galt als Polizeipräsident allgemein für einen Franzosenfeind. Ein seiner, gewandter, liebenswürdiger Mann, von einer Beweglichkeit des Leibes und Geistes und der Rede, die man bei einem Westfalen nicht suchen sollte. Daß er halb und halb wie ein Geächteter nach Prag entwich, war begreiflich. Viele sagten, er sei bei den Franzosen so angezeichnet, daß sie möglicherweise, wenn er in Preußen bliebe, seine Auslieferung verlangen könnten. Über seine Stellung in Prag weiß ich weiter nichts als das allgemeine Gerede der Freunde, daß er, wenn sich Gelegenheit fände, den einzelnen, die nach Rußland gegangen waren, Nachrichten und Winke zukommen lassen und ebenso empfangen sollte. Andere haben gesagt, er sei mit bestimmten Versprechungen für russische Zwecke ordentlich in russischem Dienst und Sold gewesen und habe dafür russische Gelder [125] in Händen gehabt. A45 Davon weiß ich nichts zu sagen; weil ich kein Geheimniswurm bin, habe ich bei andern keine Geheimnisse gesucht noch von ihnen empfangen. Dem sei, wie ihm wolle, Gruner ist etwa einen Monat nach meiner Abreise, wahrscheinlich auf französische Zumutung in Prag verhaftet und endlich in eine ungar ische Festung abgeführt worden, woraus ihn erst die Leipziger Schlacht erlöst hat. Ich habe später, als er am Mittelrhein und im Herzogtum Berg Statthalter war, viel mit ihm gelebt und bin seinem Gedächtnis ein gutes Zeugnis schuldig. Er war ein talentvoller, lebendiger, geistreicher Mann, von Natur leicht, weich und beweglich; aber zu großer Ehre muß ihm gerechnet werden, daß dieser leichte lebenslustige Mensch im Großen und Gefährlichen, wo die Leichten und Leichtfertigen sich so leicht dem Teufel verschreiben, edel und treu erfunden ist. Seine Fehler lagen alle offen, seine Liebe und Treue haben seine Freunde erkannt und geehrt.

Ich fuhr denn mit meinem Wiener ab A46 und sollte eine harte Reiseprobe mit ihm bestehen. Es war ein kleines hageres und, wie mir däuchte, entschlossenes Kerlchen, und ich hoffte also einen raschen und geschwinden Reisegesellen in ihm gewonnen zu haben, zumal da ich gedungen hatte, uns unterwegs nicht aufzuhalten, weil mir an der Schnelligkeit der Reise viel gelegen sei. Ich fürchtete nämlich mit Recht, daß, wenn ich zaudere, mir die Gegenden, wo ich noch durchzuschlüpfen hoffte, durch Kriegsgetümmel versperrt werden könnten. O wie hatte ich mich verrechnet! In diesem hagern Leibe steckte doch ein echter vollständiger Wiener, der vor dem Duft keines gebratenen Hahnes vorbeifahren konnte. Daher mußte auf jedem Posthalt gesessen, gegessen und getrunken werden. Ich faßte mich indessen bald in Geduld und suchte mir, als ich die Pansanatur meines Gebieters – denn der war er auf meinem Wagen – weg hatte, die Geschichte zum Spaß zu machen. Meine fliegenden Dukaten durften mich dabei nicht ärgern, wohl aber die[126] Verschwendung der diesmal so kostbaren Zeit. Meine Rolle war dabei drollig genug. In der Festung Olmütz unter anderm fuhren wir bei dem prächtigsten Gasthof vor. Er bestellte flugs ein gutes Mittagsessen und besten Unger und setzte sich dran, zu mir sagend: »Hier könnte es verdächtig und gefährlich sein, wenn Sie als ein Kommis mit zu Tische säßen; bleiben Sie lieber draußen und springen bei dem Wagen herum, als wenn Sie was zu thun hätten.« Er saß drinnen seine anderthalb Stunden durch, die Extrapostpferde lange vor dem Wagen, ich im Regen umherspazierend und ein Butterbrot und eine halbe Flasche schlechteren Weins genießend. Als wir den folgenden Tag an dem reizenden Kuhländchen hin in Biala anlangten, war ihm der dargebrachte Wein immer zu schlecht und er kegelte wie ein vornehm zürnender Baron oder Student auf meine Kosten mehrere Flaschen zum Fenster hinaus. »Dies hier ist halb polnisches Volk,« sprach er, »die muß man kurz anbinden.« Diese Zwischenspiele abgerechnet war mir darin das Los gut gefallen, daß ich keinen Schwätzer aufgeladen hatte. Meine guten Weine verfehlten ihre einschläfernde Wirkung nicht; er schnarchte den größten Teil der Reise, und so konnte ich das herrliche Land Böhmen, das reiche Mähren und das schöne Galizien unter den Karpathen desto heiterer und ungestörter genießen. Ja, auch Galizien ist ein liebliches Land und ein steter Wechsel von Hügeln, Wiesen und Feldern; aber leider der sarmatische Schmutz und die polnische Bettelei und die elendesten Bettlerhütten neben Schlössern der Magnaten begegneten einem allenthalben, und der Schmutz und Jammer nahm zu, je ferner wir von der deutschen Grenze und je näher wir der Judenstadt Brody kamen.

Hier waren wir hart an der russischen Grenze. Ich warf nun meine Dienerverpuppung ab und kleidete mich wie für einen neuen Aufzug. Mein Wiener begleitete mich. Mein Herz klopfte, als ich die fliegenden Fähnlein von sechs [127] zu Roß sitzenden Kosacken an dem Grenzschlagbaum vor Radziwiloff erblickte. Mein bisheriger Herr stieß mich an, sprechend: »Lassen Sie mich ein bißchen voranlaufen und geben Sie mir fünf Dukaten, denn ich kenne die Kerle, hier muß man sich hinüberkaufen.« Ich sah ihn nun trotzig an, merkend, der Schelm wolle mir noch etwas abklopfen, rief ihm Ade! zu, holte meinen prächtigen Paß heraus – und die Lanzenträger sahen ihn, verneigten sich ehrerbietigst und geleiteten mich an die ganz zierlichen und freundlichen Zollgebäude. Gleich trat der Zollinspektor, ein russischer Hofrat – ich meine, es war ein Kurländer Namens Giese – heraus, sah meinen Paß an und führte mich dann mit den freundlichsten Worten in sein Haus, wo ich seine Frau, eine sehr schöne Polin, nebst andern Damen begrüßte und in ein sehr nettes Zimmer geführt ward, indem der Herr Oberzöllner, den ich um Krieg und Kriegsgeschrei fragte und von dem ich allerlei Kunde über meine Weiterreise einzog, zu mir sagte: »Jetzt kommen Sie, wir wollen Mittag essen; Sie bleiben heute hier und erholen sich die Nacht, morgen können wir dann alles weiter bestellen.« A47 Es war hier und auch in Brody ein wogendes lustiges Leben. Österreichische und russische Beamte und Offiziere zogen noch hin und her, an der österreichischen Seite stand nicht einmal eine Zollwache, und mehrere österreichische Offiziere, die eben gleich vielen Preußen gegen die Welschen zu fechten brannten, flogen diesen Tag hier durch, unter anderen der Oberst von Tettenborn A48 und ein Rittmeister Mäurer, die ich unterwegs an mehreren Stellen und dann in Petersburg wiederfinden sollte.

Ich war also glücklich durch mein schmugglerisches Fegefeuer hindurch und hatte meinen Ärger und meine Dukaten bald verschmerzt. Hier war ich aus dem Schmutz der Judenwirtschaft der letzten Posthalte und aus dem stachlichten Dornbusch meiner Begleitung wie in ein Paradies versetzt. Eine prächtige Mittagstafel, vortrefflicher Ungarwein, schön [128] gebildete Frauen, die deutsch und französisch sprachen, und ein seiner freundlicher Wirt. Ja dieses Paradies ward noch paradiesischer, als mein Wirt eine Entdeckung machte, welche seine Freundlichkeit fast in Zärtlichkeit verwandelte. Bisher hatte ich alles dieses Glück dem Inhalt meines Passes zugeschrieben; nun aber ergab sich eine Offenbarung, die mich nicht in Zweifel ließ, ich könne alle diese seine Gastlichkeit endlich als den Erguß eines erfreuten und zärtlich gerührten Herzens hinnehmen. Als wir nämlich schon einige Gläser miteinander geleert und allerlei hin und her gesprochen hatten, fragte er um deutlichere Nennung meines Namens, der ihm aus dem Passe nicht recht klar geworden. Ich nannte Arndt. »Arndt? was Arndt?« rief er. »O ich hatte einen sehr lieben Freund, als ich in Jena studierte, der hieß Friedrich Arndt, war aus Pommern; mir däucht, als seien Sie ihm in der Sprache ähnlich.« Und er lief und holte sein Stammbuch und zeigte mir einen Scherz, den mein Bruder hineingeschrieben. Als ich ihm nun sagte, jener Friedrich Arndt sei mein Bruder und ihm erzählte, wie und wo er jetzt lebe, da war ich plötzlich ein Hausfreund geworden.

Später sprachen wir über meine Reise nach Moskau und Petersburg, und er sagte: »Sie bekommen laut Ihres Passes einen Feldjäger mit, und so wird es schon gut gehen. Aber besser ist besser. Hier ist ein Teil des Personals der russischen Gesandtschaft in Wien gemeldet, für die ich Anstalten machen muß. Die kommen gewiß morgen oder übermorgen. Das trifft sich als eine schöne Gelegenheit, da können Sie in Gesellschaft reisen und haben es desto sicherer und bequemer.« Ich fiel dem bei und hielt bei dem freundlichen Wirt mein erstes Nachtlager und sollte hier noch ein zweites halten.

Den zweiten Tag in aller Frühe langte denn die Karawane an, welcher ich mich anschließen sollte. Sie kam in zwei stattlichen Wagen und schien auch Gepäck des russischen [129] Gesandten zu haben. Sie bestand aus drei Kavalieren und einigen Bedienten. Die erste Person war ein kleiner höchst beweglicher, freundlicher und gesprächiger Mann, der Legationsrat Graf Ramsay von Balmaine, der zweite ein Franzose le Marquis de Favars, ein junger abgelebter Windbeutel, und der dritte ein russischer Flottenkapitän, ein schöner Mann, ein geborner Grieche, der aber leider auch einem verdorbenen Weichling der allerschlimmsten Art ähnlich sah. Dieser hatte die letzten Jahre in Paris im Gefolge des russischen Gesandten Prinzen Kurakin gelebt. Mit diesem Dreiblatt begab ich mich denn nach einigen Stunden auf die Fahrt.

Ich hatte mich mit dem kleinen Grafen gepaart und gewahrte nach dem Znsammensein auf mehreren Posthalten sehr bald, daß ich den besten Griff gethan habe. Der kleine Mann ist später berühmt worden als einer der bewachenden Begleiter Napoleons nach der Insel St. Helena. Er war von altem schottischen Blut, Katholik und von den Jesuiten in Mohilew erzogen, nicht ohne Kopf und Lebendigkeit, nicht ohne mancherlei durcheinander zerstreute Kenntnisse, aber von einer bodenlosen, possierlichen, doch höchst gutmütigen Geschwätzigkeit. Diesen Jüngling, der mir durch ein längeres Zusammenleben sehr lästig hätte werden müssen, benutzte ich klug für unsre paar Tage, um das aus ihm herauszulocken, was er etwa Nützliches mit sich führen konnte. Ich brachte ihn nämlich auf Erzählungen von den Sitten und Arten in den Land schaften Rußlands, worin er am meisten gelebt und verkehrt hatte, und so ward mir seine sonst fast zu flüssige Unterhaltung oft zugleich ergötzlich und lehrreich. Auch in ihm entdeckte ich eben nicht viel Männliches und Soldatisches und wunderte mich daher nicht wenig, als er mir erklärte: er habe einen Bruder Generalmajor im Heere und er selbst werde auch bald den Degen fürs Vaterland umschnallen. Wirklich las ich ihn nach wenigen Wochen in den Zeitungen als Obersten.

Wir fuhren durch Volhynien, ein herrliches, reiches Land. [130] Hier wohnen die sogenannten roten Russen. Diese Menschen kamen mir ernster und sinniger vor als die Polen, welche ich bisher gesehen hatte; auch gewannen die Felder, Wiesen und selbst die Wohnungen, wie wir weiterhin fuhren, ein immer besseres und reinlicheres Ansehen, zuweilen fast ein so gutes als in Norddeutschland. Man sah einen schönen Pferdeschlag und fette Weiden voll silbergrauer Rinder des Schlages, wie sie aus Ungarn zu Tausenden nach Wien getrieben werden. Hier erblickte man auch die Anstalten einer gewaltigen Bienenwirtschaft; man sah Bienenstöcke anderthalb Manneslängen hoch aus hohlen Baumstämmen; man sah Waldbäume mit noch grünen Wipfeln zehn, fünfzehn Ellen hoch über der Erde angebohrt, mit Bienen bevölkert und mit Thüren und Klappen verschlossen. Auch standen hin und wieder Pfähle unter den Bäumen, ich denke, die hinauskletternden Bären drauf zu spießen.

In der Stadt Zitomirs hatten wir einen prächtigen Spaß. Wir aßen in einem Judengasthause Mittag – siehe! da entstand plötzlich ein so gewaltiges Klingen und Schwirren von durcheinander tobenden Instrumenten und ein solches Gelärm und Getümmel von Menschen, daß wir alle geschwind an die Fenster liefen. Was sahen wir? Es war ein Schauspiel für Götter, eine prächtige Judenhochzeit oder vielmehr der Reigen einer Judenhochzeit. Um den Marktplatz dieser allerdings etwas dreckigen Stadt tanzten einige hundert Juden, Alt und Jung, Männer und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen immer ringsum, d.h. den weitesten Ring der Häuser haltend, ihren Reigen, Geigen und Dudelsäcke voran und Tosen und Geklingel hintennach. Es war wirklich eine allerliebste wilde Naturjagd, und wir erlustigten uns königlich daran. Alles blitzte im prächtigsten Schmuck und wahrlich an Perlen, Gold und Silber fehlte es um Köpfe und Hälse nicht, auch nicht an anmutigen Gestalten. Denn das dringt ich einem sogleich auf, daß es in Polen an Männern und Frauen viel edlere Judenbildungen giebt als in Deutschland, [131] auch etwas viel Gemesseneres und Ruhigeres in Sitten und Art, als unsre unruhigen, neugierigen und alles betastenden und umwühlenden Hebräer oft verraten. Dies mag zum Teil daher kommen, daß die Juden hier an manchen Stellen in größeren Scharen beisammen wohnen, und auch daher, daß viele von ihnen die stilleren und frommeren Arbeiten des Feldes und der Viehzucht treiben.

Wir kamen endlich nach Kiew an dem Dnepr: einst die hohe Hauptstadt des werdenden russischen Reichs und noch letzt die Spuren vergangener Herrlichkeit zeigend. Es war ein schöner Sommermorgen, als wir heranfuhren, und wir Fremdlinge staunten den fernen wundersamen Glanz an. Es war mir wie ein erster Vorschimmer des Orients, all die goldglänzenden Türme und Kuppeln der Kirchen und Klöster und viele einzelne mächtige Häuser; doch däuchte mir die Stadt, als wir drinnen waren, wegen der vielen weiten leeren Räume wie eine Verlassenheit, eine schöne Ruine der Vergangenheit. Aber sie hat die Lage einer Königin der Städte auf und zwischen stattlichen Hügeln über dem Dnepr. Wir stiegen wieder in einem ansehnlichen Judenpalast ab, wo wir ein sehr schönes Geschlecht, eine Mutter mit mehreren Töchtern sahen und sprachen wie weiland der General Holofernes: »wahrlich die Hebräer haben schöne Weiber.«

Es war immer noch ein reiches fettes Land das Land jenseits Kiew, doch mit den früher gesehenen Fluren nicht zu vergleichen. Der Juden wurden nun immer weniger, wiewohl doch einige noch am linken Ufer des Dneprs wohnen. Wir kamen nun bald in das eigentliche Rußland. Nun ward alles reinlicher und netter, die Häuser besser gebaut, die Dörfer zierlicher angelegt, die Menschen rüstiger von Ansehen und besser in Kleidern. Doch hatten wir sehr heiße Tage und in den Häusern eine schreckliche Plage, die wir bisher nicht so gefühlt hatten, obgleich kein Sterblicher sich in Polen vor gewissem Ungeziefer retten kann. Es wimmelten nämlich die Häuser von einer Unendlichkeit von Flöhen, freilich [132] keine Tiere von der großen italienischen Zucht, doch bei all ihrer Kleinheit schlimm genug, einen fast zur Verzweiflung zu bringen. Wirklich hatten wir auf einigen Posthalten so viele dieser Knicker und Zwicker aufgelesen, daß wir an dem ersten besten Wäldchen oder Büschchen still halten ließen, uns fast bis zur vollsten Natürlichkeit entkleideten und unsre Kleider einige Minuten im Winde hin- und herschwenkten und ausstäubten, um das stechende und zwickende Gesindel in die weite Welt zu schicken. Wir trafen hier Dörfer, von Roskolniken A49, einer altgläubigen russischen Sekte, bewohnt und machten die wunderliche Erfahrung, daß die Frauen Näpfe zerschlugen, worin wir uns die Hände gewaschen hatten. Denn was Andersglaubende zu nahe berühren, das halten sie für unrein. Gefäße, woraus sie nur mit Löffeln gegessen und die sie nicht mit den Händen berührt haben, werden nicht so entweiht geglaubt.

Wir hatten dieser Tage mehrere Proben, wie in Rußland mit Extrapostpferden, Feldjäger an der Spitze, verfahren werden darf, oder vielmehr, wie verfahren wird und vielleicht nicht verfahren werden soll. Wann die Pferde im geschwindesten Laufe abgetrieben waren oder den Feldjägern auch sonst nicht stark genug däuchten, und sie eine Herde Rosse unweit der Stroße weidend entdeckten, so flogen sie auf ihren Pferden wie die Pfeile unter sie und griffen sich die besten heraus, schirrten die matten ab und die eingefangenen ein und so paschol! (frisch fort!). Ich sah aber auch bei mehreren Gelegenheiten, daß die Hirten, sobald sie nur von ferne so einen fliegenden Extrapostwagen erblickten, oft wie der Blitz mit ihren Pferden Reißaus nahmen und sich von den Feldjägern nicht einholen ließen. Das auch ist gewöhnlich, daß wo stillgehalten wird, der fahrende Bauer seine Sichel nimmt und auf den Feldern Klee, Wicken, Hafer, so viel er für seine Pferde bedarf, abschneidet. Dies erinnert an Reisebeschreibungen über die Moldau und Wallachei.

Als wir über den Dnepr gesetzt waren, hatten die andern [133] etwas an den Wagen zu berichtigen, und ich fuhr allem voran, versprechend, an dem nächsten Posthalt Abendbrot und Thee zu bestellen. Das that ich, aber es vergingen Stunden, und mein Nachtrab fehlte immer noch; so daß ich glaubte, es sei irgend ein Wagenbruch oder gar noch was Schlimmeres eingetreten. Endlich kamen sie langsam her-gefahren und stiegen noch langsamer aus den Wagen und gingen seitwärts jeder besonders seinen Weg. Der kleine Graf Ramsay aber rotglühend und mit einer verstörten Schreckensmiene, als sei ihm das größte Unglück begegnet, kam auf mich zu und erzählte mir, die beiden andern seien bei einem Gespräch über Paris und die Franzosen so aneinander geraten, daß er fürchte, es werde noch etwas Blutiges absetzen, ja der Marquis habe von Kugeln und Pistolen gesprochen, und er wisse nicht, wie er die wilden Burschen auseinanderhalten solle. Für ihn könne das aber sehr gefahrvoll werden, der Marquis, ein besonderer Schützling des! Generals in österreichischen Diensten, Prinzen von Rohan, sei ihm auf die Seele gebunden, die Familie habe große Verbindungen, auch in Petersburg, und wenn dem Jüngling also ein Unglück begegne, so werde er es mit verschuldet haben müssen. Hier unterbrach ich ihn, indem ich in lautestes Lachen ausplatzte, mit den Worten: »Lieber Graf, machen Sie sich doch keine so düstre und blutige Träume zurecht. Ich sehe diesen beiden es an, daß sie keine Eisenfresser und Pulverschlucker sind; gehen Sie mal hin, das ist mein Rat und schlogen ihnen vor, hier sei ja die prächtigste Gelegenheit, den Zwist mit Säbeln oder Pistolen auszugleichen: wir seien hier mutterseelenallein, dort sei ein hübsches Büschchen einige hundert Schritt hinter dem Posthause, Waffen und Pulver führen wir ja im Überfluß, und so könne im schönsten Abendsonnenschein ihr zorniges Mütchen abgekühlt werden.« Er wollte anfangs nicht dran, aber als er zuerst dem Marquis auf mein Zureden diesen ritterlichen Vorschlag that, antwortete dieser, indem er einen leichten welschen Sprung that, [134] mit sanftmütiger Schafsmiene: »Bah! ein Marquis von Favars sich mit einem Griechen schlagen! Das wäre meiner Seele zu lächerlich, da uns jetzt die Schlachtfelder offen stehen. Und gestehen Sie selbst, Herr Graf, es waren Kindereien, worüber wir uns gekabbelt haben.« Doch erklärte er, er werde froh sein des griechischen Gegenüber los zu werden, denn er könne so ein ewig lächelndes Gesicht nicht leiden. Es ward also ein Vergleich zustande gebracht, und ich erbot mich, um die beiden kurrigen Puterhähne auseinander zu bringen, den Franzmann in mein Wägelchen zu nehmen. Dies war freilich ein großes Friedensopfer. Es war gar ein armes windiges Bürschchen, als Kind aus Frankreich geflüchtet, als seines Vaters Kopf, eines der ersten Schlachtopfer der Umwälzung, unter der Guillotine gefallen war. Dazu kam, daß er einen wahren Wachteufel welscher Lebhaftigkeit hatte, der meine Ohren mit den Embryonen seiner künftigen Thaten überfüllte. Er errichtete nämlich auf meinem Wagen ein Kosakenregiment, das keinem napoleonischen Franzosen Quartier geben solle u.s.w.

Lustiger als dieses leere Kriegsgeplapper meiner Elster, die bisher wohl nur in den Sälen der schönen Wienerinnen herumgehüpft war, umbrauste uns das Kriegsgetümmel oder vielmehr das Getümmel, welches Kriegsleben und Kriegswirtschaft bezeichnete. Tausende von Wagen mit Mundvorrat und auch mit Rekruten für das Heer, Zehntausende von Ochsen und Pferden, die ebendahin getrieben wurden, einzelne Züge Ulanen und Kosaken, auch Geleite einzelner Gefangenen zu Fuß und auf Wagen (es schienen keine Kriegsgefangene, sondern politische Gefangene), unendliche Nachtfeuer gelogerter Soldaten und Hirten durcheinander, ein brausendes strudelndes Gewimmel und hin und wieder Gesang und Tanz dabei. Lustig und seltsam anzuschauen waren beim Mond- und Sternenlicht die Massen umherspringender ganz nackter Menschen, welche an ihren Feuern, woran auch gelocht und gebraten ward, ihre Hemden und Beinkleider rundschwenkten [135] und das Ungeziefer in die knisternden Flammen schüttelten. Ich wunderte mich darüber, und doch waren wir genötigt worden, bei hellem Tage in ähnlicher Not beinahe Ähnliches zu thun. Immer kam es mir doch ein wenig tatarisch und barbarisch vor. So ließ sich unter diesen Belustigungen die lästige und unlustige Gesellschaft, viele Hitze, viel Staub, schlechte Abspeisung, stundenlanges Warten auf Pferde (denn es zogen viele außerordentliche Reisende dieses Weges, und wir bedurften immer zwölf Pferde) und selbst die blutdürstige Unverschämtheit russischer Fliegen und Flöhe ertragen, die Bremsen, welche die vielen Pferdezüge umherstreuten, mit eingerechnet.

Ich kloge über schlechte Ab speisung. Wir fanden in den Dörfern die Menschen fast immer freundlich und willig, uns zu Hilfe zu kommen, aber in manchen derselben war reines Haus gemacht und der letzte Hahn schon abgefiedert; wir waren froh, wenn wir nur noch etwas Brot, Milch und Branntwein fanden. Doch ging es uns dagegen an andern Stellen, namentlich in Tschernigow, sehr wohl und nirgends vermißten wir die nordische Gastfreiheit. Russische Kaufleute in den kleinen Städten und Flecken zogen uns mit gütiger Gewalt in ihre Häuser und labten uns mit dem herrlichsten Thee und Butterbröten; russische Edelleute in den Postdörfern führten uns mit patriarchalischer Gastlichkeit in ihre zierlichen Säle und erquickten uns mit Speise und Trank. Juden sahen wir in den Dörfern nicht mehr, außer bei dem Fuhrwesen und der Viehtreiberei, auch bei den Posthäusern, wo sie die Fremden (Deutsche und Engländer) oft weither, von Pesth, Jassy, ja von Konstantinopel her, als Aushelfer und Dolmetscher begleiten. Denn in diesen Rollen kom men sie mit in Rußland hinein, wo sie keine Wohnungen aufschlagen und in der Regel nur wenige Tage verweilen dürfen. Merkwürdig ist, daß alle polnische Juden auch das Deutsche verstehen und sprechen; man sollte also auf die Vermutung kommen, sie seien weiland aus Deutschland von Westen gegen [136] Osten in Polen und Litthauen und die südlicheren karpathischen Nachbarlande eingewandert. Ihre Treue und Zuverlässigkeit bei diesen Geschäften ist allgemein berühmt. Meine Luft hatte ich an den russischen Fuhrleuten und Postknechten und an ihrer Munterkeit und Lebendigkeit. Selbst wenn die rohen Feldjäger, wie mir däuchte oft ohne die geringste Veranlassung, auf die Rücken der armen Burschen zuweilen losdraschen, daß sie gleich geschlagenen Brettern knallten, schüttelten sie diese Last ab wie die Gans das Wasser, schwangen sich auf ihre Pferdchen und sangen, pfiffen und klatschten wieder lustig fort. Mit ihren Pferden scheinen diese Naturkinder im Singen, Pfeifen und Plaudern eine Sprache zu sprechen, welche beide Teile vollkommen verstehen; denn das Pferd, welches höchst unvollkommen geschirrt ist und meistens nur durch einen einseitigen langen Zügel geführt wird, zeigt auf jeden Wink, Klang und Pfiff seines Lenkers in jeder veränderten Bewegung den vollkommensten Gehorsam. Ich habe hierlandes auch die größte Zärtlichkeit der Menschen für diese Tiere bemerkt, wie wild, häßlich und roh sie auch auf ihr eigenes Geschlecht losfahren.

Mein Reisetagebuch ist mir mit andern wertvollen Sachen bei meiner Heimkehr durch Polen guten Teils durch Diebeshand verloren gegangen, und ich weiß nicht auf den Tag genau, wann unsre Ankunft in der berühmten Stadt Smolensk war A50. Sie muß aber in den ersten Tagen des Augusts gewesen sein. Es war ein heller Morgen, die Sonne brannte schon, und wir fuhren langsam und so, daß wir oft fünf und zehn Minuten stillhalten mußten, durch ein wildes Heerlager und mitten unter Kürassieren, Kosaken und Kanonenzügen hin und wurden mit dem fürchterlichsten Staub bepudert uud einpomadisiert. Unser Möser sagt ja ganz recht der Staub sei die Pomade des Helden. Endlich drangen wir in die Stadt ein und bis auf einige hundert Schritt zu dem empfohlenen Gastwirt, einem ehrlichen deutschen Italiener, Simon Giampa, vor. Es war ungefähr 10 Uhr [137] vormittags, und unsre Magen und Kehlen hatten schon seit Sonnenaufgang auf dieses erquickliche Ziel gehofft. Wir fochten uns endlich durch Menschen- und Pferdegewoge bis in den Hof des Giampa hinein. Ich fand dort einen deutschen Offizier, einen braven Sachsen, den Major von Bose, den ich später in Petersburg noch besser kennen lernte, auf einer Treppe sitzen, und auf unsre Fragen nach Wein und Brot erwiderte er: »Geduld! Geduld! meine Herren; ich habe meinen Bedienten ausgeschickt und brate hier schon über eine Stunde in Erwartung einiger Erquickung. Es ist hier schlechterdings nichts zu bekommen, weder Zimmer noch Speise; Sie sehen, die Kosaken- und Ulanenoffiziere haben den ganzen Hof und das Haus eingenommen; es kann sich kaum eine Maus hineindrängen.« – So setzten wir uns denn geduldig neben ihn, unser kleiner Graf aber lief und kam erst nach einer Stunde mit einer Flasche schlechten Donschen Weins und einem Brote wieder und rief: »Das kostet einen Dukaten, teilen wir's uns.« Wir thaten so, gewannen noch eine Flasche Wasser und teilten dem Sachsen etwas mit. Erst gegen Abend floß der Strom ab, und wir gewannen endlich ein paar Zimmer und einige gebratene Hühner. Es war Krieg und die ganze Stadt und das Feld ringsum ein großes Lager, wozu sich täglich neue Truppen scharten; denn Barclay de Tolly und Prinz Bagration hatten sich nun vereinigt.

Mir lachte aber hier wieder ein besonderer Glücksstern. Es waren viele deutsche Offiziere hier, teils schon im russischen Heere angestellte, teils solche, die erst ins Getümmel mit hinein wollten, Sachsen, Österreicher, Preußen, die ihre Herzen und Schwerter auf die Franzosen gewetzt hatten. Bald traf ich liebe alte Bekannte: meinen Grosen Chazot, den tapfern Spanienfahrer Leo Lützow A51, meinen Heimatsmann, den wilden Gustav Barnekow aus Rügen u.s.w. Chazot sorgte hier, wo kaum für Geld etwas zu haben war, für meinen Erbanteil Pansascher Natur. Er war Generaladjutant [138] bei der Brigade des ältern Prinzen von Oldenburg (des jetzt regierenden Herzogs) A52 und aß täglich an der Tafel des Divisionsgenerals, Herzogs Alexander von Württemberg. Da steckte er mich mit unter bei der großen Mittagstafel; auch habe ich nächtlicher Weile ein paarmal mit ihm auf seinem Heu geschlafen in einem großen Saal, wo wohl ein halbes Hundert Offiziere nebeneinander hingestreckt schnarchten.

Die vier, fünf hier im getümmelvollsten Kriegsleben so hingesausten Tage waren mir höchst belustigend und erbaulich. Ich sah hier unter den mannigfaltigsten und wechselvollsten Gestalten die verschiedenen russischen Völkerscharen an mir vorbeimarschieren und vorbeigaloppieren, die vom Eismeer und vom Ural her und die in der Wolga und im Schwarzen Meere ihre Rosse tränken, schöne Tataren aus der Kabarda und aus der Krim, stattliche Kosaken vom Don, Kalmücken mit platten Nasen, bretternen Leibern, schiefen Beinen und schiefen Augen, wie Ammian vor fünfzehnhundert Jahren seine Hunnen malt und häßlich tückisch blickende Baschkiren mit Bogen und Pfeilen. Aber das Prächtigste war ein Geschwader von einem Fähnlein Tscherkessischer Reiter, in Stahlhemden und mit Stahlmützen mit wehenden Federbüschen, schönste schlankste Menschen und schönste Pferde.

Ich fuhr mit einem jungen deutschen Offizier von der russisch-deutschen Legion, der ins Lager geschickt war und nach Petersburg zurück wollte, den Weg auf Moskau, zuweilen auch in Gesellschaft mit dem Obersten von Tettenborn, mit welchem ich den Tag nach meiner Abreise aus Smolensk in Wiäsma zusammentraf. Es war dort eben ein Teil des Kaiserlichen Kabinetts anwesend, Graf Nesselrode, Herr von Anstedten und mehrere, mit welchen wir zusammen bei dem Polizeipräsidenten zu Mittage tafelten in einem ungeheuren Saal, worin wohl ein paar Hundert Gäste zusammengereiht saßen. Es war fast der ganze Adel aus der Gegend dort versammelt und Tausende junger Bauernburschen rings um die Stadt gelagert, die fürs Heer [139] ausgehoben noch von Müttern, Schwestern, Bräuten begleitet wurden; auch hielten viele Wagen, welche verwundete Krieger ins Innere des Landes führten; brave verwundete Offiziere saßen mehrere mit uns zu Tisch. Da war heute Jubel und Begeisterung, und die Freude der Becher ging klingend um; und nach den Bechern, als alles sich vom Tisch erhob, erhielten auch die Fremdlinge ihre Gaben, von welchen erschollen war, daß sie nicht für Napoleon nach Rußland gekommen seien. Umarmungen, Händedruck, Küsse von schönen Frauen und Jungfrauen, welche ihr Vaterland fühlten. Es war eine außerordentliche Lebendigkeit und Aufwallung in dem ganzen Volke und auch bei den geringsten im Volke, welche die Welschen wegen ihrer Unfreiheit Sklaven schalten: nichts bloß Angehauchtes und Gemachtes; nein, es brauste aus dem Innersten der Herzen gleich lebendigstem Sprudelwasser. Solche Gaben von schönen Frauen und Dirnen sind mir nachher in Petersburg, selbst in den Palästen der Orloffe und Lieven, öfter zugefallen an Tagen, wo Siegesnachrichten einliefen oder gefeiert wurden. Es ist auch die Sitte des Landes so, darin der englischen etwas ähnlich, daß die Frauen beginnen und das unschuldige Recht haben, die Männer nach der Tafel zu küssen. Ländlich sittlich.

Wir fuhren erst am folgenden Morgen von hier und hielten den Mittag mehrere Stunden in dem netten freundlichen Städtchen Gschat an, weil mein Oberst seinen Wagen kalfatern lassen mußte. Ich war vor die Stadt gegangen und hatte mich auf einer grünen Wiese, wo stille Herden weideten, als wenn kein Krieg wäre, hinter einem Heuhaufen hingestreckt; eine dichtlockige Birke wehte über mir, und ich schaute sinnend und träumend in die Welt hinein oder vielmehr in die über mir hinfließenden Wolken. Siehe! da tönte Musik in mein Ohr, die immer näher und heller heranklang, und bald rollten mir lange Reihen von Wagen vorüber, die auch Landwehr führten, Geigen und Hornpfeifen auf mehreren Wagen voran, und Eltern, Geschwister, Bräute [140] noch mit. So lustig zog es in den Krieg und in den Tod, gleich einem phantastischen Hochzeittraum mit Blumen und Spielen an dem Träumenden vorüber. Hier schied ich von meinem Obersten. Er fuhr von Gschat stracksweges auf Petersburg, ich und mein Offizier in einer kleinen russischen Telegga auf einem Umweg nach Moskau.

Ich habe die Wunderstadt nur zwei Tage gesehen. Mir däuchte, ich sah Asien: Armut und Pracht, Hütten und Scheunen und Ställe nicht bloß in den Vorstädten, sondern hin und wieder mitten in der Stadt; dazwischen der Glanz der Paläste und Gärten, die vergoldeten Kuppeln und Türme der Kirchen und Klöster, der Kreml mit seinen goldnen Thoren, Türmen und Zinnen. Dazu das ungewöhnliche Wogen und Wimmeln der Menschen in jener außerordentlichen wildbewegten Zeit. Ich konnte nichts sehen in zwei Tagen, ich konnte nur staunen. Ich fand auch hier freundliche Aufnahme, zuerst bei dem Kommandanten des Kremls, dem General Heß, einem Deutschen, der in Rußland von deutscher Gradheit und Gemütlichkeit nichts verloren zu haben schien und mich und meinen Offizier, während er unsre Pässe durchschaute und unterschrieb, mit einem hübschen Frühstück bewirtete und uns selbst in seinem Wagen zum Gouverneur führte, sagend: er müsse doch eben in Geschäften zu ihm. Wir sahen ihn denn, diesen Gouverneur, den General Grafen Rostopschin, der einen Monat später durch die Einäscherung der alten Zarenhauptstadt so berühmt geworden ist. Wirklich hatte ich ihn schon gesehen, in Smolensk nämlich, in der Person eines verwundeten Majors, der bei Giampa in einem Zimmer neben dem unsrigen mit seinem verbundenen Knie auf dem Sofa lag und uns des Abends mehrmals bei seinem Thee um sich versammelte: ganz die Gestalt, die Augen, die Stirn, die derbe und doch freundliche Gradheit, mittlerer starker Wuchs, ein breites gestutztes Gesicht und eine kurze regelmäßige Nase, große blaue Augen, geschwinde Bewegung. So erschien Rostopschin, so sind mir nachher [141] an vielen Orten viele russische Offiziere erschienen, mit diesem Ausdruck, diesem Grundbilde. Man findet es wohl nicht oft mehr in den großen alten Familien, welche zu sehr europäisiert, hofisiert und abgeschliffen oder gar verschlissen sind, sondern in dem guten mittleren Adel. Wir wurden zu seiner Tafel geladen, wohnten einem großen Gepränge bei, einem Tedeum wegen eines Wittgensteinschen Siegs über den Marschall Oudinot, in der Johanniskirche am Kreml, und machten auch hier den begeisterten und klingenden Jubel bei Tische mit.

Der Weg von hier nach Petersburg geht über Twer und Novogrod, zwischen Moskau und Twer durch ein schönes, reiches und wohlbebautes Land. Ich sah große hübsche Dörfer und nette Baurenhäuser, mehrere von zwei Stock, mit hellen Fenstern und bemalten Gesichtern und mit manchem zierlichen Schnitzwerk und bunter Beblümung draußen und drinnen; sowohl die Häuser als die Täfelung der Wände drinnen fast ganz aus Holz. Hier ward ich an die Weise von Helsingland, Dalarne und Norrland in Schweden erinnert, wo die Bauren ihre Wagen und Pferdegeschirre und Häuser und Kirchen mit ähnlichem künstlichen Schnitzwerk verzieren. Bei der Anordnung und Einrichtung mancher Dörfer aber war ich oft geneigt zu glauben, sie hätten Hippokrates oder den Leibarzt Doktor Faust zu Bückeburg über Sonne, Luft und Wasser dabei vor Augen gehabt. Einige Dörfer sind nämlich förmlich im Kreise gebaut, die meisten aber in einem Halbmond, welcher von Südost zu Südwest den möglich größten Teil von wärmender Sonne aufnehmen und von den bösen kalten Winden von Nordost bis Nordwest am wenigsten zerhadert werden kann. Ganz auf diese Weise im Halbmondskreise findet man auch manche Höfe in Schweden gebaut. Überhaupt die Russen in dieser und in mehreren andern Beziehungen mit den unglücklichen polnischen Bauren verglichen, welch' ein Unterschied!

In den Dörfern und auf den Straßen war bis Novogrod [142] noch immer das die Waffen übende Menschengewimmel, und einzelne Züge von Kriegern, auch einzelne traurige Haufen von Gefangenen zogen an uns vorüber, unter diesen sogar Spanier und Portugiesen. Das Wetter war des Tages meistens sehr heiß auch wegen der kurzen nordischen Nächte. Zwar leidet man in dem viel reinlicheren Rußland nicht so viel vom Ungeziefer als in Polen, aber die barbarischen und unmenschlichen schwarzen Springer und Blutsauger verminderten sich nicht. Diesen zu entfliehen mied ich so sehr als möglich die Zimmer, und wenn durch Warten auf Pferde, was aber zwischen Twer und Petersburg selten eintrat, mal ein paar Stunden Rast gegeben ward, wickelte ich mich in meinen Mantel und legte mich, wenn es regnete, unter die Telegga, meine beste Habe unter meinem Kopf, summte hoc tibi proderit olim, und schlief wie ein König. Ich hatte keinen Bedienten bei mir und mußte also meine Sachen selbst hüten und war wegen der notwendigen Hut schon ein paarmal gewarnt worden, zuerst in Smolensk bei Giampa, wo die Bedienten nicht aufgepaßt hatten, wo uns manches wegstipitzt war, und ich schon mit Schrecken mein Schatullchen mit dem Inhalt mehrerer Hunderte Dukaten vermißte, was ich jedoch glücklicherweise fand gleichsam aus Instinkt in meinem Bette versteckt zu haben – und zweitens in Wiäsma, wo uns während der jubelnden Mittagstafel im Vorzimmer des Präsidenten selbst mehrere Sachen abhanden gekommen waren. In dieser Hinsicht ist Rußland ein Arabien, und die gemeinen Russen wie die Araber, gebisch im Zelte und nehmisch auf der Straße.

Endlich fuhr ich durch das berühmte Großnaugard, von welchem das Hanseatische Sprichwort einst gesungen hatte: »Wer will streiten wider Gott und Großnaugard?« Aber dieses Novogrod, wie es jetzt lebt, machte keinen so mächtigen Eindruck auf mich und trägt höchstens in einzelnen Kirchen und in dem weiten Umfang seiner Mauern noch Andeutungen seiner vormaligen Großheit, darin mit Kiew [143] zu vergleichen. Iwan Wasiljewitsch der Fürchterliche stampfte die Freiheit und Unabhängigkeit dieser herrlichen Stadt und ihrer stolzen Bürger und der umliegenden Landschaften mit seinen eisernen Füßen zusammen, entführte viele Tausende ihrer mutigen Bewohner in den Süden des Reiches und setzte für sie andere der blinden Knechtschaft gewohnte Ansiedler in ihre Güter und Häuser ein.

Den vierten Tag nach meiner Abreise von Moskau flog ich dem anmutigen Sarsko Zelo vorbei, und bald erblickten meine verwunderten Augen die Neva und das neue Palmyra an ihren Ufern. Also hatte ich über hundert deutsche Meilen in vier Tagen gemacht. Der ganze Weg von Twer bis Petersburg ist äußerst einförmig, das Land nichts als eine flache Ebene, viele Sümpfe und Moore mit einzelnen Gruppen von Tannen und Birken, wenig Dörfer, nur hie und da ein einzelnes zierliches Posthaus, oder ein gewöhnlich von einem Italiener bewohntes Wirtshaus. Der Weg ist übrigens ziemlich leidlich einer guten Hauptlandstraße des großen Reiches ähnlich. Gottlob mecklenburgische und holsteinische oder belgische Steindämme giebt es nicht, wohl aber Knüppeldämme in Menge, deren einzelne man auch Baumdämme nennen könnte, welche, aus ganzen Tannenstämmen zusammengelegt, vorzüglich über den Sümpfen und Morästen angebracht sind und auf dem hohlen und quebbigten Boden gleichsam aufspringend unter den Rädern zittern. Und über diese Zitterer war ich in der Telegga gefahren, einem niedrigen Wägelchen mit vier Rädern, in welchem man jeden Stoß aus der ersten Hand erhält. Auch thaten mir die Rippen weh nach dieser soldatischen Fahrt, wo vier Tage und Nächte kaum ein Lullerchen von Schlummer meine Augen berührt hatte. Denn ich ward nicht bloß durch das Menschengewimmel und das Stoßen der Knüppeldämme wach gehalten, sondern hielt mich selbstwillig und freiwillig wach und lag wie der Hund des Schatzteufels auf meinem Gute, um nicht ganz ausgeplündert in Petersburg anzukommen. [144] Ich nenne diese Fahrt eine soldatische, indem ich im Sinn habe, wie die Soldaten sein sollten, nicht wie sie sind. Denn meine Soldaten, gewiß ein paar tapfre und rüstige Männer, meinen Oberst Tettenborn und meinen Legionsoffizier fand ich die Tage nach meiner Ankunft in der Hauptstadt beide halbkrank auf Bett und Sofa hingestreckt; ich aber blieb auf den Beinen und dachte: Deine Brust und dein Atem werden, wenn der liebe Gott will, wohl noch einige Jahre aushalten.

Ich machte bei meinen russischen Nachtfahrten eine Bemerkung, die mich noch heute in innerster Seele anlächert, eine Wiedererinnerung von Bemerkungen über Erscheinungen, die ich in ähnlichen Nächten, wo die Sinne durch Wachen überreizt waren, nimmer in Deutschland, sondern nur in Schweden gehabt habe. Ich glaube, es sind die wunderseltsamen Lichtspiegelungen, welche die ganz anders als in Deutschland sternhellen und mondhellen Nächte in die Sinne hineinwerfen und dadurch eine ihnen nur eigne Zauberei hervorbringen. Genug: die Bäume, Felsen, Häuser und andre leblose Gebilde, wie man ihnen vorüberfliegt, gewinnen alle gleichsam lebendige Gestalt und springen zuletzt als ebensoviele zauberhafte und seltsame Tiere und Ungeheuer hervor. Ich weiß nicht, ob hier die Wirklichkeit der Dinge in die innere Idee des Geistes hineinfährt, oder ob die Idee ihre eignen Bilder iu die Dinge hinaus stößt. Indessen darüber werden die Philosophen sich bis ans Ende der Tage streiten, aber die Thatsache bleibt dieselbe. Ich will daraus die Menge der Zaubergesichte in Schweden erklären und die Gespensterhervorrufung und Geisterladung eines Svedenborg.

Ende Augusts 1812 fuhr ich in St. Petersburg ein und sogleich gradesweges zur Burg des Herrn Ministers Freiherrn vom Stein. Diese Burg führte den Namen Demut nach dem Namen des Wirtes des Gasthofes, worin der Minister einstweilen noch einige Monate blieb und dann in geringer Entfernung einen ihm angemessenen palastartigen [145] Bau bezog. Ich fand in der Demut sogleich ein paar Zimmer für mich und nahm mir einen deutschen Bedienten an, einen gebornen Esthländer, ein hier durchaus unentbehrliches Gerät. Ich ward nun bei dem Herrn Minister ordentlich angestellt, einstweilen gleichsam wie im russischen Dienst; denn ich bekam mein Gehalt aus öffentlichen Kassen ausbezahlt, und zwar noch während meines Aufenthalts in Preußen; späterhin, versteht sich, aus der Kasse der Centralverwaltung für Deutschland. Auch die Gelder, die ich auf meiner abenteuerlichen Reise von Prag bis Petersburg aufgewandt, bekam ich zurückerstattet. Ich bin hier (ich will diese Kleinigkeiten auf einmal herzählen) von ihm in allerlei kleinen Schreibereigeschäften, zur Dublierung und Entzifferung von Briefen und Depeschen, zur Abfassung einzelner kleiner Flugschriften gebraucht worden, so wie bei den Angelegenheiten, welche die Errichtung der sogenannten Deutschen Legion betrafen. Auch hat mich ein alter russischer Admiral zuweilen in Atem gesetzt und in Anspruch genommen zur Erlustigung und Unlustigung, wie die Würfel der Einfälle und Gedanken, die mit dem alten Herrn durchgingen, eben fielen. Es war der Admiral Schischkow; so ward der Name ungefähr ausgesprochen. Dies war ein Original von einem Mann, ein echter Russe, denke ich, von allerbestem Schlage. Er trug den Grundtypus seines Volks, Lustigkeit, Gespaßigkeit und eine unbeschreibliche Gewandtheit und Lebhaftigkeit beide in seinem Glieder- und Gebärdenspiel. Er muß etwas von Suwarow gehabt haben. Ein fünfundsiebzigjähriger Greis, mehr mager als beleibt, mit einem ganz eigentümlichen Gesicht und ironischen jedoch dabei höchst gutmütigen Zügen, unaufhörlich hin- und herfliegenden Wechseln in denselben, wie ich es kaum an einem Menschen gesehen habe. Dabei hatte er die Gewohnheit, welche ganz russisch scheint, nicht durch Worte, sondern durch Pantomimen die werdenden Geburten seiner Einfälle und Gedanken zu bezeichnen; und es ward dem Greise überhaupt schwer, seinen Geist, dessen [146] er wahrlich genug hatte, ins Wort zu übersetzen, oder richtiger ihn an das immer dürftige Wort zu fesseln. Hiebei muß ich gelegentlich bemerken, daß die Russen in der Pantomime und im Charakterspiel auf dem Theater und im Tanze einzig ergötzlich sind. Mit dem allergrößten Vergnügen habe ich oft stundenlang im russischen Theater ohne Langeweile aushalten können, ohne daß ich ein Wort verstanden hätte: so sehr ergötzte mich die Sprache der Bewegungen und Gebärden. Dieser alte würdige Admiral, der blutwenig Deutsch verstand, hatte entweder von mir reden gehört oder irgend einen meiner kleinen Aufsätze oder Übersetzungen davon zu Gesicht bekommen. Er war damals, nachdem Romanzoff den Minister des Innern Speranski gestürzt hatte, gleichsam als ein Lückenbüßer in seine Stelle eingeschoben, und hatte unter anderm auch Aufrufe und Verkündigungen an das Volk zu erlassen. Da suchte er nun gewaltige und mächtige Worte und Redensarten, übersetzte mir seine Sachen in schlechtes Französisch; das mußte ich denn deutsch geben, und dieses wieder, wenn möglich, mit Mehrung und Erhöhung des Ausdrucks und Gedankens in wahrscheinlich noch schlechteres Französisch zurückübersetzen, wodurch er dann endlich sein Russisches noch zu heben suchte. Ich erinnere mich nur, daß dies bei aller Erlustigung, welche des wackern Greises Persönlichkeit mir gab, eine Schwerenotsarbeit war, von welcher ich, da ich kein Russisch verstand, nicht einmal den Erfolg zu schmecken bekam.

So ward ich hier befestigt in einer nicht unwürdigen noch unwillkommenen Stellung. Das war ungefähr das Ende meiner Jugendzeit, die ungewöhnlich lang geworden ist. Man sagt: die Jugend hat Glück. Ich Flüchtling hatte dieses Glück auf zwei Fluchten. Das erste Mal in Schweden, wo ich durch den Rücktritt von Schubert sogleich in dessen Stelle trat; das zweite Mal hier in Petersburg. Ich hatte vor dem Jahr 1807 den Namen des Herrn vom Stein nicht gehört. Im Jahr 1808 ward es ein europäischer Name [147] durch die Gesetze und Einrichtungen, die er zur Wiederbelebung und Wiederaufrichtung des gefallenen preußischen Staates machte. Im Jahr 1809 ward er dem deutschen Vaterlande durch Napoleons Ächtung als ein Lichtzeichen gezeigt. Dieser hohe Mann geriet auf meinen Namen und lud mich zu sich. Meine Gesinnung und mein Schicksal jagten mich freiwillig nach Rußland; durch ihn bekam ich dort eine sichere und ehrenvolle Stellung. Gott öffnete mir damals die Wege, ja er ebnete die Pfade vor mir; später scheint er sie mir gesperrt zu haben. So sind seine dunkeln wundersamen Verhängnisse.

Ich bin hier also gegen das Ende des Augusts angekommen, ich meine den 26. oder 27. Tag jenes Monats, und trat vor den Minister, welchem ich aus seinem Prag einige mündliche Erzählungen überliefern konnte. Ich ward mit großer Freundlichkeit von ihm empfangen. Mich hatten seine Gestalt und Darstellung betroffen, als hätte ich schon irgendwo ihresgleichen oder ihresähnlichen gesehen; aber ich wußte mich anfangs nicht zu erinnern. Erst als ich einige Stunden vor ihm am Theetisch gesessen und die ersten Eindrücke sich beruhigt und abgeklärt hatten, rief ich in mir Fichte! Ja vieles von meinem alten Fichte schlug mich nun: dieselbe Gestalt ungefähr, kurz, gedrungen, breit; die-. selbe Stirn, nur noch breiter und zurückgebogener; dieselben kleinen, scharfen funkelnden Augen; fast dieselbe nur noch mächtigere Nase: die Worte derb, klar, fest, mit kurzer Geschwindigkeit gleich Pfeilen vom Bogen grade ins Ziel schlagend. Daß ich die fichtische unerbittliche sittliche Strenge in den Grundsätzen bei ihm bewundern mußte, ergab sich sehr bald. Der Unterschied war nur, daß dieser Mann der Sohn eines alten reichsfreiherrlichen Stammes am Rhein, Fichte der Sohn eines armen Tuchwebers in der Lausitz war; daß dieser Reichsritter mit voller Gewalt durch die Schatten und Nebel des Nichtich immer zum Ich hinaufrang, jener Philosoph aber von dem erhabenen Ich in die Schatten und Nebel [148] des Nichtich hinabsteigend vergebens strebte, es auf diesem Wege zu begreifen und mit dem Ich zu vermitteln. Dies war der erste flüchtige Eindruck. Ich zeichne den großen und guten Mann noch mit ein paar Worten, wie er mir damals und in späteren Jahren sei nem eigensten Wesen nach erschienen ist.

Ich habe oben von zwei Welten in Blüchers Angesicht gesprochen. Dergleichen mag sich wohl in den meisten Gesichtern finden, oft wohl drei, vier oder gar mehrere, die miteinander streiten. Wenn ihrer aber so viele sind, dürfen sie nicht Welten heißen, sondern hadernde und einander zersetzende und zersetzende Temperamente und Leidenschaften. Auf dem obern Teil des Steinschen Antlitzes wohnten fast immer die glanzvollen und sturmlosen Götter. Seine prächtige breite Stirn, seine geistreichen freundlichsten Augen, seine gewaltige Nase verkündigten Ruhe, Tiefsinn und Herrschaft. Davon machte der untere Teil des Gesichts einen großen Abstich; der Mund war offenbar der oberen Macht gegenüber zu klein und feingeschnitten, auch das Kinn nicht stark genug. Hier hatten gewöhnliche Sterbliche ihre Wohnung, hier trieben Zorn und Jähzorn ihr Spiel und oft die plötzlichste Heftigkeit, die gottlob, wenn man ihr fest begegnete, sich bald wieder beruhigte. Aber das ist wahr, daß, wenn dieser schwächere untere Teil im Zorn zuckte und der kleine bewegliche Mund mit ungeheurer Geschwindigkeit seine Aussprudelungen vollführte, die oberen Teile wie ein schöner sonniger Olymp noch zu lächeln und selbst die blitzenden Augen nicht zu dräuen schienen; so daß wer vor der unteren Macht erschrak, durch die obere Macht getröstet ward. Sonst sprach aus allen Zügen, Gebärden und Worten dieses herrlichen Mannes Redlichkeit, Mut und Frömmigkeit. Es war ein herrischer Mann, wäre ein geborner Fürst und König gewesen, kurz ein Nummer-Eins-Mann. Ich will hiemit nicht gesagt haben, daß einer als ein Nummer-Zwei-Mann nicht auch vortrefflich sein und wirken könne. Das versteht [149] sich ja von selbst; aber Stein war nicht dazu geschaffen. Es war eine zu mächtige Eigentümlichkeit in ihm, seine Natur überhaupt aus einem so strengen Metallgusse, daß er sich einer fremden Natur nicht leicht anschmiegen, viel schwerer noch sich ihr unterschmiegen konnte; was die edelsten Menschen für gute Zwecke oft gethan haben und thun müssen.

Ich weiß nicht, auf welche besondere Weise oder durch welche besondere Veranlassung der Herr vom Stein nach Petersburg gekommen ist. Auf die Einladung des Kaisers durch einen Brief – das versteht sich, und das hat er mir selbst erzählt. Von andern habe ich wohl gehört, der Kaiser, jetzt auf dem Rande eines ungeheuren Durchbruchs der Dinge stehend, habe sich an Worte erinnert, welche der Minister im Sommer 1807 zu Tilsit weissagend zu ihm gesprochen habe A53, und habe, diese Weissagungen in seinem Briefe erwähnend, ihn berufen. Wie dem nun sei, der Herr vom Stein hatte hier keine Kämpfe – denn er ging ohne Furcht immer grade durch und überließ das übrige Gott – aber der Kaiser Alexander hat sich langsam durchkämpfen müssen. Dieser Herr war jedes Anhauchs und Anflugs des Großen und Edelmütigen fähig, aber es war etwas Weiches in seiner Natur, was die feste Ausdauer und die männliche Härte versagte. Der Krieg mit Napoleon war erklärt, und die ersten blutigen Zusammenstöße hatten schon geknallt; aber noch immer saß Romanzoff am Ruder und hatte den Minister des Innern, den verdienten Speranski und den Geheimen Staatsrat Beck in seinem Ministerium, weil sie dem Kaiser Vorschläge und Ratschläge zu den kühnsten und geschwindesten Maßregeln übergeben hatten, in Verbannung und Kerker geschickt. Er war bekannt als die Seele des gegen Spanien, gegen England und Österreich beschwornen und nur zu lange und zu schimpflich gehaltenen napoleonischen Bündnisses; er, in seinen Sitten und Gewohnheiten ein abscheulicher Weichling, gehörte zu den Entnervten, die in Napoleon den Schicksalsmann des göttlichen Fingers sahen,[150] den keine irdische Macht werde bändigen können; sein Rat war Friede und Unterwerfung gewesen. Kaiser Alexander hatte nicht den Mut, sich plötzlich von dem alten Mann zu scheiden und loszureißen, obgleich Stein über diese Stellung, besonders über die Meinung, welche diese Stellung bei England, Österreich, Preußen und bei allen, die einmal an dem Joche des Korsen schütteln könnten, notwendig hervorbringen müsse, dem Kaiser die redlichsten und tapfersten Wahrheiten gesagt und geschrieben hatte. Ich habe von ihm an den Kaiser gestellte Briefe abschreiben müssen, welche nach Wien und London geschickt wurden, in welchen dieses Verhältnis und die Unbrauchbarkeit und Schädlichkeit des weichlichen, wollüstigen und charakterlosen Mannes mit dem leisen Tritt und der honigsüßen Miene mit Steinscher Kürze und Klarheit geschildert war. So wirkte er auf den Kaiser, aber eine breitere mächtigere Bahn machte er sich bald in der großen petersburger Gesellschaft, und durch diese wirkte er wieder, vielleicht mächtiger, auf den Kaiser zurück. Sein Mut, seine Kühnheit, noch mehr sein Witz und seine Liebenswürdigkeit drangen allenthalben durch und ein, und leuchteten und zündeten wie Blitzstrahl, wo irgend noch etwas zu zünden war. Die sittliche Schönheit und Klarheit seines Wesens, durch und durch mit Mut durchgossen, und die Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit, womit er in den kürzesten unscheinbarsten Worten an den Tafeln und Theetischen zu spielen wußte, wo er sich auch gern und unbewußt selbst im leichteren Kosen und Scherzen hingehen ließ, machte ihn bald zu einem mächtigen Mann in der petersburger Gesellschaft; sein tapferer Wille, seine Einfälle, seine Worte wurden zu Anekdoten ausgeprägt, welche wie Blitzfeuer rundliefen. Bald hatte er einen sehr bedeutenden Anhang, der um so treuer war, da alle wußten, daß er nur als Pilger gekommen sei, der mit dem Siege wieder gegen Westen wolle, daß er also keinem in den Weg treten werde. Er stand endlich in Petersburg wie das gute Gewissen der Gerechtigkeit und Ehre, und [151] die Orloffe, Soltykoffe, Ouwaroffe, Kotschubey, Lieven und das zum Begeistern und Fortschnellen so allmächtige Heer der schönen und geistreichen Frauen pflanzten sein Banner auf. Auch war er der unerschütterlichste Fürst und Feldherr des Mutes. Als die Nachricht von der Schlacht von Borodino und bald von dem Brande Moskaus ankam, und Zar Konstantin A54 umhersprengte und Frieden! Frieden! rief, als die Kaiserin-Mutter und Romanzoff Fried en flüsterten, trug er sein Haupt nur desto heiterer und stolzer. Ich habe ihn gesehen diesen heiteren Mut. Ich war den Tag nach der eingelaufenen Kunde von jenem Brande mit dem tapfern Dörnberg und mehreren wackeren Deutschen bei ihm zur Tafel. Nie hab' ich ihn herrlicher gesehen. Da ließ er frischer 'einschenken und sprach: »Ich habe mein Gepäck im Leben schon drei-, viermal verloren; man muß sich gewöhnen, es hinter sich zu werfen: weil wir sterben müssen, sollen wir tapfer sein 13« A55.

Diese Schlacht an der Moskwa oder bei Borodino den 7. September, der Einzug der Franzosen den 14., und der Brand der alten Hauptstadt den 15. und 16. September machten einen großen Einschnitt, den ersten großen Einschnitt in den Lauf dieses Feldzugs, jagten auch in Petersburg die verschiedensten Meinungen und Ansichten in einem ungeheuren brandenden Wellenschlage durcheinander, siegten aber endlich durch heitres sich aufhellendes und stählendes Frostwetter des ausharrenden Mutes bei dem Kaiser und bei dem Volke. Auch hier waren anfangs die Ansichten geteilt, ob die Franzosen oder ob der General Rostopschin die Einäscherung Moskaus verschuldet habe. Die den Mann kannten, sagten Rostopschin, aber die meisten fluchten auf die That als auf eine schauerliche Gräulichkeit. Als aber die Franzosen anfingen darüber zu fluchen und Rostopschin als einen Abscheu der äußersten Barbarei [152] hinzustellen, da wendete es sich bei den Russen um, und da erst merkten sie, welche Glorie für das Volk und welche Niederlage für den Feind in diesem flammenden Opfer aufgelodert sei. Nun ward Rostopschin mit einemmale der große russische Name, und es erhoben sich Erzählungen und Sagen von vielen Vorbereitungen und Veranstaltungen für diesen Zweck, die der Mann nie weder gedacht noch gemacht hatte. Nun liefen auch Fabeln um, von einem ungeheuren Höllenball voll feuer- und kugelspeienden Verderbens, welchen Rostopschin in der Nachbarschaft von Moskau mit mehreren Luft-und Feuerkünstlern bereitet habe, und welcher bestimmt gewesen sei, mitten auf das französische Heer herabgelassen zu werden. Eine Sage, welche die Franzosen in ihren Tageblättern wiederholt haben. Rostopschin war ein echter Russe, ein Mann, der sein Volk verstand, der mit ihm und zu ihm zu sprechen verstand – dies bewiesen alle seine Erlasse und Verkündigungen in Moskau – er war auch nötigenfalls der Mann von einem höllenstürmenden Mut. Früher war er bei Kaiser Paul Generaladjutant gewesen, und der Kaiser war in allen seinen Burgen sicher gewesen, so lange dieser gefürchtete Mut um ihn gelagert war. Erst als Rostopschin durch Beförderung zu Stellen, die er gar nicht gewollt hatte, von denen, welche im Finstern zettelten, aus Petersburg entfernt war, wagten sie sein letztes Schicksal zu entscheiden. Napoleon hatte durch die Einäscherung Moskaus seinen Feldzug verloren. Wie weh diese Flammen den Franzosen thaten, zeigt ein Aufsatz aus diesen Tagen im Journal de l'Empire. Hier ist er:

»Hätte man die gräuliche Barbarei der Russen je bezweifeln können, so würde ihr Verfahren in ihrem eignen Lande uns besser davon überzeugen als alles, was man über ihre Sitten je gedruckt hat. Durch unsre Waffen besiegt rächen sie ihre Niederlagen dadurch, daß sie die Städte, die sie nicht verteidigen können, verbrennen. Weiber, Kinder, Greise, selbst ihre eignen Verwundeten sind die Schlachtopfer [153] ihrer unsinnigen Wut und ihres rohen Stolzes. Wir scheinen sie nur noch zu verfolgen, um sie vor ihrer eignen Wut zu schützen, und diejenigen, welchen man in dem Siegesrausche einige Unordnungen verzeihen konnte, kommen nur herbei, um das Volk vor den Ausschweifungen des Heers, das es verteidigen soll, zu retten. Was würde aus dem gesitteten Europa werden, wenn diese Scharen Mordbrenner darin eindringen könnten. Die Trümmer Roms und Italiens geben Antwort. Die heutigen Barbaren sind noch die Barbaren von weiland. Gab es je einen Volkskrieg, so ist es unstreitig der Krieg für die Umstürzung dieses blutdürstigen Kolosses, der sich seit hundert Jahren unter dem Geklirr von Ketten, womit er Europas Freiheit bedroht, und mit dem Schein von Fackeln, womit er die Trümmer desselben beleuchten will, gegen uns vordrängt. Bei der Belagerung Wiens ward Europa einmal vor der Überschwemmung der Barbaren geschützt, aber seine Ruhe war noch ohne Bürgschaft. Es mußte sich ein mächtiges Genie erheben und alle Streitkräfte der gesitteten Welt bis in den Mittelpunkt der Barbarei führen, um ihr den Herzstoß zu geben. Dies ist das große Gemälde, welches sich vor den Augen der erstaunten Welt aufrollt, und wovon die Einnahme Moskaus einen der wichtigsten Gegenstände ausmacht. Man hatte geglaubt, der Feind würde seine alte Hauptstadt verschonen; man hatte um so mehr Grund dazu, als nach glaubwürdigen Briefen der russische Oberfeldherr einen Parlamentär ins französische Hauptquartier geschickt hatte, um Moskau der Gnade des Siegers zu empfehlen. Aber so groß ist die in Rußland herrschende Unordnung, daß ein Statthalter wagt aus eigener Macht Banden von Räubern und Mordbrennern zu organisieren und eine Stadt, worin ein ganzes Heer sich nicht hatte behaupten können, mit einer Handvoll Missethäter zu verteidigen hofft.Nie hat die wahnsinnigste Grausamkeit eine scheußlichere That ersonnen; der Name des Mannes, der sie beging, muß ein Fluch [154] der Zeitgenossen und ein Abscheu der Nachwelt bleiben. Übrigens hat man trotz der schauderhaften Vorsicht des Statthalters, die Feuerspritzen fortzuführen oder zu vernichten, die Hoffnung, daß verschiedene durch große Felder abgesonderte Quartiere vom Feuer werden verschont geblieben sein. Nach einem vor uns liegenden Briefe hatte man große Vorräte (?) Reis, Branntwein und Mehl gerettet und entdeckte noch jeden Augenblick neue. Der Rückzug der Russen geschah so übereilt, daß sie sich nicht einmal Zeit nahmen, die zahlreiche im Zeughause liegende Artillerie zu vernageln. Aber graunvoll ist – und selbst Menschenfresser würden darüber schaudern, – daß der Tatar, der in Moskau Statthalter war, sogleich zuerst die Quartiere, worin die Spitäler liegen, anzünden ließ, und daß die 30000 (?) Verwundeten und Kranken, welche in der Schlacht vom 7. September dem Tode entgingen, ihn nun in den von ihren Landsleuten angezündeten Flammen sinden mußten. Kann man wohl Rasende, die ihre Verwundeten verbrennen, ein Volk nennen? Nein, Europa giebt sie zornig der Verachtung aller gesitteten Nationen preis, und ruft den Fluch der kommenden Jahrhunderte auf sie herab.«

So schwer fühlten die Franzosen, daß die Sonne von Austerlitz in dem Rauch dieser Flammen erloschen war. Denn es war an dem Tage von Borodino ein heller Sonnenaufgang; da rief Napoleon seinen Soldaten zu: »es ist die Sonne von Austerlitz, das Heer nahm die Vorbedeutung an und schlug den Generalmarsch 14.« Aber Kaiser Alexander hatte auch nicht Muts genug, zu der ungeheuren That, die allerdings so viel Glück und Vermögen, was aber nur den Franzosen zu Gute gekommen wäre, zerstört hatte, ein festes Ja oder Nein zu sagen; so daß General Rostopschin nicht anerkannt ward, sondern wie in einer Art Ungnade nicht lange darauf das Land verließ. Doch war dies ein Stück [155] von Numantia und Saragossa, und den Welschen mußte sich das letzte Haar auf dem Kopf bewegen, wenn sie Saragossa hörten. In den Flammen Moskaus aber leuchteten zehn Saragossas. Europa aber rief keinen Fluch über die Flammen aus, noch empfand es Abscheu, aber wohl jenes Erstaunen und Schrecken, welche das Gefühl desjenigen sind, der sich der Großheit solches Verderbens nicht mächtig glaubt.

Ich habe oben die Russisch-Deutsche Legion genannt. Viele deutsche Offiziere und zwar grade nicht von den gewöhnlichsten, waren aus der Heimat entwichen und gegen Osten gezogen. Es war ein dunkles Vorgefühl in den Menschen, Gott werde durch ein Glück, welches Kraft, Kunst und List zu einer Macht aufgebaut hatten, welche die Gemeinen und Feigen gleich einem unverrücklichen Schicksal anstaunten, endlich einen Bruch reißen. Den Anfang eines solchen Risses meinten sie schon in Spanien gewahrt zu haben; Napoleon, dessen Stolz und Herrschsucht sich in diesem neuen Iberien schon an vielen scharfen Dornspitzen zerstoßen hatte, werde sich in Scythien verlaufen. Diese Entwichenen, meistens Preußen, treue tapfere Männer, meinten hier nicht gegen, sondern für ihren Herrn und König zu fechten. Groß gewiß war ihre Herzensnot, daß sie in der Fremde den Mut kühlen mußten, den sie lieber in der Heimat gekühlt hätten. Sie wußten, ihres Königs Herzensnot war tausendmal größer, daß er sich als Freund und Bundesgenoß des Mannes gebärden mußte, der die Ehren seines Volkes schändete und alle beschwornen Verträge und Gelübde, wie der Augenblick ihm gelegen däuchte, gleich zerrissenen Spinneweben durch die Lüfte blies. Sie lagen hier bei den Fremden wahrlich nicht auf Rosen: denn groß ist das Leid des Ehrenmanns, der als Flüchtling zu den Fremden kommt. Schon Kallinus vor zweitausendfünfhundert Jahren sang: »er wird durch Neid und Haß und Mißgunst denen verhaßt sein, wohin er gelanget.« Viele dieser Entwichenen fochten nun mit im Heere; andere lebten in Petersburg, um aus deutschen Gefangenen, [156] Überläufern und Freiwilligen eine Deutsche Legion zu bilden, welche Fahnen und Schwerter erheben sollte, so wie der Sieg aus diesem Osten gegen die vaterländischen Grenzen nach dem Westen vorrücken würde. An der Spitze der Errichtung dieser Legion standen der regierende Herzog von Oldenburg, auch er ein entwichener Flüchtling, der Graf Lieven, jüngst noch Gesandter in Berlin, und der Minister vom Stein, die ungleichsten Männer; was viele kleine Häkeleien gab. Der Herzog, ein würdiger trefflicher Fürst, war feierlich, kalt und gemessen und freilich nicht gemacht, soldatischen und kriegerischen Angelegenheiten Atem und Feuer einzublasen. Der kurze Stein war in Verzweiflung, wenn er mal mit ihm sich besprechen und beraten mußte: »der steht vor mir ganz wie der alte deutsche Reichsprozeß und dociert mir zwei, drei Stunden stans pede in uno« pflegte er von ihm zu sagen. Als ich zuerst ging mich vor dem Herzoge zu verneigen, warnte er mich, ihn ja ruhig fortsprechen zu lassen, er werde mich in der Reichs-und Fürstengeschichte belehren; und so geschah es. Mit Lieven war gut handeln: der unterstellte seine Wirksamkeit in diesen und andern deutschen Sachen gern der Einsicht und dem Willen Steins. In diesen Geschäften bekam ich zuweilen auch kleine Aufträge, hatte wenigstens zuweilen kleine Vermittelungen zwischen einzelnen Offizieren und meinem Herrn. Durch die langsame und etwas pedantische Weise des Herzogs wurden die armen Offiziere auch oft zur Verzweiflung gebracht, und die feurigsten waren oft nahe daran, sich von dem ganzen Plan zurückzuziehen und sich lieber in dem russischen Heere zu verlieren, wo ihnen freilich auch nicht leicht eine würdige Thätigkeit beschieden ward, zumal da die Russen, als es mit ihren Dingen anfing glücklicher zu gehen, gegen die Fremden, die sie nicht leiden können, einen unerträglichen Stolz und Hohn übten. Das war eine harte Geduldprobe vieler trefflichster Männer; doch hat Gott ihnen verliehen, im Jahr 1813 ihre Schwerter fürs Vaterland mit welschem [157] Blute zu röten. Unter diesen mit mancherlei Verdruß und Ärger durchflochtenen Dingen gab es gottlob auch recht heroische Freuden, die uns, wann wir auf dem weichen Friedenspfühle schlummern, nimmer werden können. Welche! Abende und Nächte mit Euch, ihr Heldenseelen, von welchen so viele schon von andern Sternen auf die Leichenfelder jener! Jahre herabschauen! Da waren die Dörnberge, Clausewitze, Goltze, die Grafen Friedrich und Helvetius zu Dohna, auch edle Kommer und Geher: Boyen, Adolf Lützow u.s.w., und das gab denn oft einen jauchzenden und jubelnden Zusammenklang der Herzen und der Becher, zumal nachdem die Flammen Moskaus unendliche Hoffnungen befeuert hatten.

Dies war fast mein täglicher schöner Kreis, in welchem ich mich bewegte; doch darf und will ich einen andern nicht verschweigen, welcher auch seine Luft hatte. Ich fand in Petersburg große Handelshäuser, deren Häupter Männer aus meiner Heimat waren, und ward in manchen andern deutschen Häusern und unter den Gelehrten und einzelnen Akademikern bald wie heimisch. Die Gastlichkeit des Nordens herrschte hier in ihrer Fülle. Auch fand ich alte schwedische Bekannte, unter ihnen den General Grafen Armfelt, damals General-Statthalter Finnlands. Man konnte sich hier vor Einladungen und Schmäusen kaum retten. Das Leben war ein Nachtleben, wie es im hohen Norden der Winter schon mit sich bringt, und die Hauptstädte es begreiflicherweise drei-. sach mit sich bringen. Vor Mitternacht ging man fast nie aus einer Abendgesellschaft, oft nicht vor zwei, drei Uhr früh. Vormittags aber durfte man nicht erwarten vor zwölf Uhr jemand sprechen zu können.

Unter vielen bedeutenden Männern lernte ich auch Schubert den Astronomen, Klinger den Dichter, und den Weltumsegler Krusenstern kennen, alle drei Deutsche, der letzte aus einer schwedischen Familie stammend. An Schubert war ich gewiesen als an einen Mann aus meiner Heimat. Ein hoher, schöner und geistreicher Mann, aber durch Hochmut verdorben. [158] Er war ein Vergötterer Napoleons, zweifelte an jedem Erfolg gegen ihn, schien überhaupt Geist und Glück anzubeten, kalter Hohnlächter und Menschenverächter. Vielleicht hatte er das hier gelernt; indessen gehört zu allem irgend eine geborne Anlage. Er gab mir die Lehre: der Mensch ist eine dienstbare und lastbare Bestie, lieber Landsmann; hier ist sie eine doppelt tückische Bestie; gewöhnen Sie sich hier recht grob und hoch aufzutreten, dann hält man Sie für etwas. Solche widerliche Lebensregeln möchten auch anderswo für gewisse Charaktere ihre praktische Gültigkeit haben Ich war ein paarmal bei diesem hochfahrenden und vornehmen Gelehrten und kam nicht wieder. Klinger war eine hohe mächtige Gestalt, schon mit schneeweißem Haupt, ein Leib wie aus Metall gegossen, ein hoher tiefer Blick, eine gewaltige Stimme. Aber auch dieser Frankfurter war hier zu einem fürchterlichen Weltmann abgeschlossen, geglättet und gehärtet. Es kam der Jammer über ihn; in der Schlacht bei Borodino verlor er seinen einzigen Sohn, Offizier im russischen Heere; das beugte ihn tief. Krusenstern – ja das war ein ganz anderer, obgleich im rauhen Norden an Esthlands Küsten geboren, der menschlichste, anspruchloseste, liebenswürdigste Mann, bei welchem jeder Seele wohl ward, der nur die schlichte Einfalt des Seemanns, aber nichts von der Rauhigkeit des rauhen Elements, mit welchem er zu kämpfen hatte, an sich trug. Mein Liebling aber ward der Akademiker Dr. Trinius A56, Leibarzt bei der Herzogin Alexander von Württemberg, gebornen Prinzessin von Sachsen-Koburg, Dichter, Botaniker und Mensch. Bei diesem versammelten sich nächtlich und mitternächtlich gewöhnlich die Besten und Frohherzigsten der petersburger Gelehrtengilde. Hier war zugleich Leben und volles Herz für die große Sache der Befreiung des deutschen Vaterlandes und Europas.

Bei Trinius Herrin ward ich beide durch ihn und durch den Herrn vom Stein eingeführt. Das war eine herrliche Frau, stattlich und schön wie ihr ganzes Geschlecht und von [159] hohem deutschem Gemüt. Sie war eine begeisterte volle Steinin und Deutschin, und an ihren Abendtheetischen saß der alte Herr in seiner Wonne und weiter hintenhin saßen andere Kleinere. Diese edle Fürstin versammelte bei sich, was nur irgend noch deutsche Liebe und Hoffnung hatte. Sie, die vertrauteste Freundin der regierenden Kaiserin, Frau Elisabeth, trug nebst ihr das Steinsche Banner des Muts und der Ehre; und oft begab sich, wenn sie wußte, daß seltsame und eigentümliche Käuze zu ihr kommen würden (in solchem Fall hielt sie alle Herren und Damen des Hofes ausgeschlossen), dann gab sie der erhabenen Kaiserin einen Wink, und diese setzte sich dann in ihrem Inkognito seitwärts oder hinterwärts, etwa hinter einigen sie verbergenden Hoffräulein, um sich einmal menschlich zu ergötzen. Hievon ein Pröbchen:

Hier in Petersburg, wo sich wie zu einem großen Pfingstfest der Begeisterung und Erlösung die Menschen und Zungen aus allen Völkern damals versammelten, erschienen auch einige eben aus England zurückgekehrte Tyroler, unter diesen ein prächtiger Mensch, ein Vorarlberger, Franz Fidelis Jubilé, ein Vierzigjähriger, ein rechtes Bild eines stattlichen und freien deutschen Mannes. Um diesen, der einige Monate in Petersburg verweilte, riß man sich in allen Gesellschaften und ließ sich die Thaten und Leiden des Tyroler Kriegs und seine Audienzen bei seinem Kaiser Franz und beim Prinz-Regenten von England und seine Gespräche mit ihnen erzählen und seine Tyroler Kriegs- und Volkslieder vorsingen, die er mit hellster fröhlichster Stimme klingen ließ. Er war schon oft bei der Herzogin gewesen, welche die Weisen seiner Lieder auf dem Klavier zu spielen pflegte; und er war da ganz zahm und heimisch und nach Art der Alpenbewohner zutraulich plauderisch geworden. Die Herzogin hatte der Kaiserin von diesem ergötzlichen fremden Vogel erzählt. Diese wünschte ihn zu sehen und zu hören. Dem General Armfelt war von der Herzogin aufgetragen, ihn einen bestimmten [160] Abend herzubringen. Dieser hatte ihn den Mittag zu sich geladen und seinen Mut mit edlem Wein aufgefrischt. Jubilé kam, schwatzte, erzählte, sang – alles in prächtigster Tyroler Lustigkeit und Fröhlichkeit. Als nun die Mitternacht nahte, die Herzogin aufstand, und alles sich erhob, trat die Kaiserin aus ihrem Versteck unter den Hoffräulein hervor und machte sich freundlich an den Tyroler, sprach mit ihm über Schwaben und den Rhein, erzählte ihm, sie sei eine Deutsche vom Rhein und bat ihn, wenn nun die Tyroler und er sich bald wieder bewegten und Gott ihnen Sieg gebe, möge er ihrer Fürbitte und dieses Abends gedenken und in Baiern und Schwaben nicht zu wild hausen. Er, der im freien fröhlichen Lauf war, entgegnete ihr kühnlich und frisch und sprach nach erzürnter Tyroler Weise über die Könige von Bayern und Württemberg und über ihren Bruder, den Großherzog von Baden, keine leichten Worte. Als sie das lächelnd angehört und ihre Bitte wiederholt hatte, trat der Schelm Armfelt vor und sprach: »Wissen Sie, lieber Jubilé, mit wem Sie sprechen? es ist die Kaiserin.« Bei diesen Worten erblaßte der Mann und schrak zusammen, indem er herausstammelte: »E. Kaiserl. Majestät, halten zu Gnaden! Sie haben es so gewollt; ich wußte nicht, daß Sie da waren, ich hielt Sie nur für eine Hofmagd.« Sie nun suchte ihn freundlich zu beruhigen, aber er ging zitternd davon. Als ich ihn den andern Morgen besuchte – es war der Tag, wo er abreisen wollte – lag er krächzend im Bette; er hatte ein Brechmittel genommen. Auf meine verwunderte Frage, wie er plötzlich so hustig und matt geworden? antwortete er: »Das war gestern schlimmer als ein Küglein aus einem Stutzerl, die Kaiserin ist mir auf die Brust gefallen.«

O das war die Zeit der Zeichen und Weissagungen des Propheten Jesaias, da glich die Gleichheit der Gesinnung alle Völker, Stände und Alter, da ebneten sich die Berge zu Thälern, und die Thäler stiegen zu Bergen empor.

[161] Es kamen auch viele andere berühmte und herrliche Männer diesen Sommer nach Petersburg, die sich nicht zu meinem Erreich und Bereich herabließen. Auch erschienen hier, auf der Flucht über Wien kommend, die beiden europäischen Berühmtheiten, Frau von Stael und Herr August Wilhelm von Schlegel. Diese kamen jedoch zu meinem Anblick. Was soll ich von der großen oft beschriebenen und viel gepriesenen Frau sagen? Sie war dem Leibe nach nicht schön gebildet, für ein Weib fast zu stark und männlich gebaut. Aber welch ein Kopf thronte auf diesem Leibe! Stirn, Augen, Nase herrlich und vom Licht und Glanz des Genius funkelnd, Mund und Kinn weniger schön. Bei so vielem Witz und Geist, als aus ihren Augen blitzte und von ihren Lippen sprudelte, ein bezaubernder Ausdruck von Verstand und Güte. Verstand? Jedem Vogel sah sie sogleich an seinem Schnabel an, welchen Ton sie mit ihm zu singen habe – eine königliche Gabe, die aber vielen Königen fehlt. Es war eine Luft, wie die Frau den Stein behandelte, und wie die beiden lebendigsten Menschen, wenn sie auf einem Sofa zusammengepaart saßen, sich miteinander karambolierten. Eine Scene gab Frau von Stael noch, die uns oft zu Kalten fühlen ließ, wie Franzosen für ihr Vaterland und ihr Vaterländisches empfinden, und wie sie oft zu viel haben, was bei uns zu wenig ist. Die französischen Schauspieler in Petersburg gaben die Phädra. Rocca, der Freund der Frau von Stael, und ihr Sohn waren ins Theater gegangen, wir andern bei der berühmten Frau zu Mittag Geladenen saßen noch am Tische – siehe! da kamen die beiden bald wieder etwas bestürzt zurück und erzählten, es sei bei dem Anfang des Spiels im Theater ein solches Lärmen und Toben und ein solches Schimpfen gegen die Franzosen und das französische Schauspiel von den Russen erregt worden, daß die Darstellung habe eingestellt werden müssen. Und so war es in der That; dies war der letzte Spieltag der französischen Schauspieler diesen Sommer in Petersburg [162] gewesen, und der Haß und Zorn des Volkes hatte sich so derb und hart ausgesprochen, daß sie im Anfang des folgenden Winters aus Petersburg abreisen mußten. Und die Frau von Stael? Sie vergaß Zeit und Ort und fühlte nur sich und ihr Volk. Sie geriet außer sich, brach in Thränen aus und rief: »Die Barbaren! die Phädra des Racine nicht sehen zu wollen.«

Und endlich die Russen? Da ich der Sprache unkundig war, so konnte ich nur mit denen verkehren, welche deutsch oder französisch sprechend in die allgemeine europäische Bildung eingetaucht waren und in der europäischen Abfegung und Polirung das Volksgepräge zum Teil schon verwischt zeigten. Aber die rechten Russen, die Soldaten, die Bauren, die kleinen Krämer, die Fuhrleute und Kutscher, die Schauspieler, Mimen und Tänzer des russischen Theaters zu beobachten und zu erkennen versäumte ich keine Gelegenheit. Solche naturhistorische Belustigung war mir als Trieb angeboren, und diesen Trieb zu befriedigen hatte ich hier reiche Gelegenheit. Ich ergötzte mich oft mit meinem alten Herrn, wenn wir mal spazieren gingen; was in meinem ersten petersburger Monat öfter geschah. Da rieten wir denn und wetteten gegeneinander, wenn wir in gewisser Entfernung verschiedene Menschen gehen sahen, welche von ihnen Deutsche, Engländer, Russen u.s.w. seien. Ich hatte die letzten bald weg in ihrer Art, auch in ihrem Wuchs und Schritt, so daß ich sie schon in beträchtlicher Ferne meistens sicher erkannte. Mein alter Herr pflegte dann wohl scherzend zu sagen: ich müsse von irgend einer Hexe meinen Eltern als ein Wechselbalg ins Nest gelegt sein; ih gehöre offenbar einem Stamm amerikanischer Wilden an und habe noch die Hühnerhundnase zum Aufwittern des verschiedenen Blutes. Dies ist ein wunderbares Volk. Man irrt nicht, wenn man sagt, in den Zügen und in dem ganzen Ausdruck ihres Wesens ist Asia und Europa beisammen; nein, es springen einem noch manche andre unerklärliche Ähnlichkeiten entgegen; [163] Mischungen mit Skandinavischem, Tatarischem, Finnischem erscheinen unverkennbar. Die Sprache wie nahe der polnischen verwandt, und der Mensch wie ganz ein anderer! Das Leichte und Lustige des slavischen Stammes im allgemeinen, doch viel mehr bewußtes spielendes Talent als bei den Polen, viel mehr Ausdruck schalkischen Verstandes und trotzigen Willens bei aller Biegsamkeit und Beweglichkeit der Glieder und Gebärden. Und wann es Ernst gilt, welch ein Ausdruck von Trotz und Hartnäckigkeit, welch eine Geduld und Arbeit, eine Ausdauer, die nach Asien hinzudeuten scheint! Dabei ebensoviel tiefer religiöser Sinn, als auch der bei den Nachbarn auf der Oberfläche zu liegen scheint. Ich bin ordentlich erstaunt über die Gesichter der Betenden in den Kirchen und selbst der Betenden auf den Gassen, wann die Mittags- oder Abendglocke zum Gebet schlug – wie stand auf einmal alles still und händefaltend da, tief wie in sich und in den Himmel hineinschauend und aus der alltäglichen oder lustigen Gebärde des vorhergehenden Augenblicks und aus den gemeinen irdischen Gedanken und Geschäften, worin sie eben noch befangen waren, plötzlich in eine andere Welt versetzt und vom Donner gerührt an der Stelle festwurzelnd, wo sie sich eben noch ganz leichtsinnig und gedankenlos bewegten! Da fühlt man, es ist ein Kern in dem Volke, ein festes, unzertreibliches Dasein. Auch hat der gemeinste Kerl eine Miene, die sagt: ich bin etwas, den Ausdruck einer großen unverwüstlichen Gemeinsamkeit, etwas einem Stolze Ähnliches, wovon der demütige Deutsche keine Ahnung hat. Ich sage das gar nicht als einer, der sie besonders liebte und bewunderte, sondern es ist eben der Eindruck, den sie mir gegeben haben. Sie mögen die Deutschen nicht, ja sie verachten sie. Das gebe ich ihnen eben nicht wieder, aber lieben könnte ich sie auch nicht, und unter ihnen leben möchte ich um alles in der Welt nicht. Sie haben ein großes schweres Schicksal zu erfüllen gehabt und haben es tüchtig bestanden. Ich glaube [164] nicht, daß eine Weltumwälzung von ihnen ausgehen wird, auch wünschte ich sie nicht als Weltumwandler oder Weltwiederhersteller in meinem Vaterlande zu sehen, aber die Fremden werden diesen Festen und Sicheren ihr Leben nicht leicht verrücken.

Und unter den Russen höheren Ranges welche großartige einzelne Köpfe, ich möchte sagen, welche Studien für Maler und Bildhauer unter ihnen! Man erstaunt und erschrickt vor dieser sichern Gewalt, welche ich nicht Hoheit nennen darf – das Wort wäre zu hoch – aber Entschlossenheit und Bestimmtheit, ja Unabhängigkeit. Wie? Unabhängigkeit in Staaten wie Rußland und die Türkei, wo Zufall und Willkür fast immer mächtiger sind als Gerechtigkeit? Freilich Unabhängigkeit. Etwas liegt hievon allerdings in der Grundanlage dieses Volks, mehr gewiß noch in seiner Regierungsart. Die Männer sehen unerschütterlich aus und unverrücklich, wie das eiserne Schicksal. Ich begreife, wie solche Gesichter in Rußland und in der Türkei entstehen können. Wer dort genug Mut und Macht in sich hat, setzt sich endlich über die Furcht weg, die er in Regel nur von einem zu fürchten hat; alles andere ist Staub und Gesindel, worauf er tritt. Er bedarf nur zwei Dinge so lange festzuhalten und unaufhörlich zu denken, bis er schußfest darin wird: den Entschluß seines Mutes und den einzigen Kaiser auch als einen sterblichen Menschen anzusehen. Wie ganz anders, wo freiere Kräfte spielen! In England, in Frankreich, in Deutschland, wie muß auch der angeborenste, gewaltigste Mut in seiner Wirksamkeit sich zerteilen und zersplittern! gegen wie viele Dinge und Personen muß er Front machen und mit einer gewissen Scheu, Achtung und Biegsamkeit langsam die Flügel zu umgehen suchen! wie darf er so selten die Centra zu durchbrechen wagen! In Ländern, wo nur ein Gott und ein Autokrator anzubeten ist, wo Gott hoch und der Alleinwalter fern wohnt, kann er immer gleich auf das Centrum den Angriff machen. Denn wo die [165] Menschen in Knechtschaft dienen, sind einzelne immer die Unabhängigsten. Hier ein paar Anekdoten von dem großen Suwarow:

Als sein einziger Sohn siebzehn Jahre alt war, beschloß er ihn bei der Kaiserin Katharina einzuführen. Er trat mit ihm in das Vorzimmer, das von Wartenden und Aufwartenden angefüllt war. Die Leute, die sich bei ihm immer über etwas zu wundern hatten, verwunderten sich über den Aufzug und Anzug des Jünglings. Der Vater hatte ihn gekleidet, wie in den Tagen Peters des Ersten die Pagen gekleidet zu werden pflegten. Der Alte, welcher zu der Kaiserin immer freien Zutritt hatte, sprang, wie er denn mehr zu laufen als zu gehen gewohnt war, mit seinem Sohn rasch durch die Reihen der Weichenden und faßte den Thürdrücker, als wenn er zur Herrscherin eingehen wolle. Plötzlich aber lief er ebenso geschwind wieder zurück bis in die Mitte des Saals, stand dort einige Augenblicke, wie wenn er in Betrachtung vertieft wäre, und führte dann seinen Sohn eine Stunde rund herum, die einzelnen der Dastehenden der Reihe nach zu begrüßen. Er fing bei den Vornehmsten an mit geringster Verbeugung des sohnlichen Nackens, welche er mit seinen väterlichen Händen abmaß, vermehrte diese, wie er die Rangklassen hinabstieg, und indem er bei dem Sklaven, der die Kohlen im Kamin aufschürte, aufhörte, drückte er die Stirn des Jünglings bis in den Staub des Fußbodens nieder. Darauf ihn wieder aufrichtend sprach er feierlich und überlaut, so daß der ganze Saal es hörte: »Mein Sohn, du trittst heute auf eignen Füßen in das Leben ein, vergiß nicht der großen Lehre, die ich dir habe geben wollen: sieh! diese Herren« (auf die Vornehmsten zeigend) »sind, was sie werden können, aus jenen aber kann noch alles werden.« Man denke hiebei nur an Glücke wie der Rasumowski, Orlow, Potemkin, Subow u.s.w.

Unter Pauls Regierung, als der alte Feldmarschall schon sehr hinfällig war, ließ der Kaiser, der ihm nicht völlig [166] traute, doch sein Thun und Befinden belauschen. Er hatte seinen Günstling Kutaisow zu ihm geschickt, unter dem Schein, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Dieser Kutaisow war von einem Barbier und Nägelbeschneider bis zum Generallieutenant emporgehoben. Bei der Anmeldung seiner Ankunft ließ der Feldmarschall, der krank auf seinem Bette lag, sich in Uniform kleiden und Stiefel und Sporen anthun und in einen großen Lehnstuhl setzen – und so gerüstet hieß er Kutaisow einführen. Diesen, obgleich er ihn öfter gesehen, empfing er als einen völlig Unbekannten; indem er sich anfangs kindisch und erinnerungs- und gedächtnisleer gebärdete, nötigte er ihn durch ewiges halb kindisches Fragen hin und wieder und durch Vorschützung seines Alters und Mangels an Gedächtnis, indem er alle Feldzüge herrechnete, worin er zugleich mit ihm hätte sein können, und so aus ihm herausquälte, daß er nimmer unter Kugelpfeifen gestanden, endlich zu dem zerknirschenden Geständnisse, wie er ohne irgend eine blutige Arbeit, ohne irgend ein Verdienst durch des Kaisers Gnaden General geworden. Nachdem Suwarow diese Quälerei mit seinem Auflaurer beendigt hatte, stellte er sich, als ob ihm plötzlich die helle Besinnung wieder komme, nötigte ihn freundlich neben sich zu sitzen und klingelte dann auf das heftigste. Als auf dieses Geschell ein großer Heiduck hereintrat, winkte er ihm einen in der Ecke stehenden Stock zu reichen, hieß ihn sich richten, und spielte dann, so viel seine schwachen Arme vermochten, ihm mit dem Stock auf dem Rücken herum, sprechend: »Du Schurke, täglich hab' ich an deiner Liederlichkeit und Saumseligkeit zu meistern, so viele Jahre arbeite ich schon an dir und kann nichts Ordentliches aus dir machen; schau den Herrn hier, der ist gewesen, was du bist; und schäme dich, du Schlingel, was ist aus dir geworden?«

Napoleon hatte eine kostbare Zeit in Moskau versessen, immer noch hoffend, den Kaiser von Rußland mit Frieden zu bestricken, wie es ihm in Wien und andern Hauptstädten [167] gelungen war; aber diesmal schoß er fehl. Der Friede erschien nicht, wohl aber erschien der Winter, und endlich mußte an den Rückzug gedacht werden. Den 20. Oktober ward zum Abzug geblasen, und den 23. den Russen ins Gesicht, die sie nur Barbaren schalten, sprengten die Franzosen den schönen Kreml in die Luft, ein schönes historisches Denkmal in einem halb italienischen halb asiatischen Stil gebaut. Dies war eine jener unnützen Barbareien, welche diese, die sich so gern die Fürsten der Bildung und Gesittung Europas nennen, nicht bloß unter den Melaes, sondern in unsern Tagen an hundert Stellen in Deutschland gegen heilige Denkmale begangen haben. Denn der Kreml war keine Festung, war nicht für den Krieg gebaut, sondern gleichsam eine eigne kleine Wunderstadt inmitten der großen Stadt. Der Rückzug der Franzosen ward nun durch den Winter und durch die Lanzen der Kosaken, welche die Rückreise der Welschen beschleunigten, eine fürchterliche und graunvolle Flucht, eine Niederlage der Menschen und Pferde, wie man in Jahrtausenden nicht erlebt hatte. Die Russen zogen ihnen nach gegen Westen; der Kaiser sollte bald aus Petersburg abreisen, und der Herr vom Stein ihm nach Preußen vorangehen. Er nahm mich mit in seinen Wagen, worin wir bärenhaft genug in nordisches Pelzwerk vermummt saßen. Wir fuhren des Abends des 5. Januars 1813 aus Petersburg ab und waren den folgenden Abend in Pleskow, weiland eine Stadt und ein Staat glorreicher Freiheit und Herrlichkeit wie Novogrod, jetzt einsam und verlassen. Hier vernahmen wir die Trauerbotschaft, der Graf Chazot liege im Nervenfieber todkrank. Er war in den Angelegenheiten der deutschen Legion hierhergezogen. Denn hier war ein Depot von Gefangenen und Überläufern. Diese aber hatten die Feldpest dahin getragen. Die meisten unglücklichen Jünglinge, durch die Strapazen des ungeheuren Feldzugs ermattet, starben wie die Fliegen im November und verbreiteten die Seuche umher. So war auch mein edler Chazot angesteckt. Wir [168] sahen ihn auf seinem Lager; ein Landsmann, ein Hauptmann von Tidemann verpflegte ihn; er lag im Delirium, und kannte uns nicht mehr. Wir sollten ihn nimmer wieder sehen. Während der Minister und ich hier ein Stündchen weilten, hatten unsre Bedienten die Wache der Schlitten verlassen, und mehrere Sachen waren gestohlen, unter andern ein großer Mantelsack, worin ich in der letzten beschleunigten Eile des Einpackens meine meisten Papiere und fast alle meine Wäsche verpackt hatte. Auch den sollte ich nicht wieder sehen. Ich verlor mir sehr wertvolle Papiere, die ich aus dem Gedächtnisse nicht wiederherstellen konnte, und manche liebe Geschenke und Andenken von meinen petersburger Freunden, und mußte wegen Mangel an Wäsche von der unvermeidlichen beißenden polnischen Einquartierung doppelte Plage leiden. Chazot, der geliebte Chazot, der fröhliche mutige Held, begleitete mich in den trübsten Gedanken durch das dickste Schneegestöber; auch mein alter Herr war sehr traurig, denn er liebte ihn sehr, und es war ein Mann von allen geliebt zu werden. Er hatte von der männlichen Schönheit und Stärke seines Vaters geerbt, aber dabei die herzigste deutsche Natur und einen brennenden Haß gegen die prahlerischen Unterjocher. In Berlin hatte er den französischen Kommandanten, der unschickliche Worte über seinen König gesprochen, in einem Pistolenduell in die Ewigkeit geschickt. Sein Vater, der Graf Chazot von Florencourt, war ein geborner Franzose, durch Schönheit, Riesenstärke und Witz ausgezeichnet. Kronprinz Friedrich von Preußen hatte den Jüngling auf dem Feldzuge von 1735 am Rhein kennen gelernt, und König Friedrich hatte ihn in seinen Dienst eingeladen. Jener starke Graf hatte bei einem Zweikampf das Unglück gehabt, seinem Gegner den Kopf vom Rumpf zu hauen, wie in diesem Jahre 1813 in Rostock ein Kosakenoffizier in einem ähnlichen Kampf dem ältesten Sohn der Frau von Stael that, und da der König sich darüber geäußert hatte, er wolle Offiziere, aber keine Scharfrichter im [169] Dienst haben, so hatte Graf Chazot seinen Abschied verlangt und war Kommandant der Reichsstadt Lübeck geworden und hatte mit einer Gräfin von Schmettau mehrere Söhne gezeugt, welche später im preußischen Dienst doch wieder willkommen waren. Auf diese Weise war unser seliger Freund vom welschen Stamm, hatte aber in seiner Art und Gesinnung kaum einen Tropfen Blut einer welschen Ader.

Von Pleskow oder Pskow, wie es abgekürzt gewöhnlich lautet, fuhren wir auf Druja, dort über die gefrorne Düna, und von da über Widzy und Svenziany auf Wilna. Ein armes, sandiges, wenig bevölkertes Land, das erst gegen Wilna hin fruchtbarer wird. Wir sahen den lebendigsten Krieg, ja wir waren mitten drin, und kamen immer tiefer hinein, je mehr wir Wilna naheten: Viele zerrissene, zerschlagene, abgedeckte Häuser ohne Menschen und Tiere, nicht einmal eine Katze miaute darin; öde schauerliche Gemäuer und Brandstätten, magere Postpferde, ja so abgetrieben waren die kleinen litthauischen Pferde, daß wir an jedem Erdknollen oder Hügel stillhalten und sie sich verschnaufen lassen mußten, – und doch hatten wir unsre Wagen auf Schlitten gesetzt, an welche sechs ja zuweilen acht Pferde geschirrt wurden. Ach! wir hatten durch unsern langsamen Zug über die öden Schneewüsten Zeit, über die Gräuel nachzudenken, die dieser einzige Feldzug veranlaßt hatte. Was sahen wir? O könnte ein stolzer Eroberer weinen, wie er die Mütter von Hunderttausenden weinen macht! Den zweiten, dritten und vierten Tag unsrer Reise begegneten uns immerfort einzelne Scharen Gefangene, die weiter rückwärts gegen den Osten geführt wurden. Welch ein Anblick! zerrissene, erfrorne, bläuliche, unglückliche Pferdefleischfresser schienen sie kaum noch Menschen. Vor unsern Augen starben ihrer in Dörfern und vor den Posthäusern; Kranke lagen auf Schlitten im Stroh übereinander; so wie einer starb, warf man ihn seitweges in den Schnee. An den Straßen lagen die Leichen wie anderes Aas unbedeckt und unbegraben, kein menschliches [170] Auge hatte ihre letzte Not beweint. Wir sahen sie zum Teil mit blutigen Gliedern; denn auch Erschlagene hatte man als gräßliche Wegezeichen an Bäumen aufgerichtet. Sie und gestürzte Pferde bezeichneten den Weg nach Wilna; auch der des Weges Unkundigste hätte schwerlich irregehen können. Unsere Pferde schnoben und bäumten sich häufig, indem sie dazwischen, auch wohl darüber hinspringen mußten. Das war aber nicht das Grauen vor den Leichen, sondern ihre Witterung der Wölfe, die wir hin und wieder oft in Scharen von zehn oder fünfzehn mit dem Genuß ihrer Beute beschäftigt sahen, und die wohl wenige Schritt von uns über den Weg strichen.

Wir fuhren den 11. Januar spät Abends in Wilna ein. Unser Hauptschlitten fuhr sich im Rinnstein fest. Die Bedienten holten Leute zum Heraushelfen, der Minister ging ins nahe Gasthaus. Ich blieb bei dem Schlitten. Indem wir nun aus Leibeskräften arbeiteten, und ich meine Schultern mit untergestützt hatte, den Schlitten wieder flott zu machen, kam ein großer sausender Schlitten gegen uns gerauscht und riß uns wieder in das alte Elend zurück. Ich fluchte ein Donnerwetter, flugs flog der Einsitzer jenes Schlittens, der an dem unsern fest geworden, heraus, und wir packten uns an der Brust. Aber dies verwandelte sich in Lachen, es war ein lieber Freund, der Major von Pfuel, der eben aus dem Hauptquartier kam, aus der Stadt etwas Mundvorrat zu holen. Er freute sich, daß wir da waren, half uns nun mit seinen Leuten uns losmachen, und wir holten bald den Minister ein, wo wir in Müllers Gasthause in der deutschen Straße nach sechs öden Nächten endlich einen heitern Abend hatten. Aber, aber – wie stand es um die liebe Ruhe! Die erste Nacht half die unendliche Müdigkeit; nachher hatte ich meine polnische Not, auch meine polnische Langeweile. Denn den zweiten Tag ließ uns der Minister hinter sich: wir mußten noch auf einen Packschlitten aus Petersburg warten, zogen ihm dann langsam über Grodno nach, [171] und vereinigten uns unweit der preußischen Grenze wieder mit ihm.

Also von meiner polnischen Not. Ich hatte einen prächtigen Saal zu meinem Quartier, mit Seide tapeziert, mit großen Spiegeln und mit den Rafaelischen Kupferstichen des Morghen geschmückt. Mein Bett hatte ich auf einem weichen Sofa aufschlagen lassen; aber, aber – ein unbeschreiblicher Ekel! – alle Wände voll scheußlicher gelber Wanderer. Entsetzlich! ich mußte mich kreuzen und mein perfer! rufen; aber wo blieb hier das proderit tibi? Sonst war hier des Guten die Fülle, und seit der Flucht der Franzosen selbst an guten Weinen kein Mangel, ungarischen und französischen.

Den folgenden Tag Nachmittags, als der Minister abgereist war, ging ich aus, die Stadt zu beschauen und zu erkunden. Sie kam mir vor wie eine tartarische Hölle. Allenthalben ein scheußlicher Schmutz und Gestank; schmierige Juden; einzelne unglückliche Gefangene, meistens Verwundete oder Halbwiederhergestellte, jämmerlich umherschleichend; alle Straßen in garstigen Rauch und Dampf gehüllt, denn fast vor jedem Hause hatte man allerlei brennbare Sachen, selbst nur gewöhnliche Misthaufen, angezündet, um die Pestluft der vielen Lazarette und Seuchen zu zerstreuen, und diese Haufen dampften Tag und Nacht; auf den Straßen hie und da französische Kokarden, beschmutzte Federbüsche, zerrissene Hüte und Tschakos liegend und in der Demut des Staubes und der Zertretung an den Trotz derer erinnernd, die vor fünf Monaten in ganz anderer Gestalt mit ihnen durch Wilna stolziert waren. Ich ging aus dem Thore hinaus und schleuderte ein paar graunvolle Stunden durch die Vorstädte, die nach Wilkomirz und Kowno führen. Welche Gräuel! Jene Zeichen, die ich in der Stadt gesehen, immer dichter nebeneinander liegend, allenthalben noch einzelne ganz nackte Leichen, tote Pferde, Ochsen, Hunde, treue und unglückliche Genossen dieses ungeheuren Jammers; viele Häuser ganz [172] wüst, ohne Dielen, Fenster und Öfen, manche nur Brandstätten; unter diesen gräulichen Denkmälern der Verwüstung einzelne Schatten von Gefangenen und Rekonvaleseeuten umherschleichend; und hin und wieder am öden Gemäuer in sich zusammengekrümmt und frierend ein armes verlassenes Pferd stehend und kümmerlich einige Büschel Heu auflesend. Als ich heimging zur Stadt, traf ich einen seinen Jüngling, den ich anredete und ihn etwas fragte; es war ein Brabanter und Oberchirurg eines Lazaretts französischer Gefangener, die in einem geistlichen Stift einquartiert waren. Ich ging mit ihm bis in die Vorhallen des Elends, sah den ganzen Kirchhof des Klosters ringsum voll Leichen liegen und wandte mich zurück. Er erzählte, er habe von 2000 Lazarettisten täglich fünfzig bis achtzig Tote. Dies wird ihm bald die Arbeit mindern. Als ich dem Stadtthore näher kun, begegneten mir fünfzig, sechzig Schlitten, alle voll Leichen, die man aus den Spitälern und von den öffentlichen Plätzen wegräumte; sie wurden gefahren, wie man dürres Zaunholz fährt, und waren vom Frost erstarrt und dürr wie Zaunholz und werden den Würmern und Fischen (denn viele wirst man in gehauene Waken des Flusses) schlechte Speise geben. Das war mir das Scheußlichste, daß, wie man auf Angern, wo Ameisen ihre Haufen haben, die Fußsteige ihrer wandernden Emsigkeit sieht, so in der Haut vieler Leiber die Läusestraßen abgetreten waren. Es war ein jammervoller Anblick, Menschenleiber, die einst mit Liebe und Freude bei ihrer Geburt begrüßt, die dann mit Liebe genährt und erzogen und endlich in der Blüte ihres Lebens durch einen wilden Eroberer von ihren Eltern und Gefreundten weggerissen wurden, so viehisch, ohne alle Zucht, ja mit an der Erde hinschlackernden Köpfen und gen Himmel stehenden Beinen, ohne alle Verhüllung dessen, was Menschlichkeit und Schamhaftigkeit sonst verhüllen, fortschleifen zu sehen.

Den 13. Januar war schönes helles und nicht zu kaltes Winterwetter. Mich lockte die freundliche Sonne wieder [173] heraus, und ich wanderte aus einem andern Stadtthore längs dem Flüßchen Wilia hin, an welchem die Stadt liegt. Vor dem Thore viele zerbrochene französische Troßwagen und Kanonenlaffetten, öde und verwüstete Häuser, Hüte, Mützen, Kokarden, Leichen, verreckte Pferde am Wege. Man hatte die Leichen meist weggeräumt, aber hinter großen Steinen und Brückenpfosten und hinter Büschen waren viele vergessen worden, woran die Wölfe hin und wieder schon schienen gezerrt zu haben. Rührend war es mir, wie ein verwundeter Gefangener, der bleich und gekrümmt vor mir her hinkte und aussah wie einer, der eben aus dem Lazarett entlassen war oder eben hinein wollte, an einer solchen Leiche stehen blieb und sie betrachtete, ja mit seinem Stocke be-. rührte. So schaut der Mensch endlich starr und gleichgültig in sein Schicksal; ja er könnte es täglich thun in hunderttausend Legionen Elend und Jammer, wenn er nicht auch zu etwas Anderem, Fröhlicherem und Besserem berufen wäre. Während dieser bei der Leiche seines Kameraden und ich bei beiden stand, kam Sang und Klang den Berg herunter, und Priester und Trauergefolge in Schwarz gekleidet begleiteten in frommer christlicher Weise einen Sarg und seinen Bewohner zur Gruft. Unter uns auf dem Strom fuhren Schlitten Unrat und nackte Leichen fort. Unwillkürlich kam ich in den weiten Hof eines großen Gebäudes hinein, das mit seinen Stuben und Ställen und dem Rest von zierlichen Öfen und Tapeten verriet, es habe sonst ganz stattliche Bewohner gehabt. Alles drinnen zerrissen und zerschlagen, viele Fußböden angebrannt, Scherben, Knochen, Reste von Monturen, Hüten, Mützen, Federbüschen, endlich in einem abgelegenen Zimmerchen an einem Kamin eine halbgeröstete Leiche. Ihr armer Bewohner kroch vielleicht der Wärme nach wie ein Wurm dem Lichte, verlor die Besinnung und starb so an den Flammen. Auf ähnliche Art hatte man viele an einzelnen Beiwachtfeuern gefunden, die, in der Luft, die erstarrten Leiber zu erwärmen, im halben [174] Todesschlafe den Flammen zu nahe gekommen und verbrannt waren. Mich überfiel ein Grauen, als hätte ich am hellen Tage Gespenster gesehen, und ich lief aus den wüsten Mauern. Diesen Abend sah ich in der Stadt noch das größte Scheusal. Ich war ausgegangen, das Menschengewimmel ankommender und durchziehender russischer Landwehr und auch die polnischen Bauren und Juden zu betrachten, siehe! da lockte mich Gesang zu sich, und ich kam unvermerkt zu dem Minsker Thore, über welchem ein feierlicher Gottesdienst gehalten ward. Diesem hörte ich einige Minuten zu und kam dann auf dem Rückwege unweit dem Thore durch eine Pforte auf einen Kirchhof. Ich sah zuerst nur die Kirche, dann die oberen Fenster oder vielmehr die Luken ohne Fenster eines rings um den Kirchhof laufenden Gebäudes, das einem Kloster oder Kollegium ähnlich sah. Wie ich näher hinzutrete, was erblicke ich? Leichen auf Leichen getürmt, an einigen Stellen so hoch, daß sie bis an die Fenster des zweiten Stockwerks ragten; es waren gewiß tausend Leichen, ein ganzes ausgestorbenes Spital; in dem ganzen weiten Gebäude kein Fenster, kein Mensch – nur ein Hund schnoberte an einer Thür. Zum Glück band starrer Frost den Dunst der Verwesung, der diese Jammerstätten sonst unnahbar gemacht haben würde. Ähnliche Leichenhaufen mögen auch in Frankreich und Deutschland blutige Schlachten geliefert haben, aber es gehörte polnische Wirtschaft und ein Jahr wie das Jahr 1812 dazu, sie in solcher Scheußlichkeit menschlichen Augen zu zeigen. Aber wie konnte ich mich wundern, daß diese Leichentürme hier aufeinander standen? stand nicht unser Schlitten unter einem Schuppen des Müllerschen Gasthauses in der Deutschen Straße auf einem in seiner vollen Montur unter Mist und Stroh niedergetretenen Franzosen? So groß war das Unglück der Zeit, so sorglos und unmenschlich hier der Schmutz.

In Wilna wimmelt es von Juden. Ich mußte einige Einkäufe machen von Kleinigkeiten, welche mir der Diebesgriff [175] in Pleskow auch entrissen hatte, und mußte mich also unfreiwillig in ihren Buden herumtreiben. Ich fand die Gestalten und Gesichter derselben hier in Litthauen weniger schön als im südlichen Polen. Die Juden haben sich in diesem Kriege allenthalben sehr russisch gezeigt und sind mit ihren Herzen nicht wie die Polen abgefallen: denn die gepriesene polnische Freiheit gab ihnen nicht die Sicherheit des Besitzes, deren sie unter dem russischen Scepter genießen. Sie scheinen einen guten politischen Geruch gehabt zu haben, denn sie sind den Franzosen von Anfang an aufsätzig gewesen und haben sich trotz der Lockungen des Geldes fast gar nicht zum Spähen und Verraten gebrauchen lassen. Ja in Wilna haben sie beim Einmarsch der Russen tapfer gegen die Franzosen mit gestritten und so kühnlich mit Kriegsgeschrei hinter sie dreingejagt, daß sie mehrere Hundert erschlagen und gefangen haben. Die Beute, die sie hier von den Weltplünderern gemacht und die Dukaten und Waren, die sie von den Kosaken eingewechselt und eingekauft haben, sollen sich auf einen unermeßlichen Wert belaufen haben.

Ich fuhr den 14. Januar gegen Abend aus dem Minsker Thor des Wegs nach Grodno. Auch hier beschien der Mond ein Leichenfeld; da lagen wieder auf eine Halbemeilenlänge eitel Erfrorne und Erschlagene in Haufen von dreißig bis fünfzig nebeneinander, da lagen um und neben toten Pferden immer zwei, drei Leichen, da rutschte unser Schlitten noch über Menschengebeine. Hier sah ich in den Wäldern ungewöhnlich viele Wölfe uns vorbeistreichen. Dies war über fünf Wochen nach der Einnahme Wilnas durch die Russen. So nahm ich eine graunvolle Erinnerung von Wilna mit.

Das Land zwischen Wilna und Grodno fand ich viel fruchtbarer und bebauter, als das zwisben Pskow und Wilna; auch ist der Krieg mit seiner Verwüstung nicht so schwer wie dort über diese Straße gezogen. Grodno ist ein ganz nettes Städtchen. Ich blieb nur einige Stunden dort und erreichte in der Nacht das Kaiserliche Hauptquartier und [176] meinen Herrn und schlief in einem wohlgeheizten Baurenzimmer wie ein König auf ein paar Stühlen, die ich mir unterbreitete.

Den 17. Januar langten wir in dem preußischen Städtchen Lyck an und nahmen in dem Amtshause Quartier. Es war eine bittere Kälte und ein hungriger Abend; denn die Menschenmenge war dort größer, da viele Russen mitgeströmt waren, als der Speisevorrat. Doch welche Freude, wieder unter deutschen Menschen zu sein. die uns mit Ahnung eines bessern Glücks, wie sehr sie auch von Freund und Feind zerpreßt sein mochten, mit den fröhlichsten Gesichtern empfingen. Den 18. Januar ging es auf Schlitten durch preußische Wälder und über gefrorne Seeen bis tief in die Nacht hinein, wo auf einem Amtshofe wieder ein wenig geschlafen ward. Den 19. früh kamen wir bei dem Regierungspräsidenten Herrn von Schön in Gumbinnen an und blieben dort den ganzen Tag und die folgende Nacht. Da war es ein Jubel, wie wir empfangen wurden. Dieser würdigste ausgezeichnete Mann war ein alter Freund des Ministers. Hier waren Gespräche auszutauschen, auch wurden Anekdoten über die fliehenden französischen Marschälle und Intendanten zum Besten gegeben, welche über Gumbinnen nach Königsberg durchgezogen waren. In Preußen war ihnen natürlich sehr bange gewesen, das Volk möge sich einmal mitternächtlich gegen sie erheben und allen das Garaus machen. Was würden die Welschen den Deutschen in solcher Lage in Frankreich gethan haben? schwerlich wäre ein Gebein davongekommen. Wir sind auch in früheren Jahrhunderten nicht so zahm gewesen. Wie begab es sich denn hier? Die Marschälle waren denn doch in den besten Häusern einquartiert; aber mehrere derselben und andere vornehme Offiziere schickten ihre Bedienten heimlich herum und ließen sich und ihre Sachen in ganz schlechte und ärmliche Häuser führen, gleichsam als meinten sie dort besser verborgen zu sein, und bezahlten die Nachtquartiere mit [177] Friedrichsd'oren, weil sie Überfälle und Ausplünderungen fürchteten.

Den 21. Januar 1813 gegen Abend kamen wir von Gumbinnen in Preußens Hauptstadt, in Königsberg, an. Stein versammelte hier die preußischen Würdenträger und angesehensten Männer, unter ihnen voranzustellen der ehemalige Minister Graf Alexander zu Dohna und der Präsident von Schön. Er handelte allerdings im Namen und Auftrage des Kaisers von Rußland, aber in solcher Weise und mit solcher Achtung und Schonung der Personen und Verhältnisse, daß der König von Preußen stillschweigend als der Freund und Bundesgenoß desselben vorausgesetzt ward. Von dem Lande sollte nicht als von einem eroberten Lande Besitz genommen werden, sondern als von einem Lande, das man zu befreien kam A57. Es erschienen in diesen Tagen hier und in der Umgegend auch die Heerabteilungen des Fürsten von Wittgenstein und des Generals York, der mit den Russen den bekannten Vertrag abgeschlossen hatte. Das veranlaßte Jubel und Feste, die freilich noch ihren düstern und finstern Gegenschein hatten. Denn groß war auch hier die Not und das Elend. Lazarette voll gefangener und verwundeter Franzosen, auch Lazarette von Russen und Preußen, Durchfuhren von unglücklichsten Gefangenen weiter gegen Osten; auch hier knarrten die stillen Leichenwagen durch die Gassen, und viele der Einwohner wurden auch die Opfer der Seuchen. So schlichen mitten in der Wonne der Befreiung Jammer und Tod als finstere Gesellen umher.

Merkwürdig auffallend war mir und jedem, welchem er zum erstenmal erschien, der General York, der berufen war, gleichsam den ersten preußischen Anfang zu machen, eine starre entschlossene Gestalt, eine breite gewölbte Stirn voll Mut und Verstand, um den Mund ein hartes sarkastisches Lächeln. Er sah aus wie scharf gehacktes Eisen; hat es ferner gegen die Welschen in vielen Schlachten wohl erwiesen.

[178] Der Herr vom Stein weilte hier nur kurze Zeit, eilte von hier nach Breslau, wohin der König von Preußen sich begeben hatte. Denn Berlin und Spandau waren in den Händen der Franzosen, welche durch die Lande und Städte hin- und herziehend sich immer noch gebärdeten, als müßten die Lande ihnen fernerhin dienen. Endlich erschallte zur unendlichen Freude aus Breslau die Königliche Entscheidung hieher. Wie auch die diplomatischen äußerlichen Scheine noch zweifelhaft spielten, seit dem Königlichen Aufruf der Freiwilligen vom 3. Februar und dem Gesetz und Gebot über die Freiwilligen war die Entscheidung nicht mehr zweifelhaft. Hier in Königsberg wurden von mir und vielen andern deutschen Zugvögeln, die noch ein bißchen Herz in der Brust hatten, wahrhaft königliche und kaiserliche Tage verlebt; noch klopft mir nach einem Vierteljahrhundert mein unterdes kälter gewordenes Blut bei dieser Erinnerung mit verdoppelten Schlägen. Diese Freudenbezeugungen empfing man doch noch mit anderm Herzen als die in Petersburg. Es ist ein prächtiges deutsches Volk die Preußen, besonders die Ostpreußen und was dort von den Salzburgern stammt; sie haben beide Feuer und Nachhaltigkeit, und was sie als Geister vermögen, hat die Litteratur in ihre unsterblichen Register eingetragen. Mit keinem der niedergeworfenen deutschen Staaten, mit keinem der verbündeten war Napoleon so grausam verfahren als mit dem preußischen. Das war überhaupt die boshafte Wonne dieses großen Feldherrn und engen Menschen – denn wenn er ein weiter Mensch gewesen wäre, hätte er das Zeitalter und Europa beherrschen und umbilden können – wo irgend eine Tugend und Ehre übrig war, sie in höhnischer Schadenfreude mit Schmutz zu bedecken. Als der König sich nun endlich erklärte und den Willen Gottes und die Wünsche und Gebete seines Volkes erkannte, da schrie über Verrat, der nimmer einen Vertrag gehalten, der den jüngsten Vertrag mit Preußen gleich im Anfange treulos und stolz gebrochen hatte, indem er die [179] Festungen Spandau und Pillau besetzte und mehrere preußische Regimenter über die Bedingung der Zahl gegen Rußland mit hinaustrieb; da klagte er, daß er zu großmütig die Trümmer Preußens noch habe bestehen und den Herrscherstuhl unverrückt gelassen. Er wußte wohl, warum er es gethan hatte; er mußte die Völker durch die Könige und Fürsten beherrschen. Wäre ihm der scythische Zug von 1812 gelungen, welches Spiel würde man die folgenden Jahre in Deutschland und in Polen gesehen haben! wie viele Königskronen würde er wieder in den Staub geworfen, wie viele Fürstenstühle erledigt erklärt haben! Preußen war im Jahr 1807 als Kriegsschauplatz der Russen und Franzosen fürchterlich verheert; im Frühling des Jahrs 1812 war dies mit absichtlicher Grausamkeit geschehen: man hatte das Land durch die schrecklichsten Durchzüge und Einquartierungen der Heerhaufen, dann durch Wegnehmung und Wegführung aller Hilfsmittel an Getreide, Pferden und Rindern bis aufs Mark ausgesagen und ausgeplündert. Und nun wie vergaß dieses in tausend Wunden zerhauene und verblutete Preußen in der Lust der Abschüttelung und Befreiung alle seine Narben, ja seine noch offenen Wunden und scharte und rüstete sich zur Bewaffnung seiner Jugend und zum Vordermarsch der Deutschen für die Freiheit!

Hier ward die erste Landwehr von 30000 bis 40000 Mann errichtet; daneben wurden die aus Kurland zurückgekommenen preußischen Regimenter ergänzt; unter der Führung des Grafen von Lehndorf ward ein prächtiges Reiterregiment von Freiwilligen beritten gemacht. Das war eine Begeisterung in den Städten und auf dem Lande, auf den Straßen und in den Feldern, auf den Kathedern und Kanzeln und in den Schulen! In kälterer ärmerer Zeit lächelt man, wenn man zurückdenkt; aber es war alles bitterster heiligster Ernst was den Leuten jetzt ein kindliches ja kindisches, höchstens ein gemachtes poetisches Spiel dünken würde. Da sagten die sechzehn-, siebzehnjährigen Jünglinge, [180] die für die Waffenlast kaum reisen Jünglinge beim Abschied aus den Gymnasien, als sie das Roß tummeln und die Büchse laden lernen wollten, übersetzte Stücke aus den Hymuen des Tyrtäus, lyrische Stücke aus der Klopstockschen Hermannsschlacht her, und Männer und Greise, Väter und Mütter standen mit gefalteten Händen dabei und beteten still Sieg und Segen. Ich schrieb da ein Büchleinüber Landwehr und Landsturm A58, woran ich Freude erlebt habe; es ist Monate später über ganz Deutschland hingeflogen und ohne mein Zuthun in vielen tausend Abdrücken vervielfältigt worden. Solches sind hinfliegende Blätter, die mit der hinfliegenden Zeit gleich andern fliegenden Blättern sich gelben und vergessen werden. Doch ist ja jeder einzelne auch nur ein hinfliegendes Blatt.

Hier muß ich noch eines Grafen zu Dohna aus dem Hause Finkenstein und Schlobitten erwähnen, des Obersten Grafen Ludwig, eines jüngern Bruders des Grafen Alexander und der beiden edlen Rußlandsfahrer, Grafen Friedrich und Helvetius. Ein anderer Bruder desselben in grüner Adlichkeit blühenden Stammes, Graf Fabian, hat sich in Spanien im freiwilligen Kampfe gegen die Welschen schöne Wunden geholt und sollte auch bald wieder in dem deutschen blutigen Reigen gegen sie mittanzen. Dieser Oberst Ludwig Dohna war, als im Königreich Preußen alles zur Entscheidung drängte, an seinen König nach Breslau geschickt worden und hatte die stille Genehmigung der Vorrüstungen des preußischen Patriotismus mitgebracht; darauf ward er an die Spitze der Errichtung und Einrichtung der Landwehr gestellt und machte diese durch eignen Eifer und durch den Miteiser seiner Landsleute in unglaublich kurzer Zeit waffengeübt. Es war eine ebenso freundliche als thatenkräftige Natur, dabei von großer Lebendigkeit und Gewandtheit. Er und seine Landwehr nebst einer kleinen russischen Hilfsschar unter dem Herzog Alexander von Württemberg haben die Festung Danzig lange eingeschlossen und endlich [181] zur Übergabe gezwungen. Die Beschwerden und Arbeiten dieses Dienstes, wo er zugleich für sein Heer und auch für sein Land selbst gegen die russische in Mannszucht sehr aufgelöste Hilfsschar zu kämpfen hatte, dann der wiederholte Kampf fürs Vaterland, als die Stadt endlich die weiße Fahne aufsteckte, und die vielen Streite und Ärger mit dem Herzog Alexander, der die Festung durchaus mit seinen Russen besetzen wollte, hatten die Kraft dieses jugendlichen und kühnen Helden aufgerieben. Er erkrankte bald, nachdem er Danzig, die alte Hauptstadt Hinterpommerus, seinem Könige wiedergewonnen, und starb am Nervenfieber. Ehre seinem Gedächtnis!

Hier ist also die Landwehr unter den Auspiecien der Grafen zu Dohna und vorzüglich des zum Oberstatthalter des Königreichs Preußen während des Kriegs ernannten Ministers Grafen Alexander zu Dohna zuerst ins Leben getreten. Später ist die Frage aufgeworfen, wer in Preußen der eigentliche Erfinder und Stifter derselben, ich sollte sagen der Grundsätze derselben, gewesen? Und man hat den Namen Scharnhorst genannt. Mit Recht: seine war die Schule der denkenden und erfindenden Männer und Offiziere in Preußen. Einer seiner Lieblingsschüler, der Oberst von Clausewitz, hatte schon vor einigen Jahren mit seiner energischen Klarheit und Kürze in Beleuchtung aller möglichen Gesichtspunkte, welche diese große Angelegenheit darbot, eine sehr schöne Schrift über die mögliche Verteidigung und Bewaffnung der preußischen Monarchie Sr. Maj. dem Könige eingereicht für den Fall, daß die Gunst der Umstände eine Gelegenheit böte, wo alles Volk aufstehen und gegen seine tückischen Dränger die Sturmglocke ziehen könnte. Ich habe diesen Aufsatz abschriftlich in Händen gehabt und mir Auszüge daraus gemacht, worüber ich bei den demagogischen Untersuchungen befragt worden bin, in der Voraussetzung, ich sei der Verfasser solcher Entwürfe gewesen A59. Aber alle Grafen Dohna, und auch der Minister, gehörten durch Gesinnung und Wirksamkeit [182] dieser Schule an, endlich sogar durch Verwandtschaft A60. Der Minister, der stillste, bescheidendste, frommste Mann, aber eben deswegen voll heißester Glut und unerschrockenstem Mut, wo es die heiligsten Vorteile des Königs und Vaterlandes galt, hat die Landwehr zuerst, und zwar auf das kürzeste, zweckmäßigste und mächtigste, in Preußen auf die Beine gestellt, und so soll er mit seinem Scharnhorst und dem Scharnhorstschen Clausewitz die Erstigkeit behalten. Die Erstigkeit in allen guten und heiligen Dingen wird diesem edlen Mann keiner, der ihn gekannt hat, abzusprechen wagen.

Dies waren leuchtende Tage, diese kriegsbangen Tage, und jeder ward von der allgemeinen Gesinnung und Begeisterung mit fortgetragen und emporgehalten. So bin auch ich damals getragen worden, ohne daß ich mir das Verdienst ansprechen könnte, so reiner und edler Heber und Schweber, als mich trugen, würdig gewesen zu sein. Ich wohnte und lebte in dem Hause der Gebrüder Nicolovius, die mit Leib und Seele mit den Besseren und Edleren ihres Vaterlandes strebten; ich lebte viel im Hause eines Jugendfreundes, mit welchem ich vor fünfzehn Jahren manche fröhliche Donaufahrt in Wien und Ungarn gemacht hatte, des Doktors Wilhelm Motherby, bei welchem sich der Glanz der jugendlichen Welt versammelte, tapfre und begeisterte Jünglinge: seine Brüder, die Motherby 15, Friccius A61, von Fahrenheit, von Bardeleben, und andere, die dem Vaterlande in der Not nicht gefehlt haben; ich lebte noch mehr, wirklich die meisten Königsberger Abende, in dem Hause des Kanzlers Freiherrn von Schrötter, des Gemahls einer Dohnaschen Schwester. Dort wohnte die herrliche Julie Scharnhornst, Gräfin Friedrich zu Dohna, die schönste Erbin des [183] väterlichen Geistes. Sie war die rechte Fürstin der Begeisterung, damals von Jugend, Schönheit und Seelenhoheit strahlend. In diesem Hause versammelten sich die Dohna sehr oft und was durch Würdigkeit, Gelehrsamkeit und Tapferkeit in Königsberg ausgezeichnet war. – Auch sah ich oft den Geheimen Kriegsrat Scheffner, einen schönen liebenswürdigen Greis, Zögling des siebenjährigen Krieges und seines Nachwuchses, weiland Freund und Genoß von Hamann, Kant und Hippel, berühmt durch seinen Geist und Witz, womit er auch damals noch funkelte. Man erzählt, die Ebengenannten und andere, die durch Schriften Preußens Ruhm sind, haben auf seiner reichen Blumenweide fleißige Lese gehalten. Scheffner gehörte zu den Geistern, welche durch Gespräch und Gesellschaft gereizt eitel Funken von sich geben, in der Einsamkeit aber weniger glücklich schaffen. Er war der unmittelbarste Hervorbringer. Jetzt bildete er nur noch einen engen Kreis; er war noch geistesfrisch aber hochbetagt. Aber nicht allein seinen Witz bewunderte man; auch seine Redlichkeit und seinen Verstand hielten die Weisen in Ehren.

Hier stieß ich auch auf zwei abenteuerliche Menschen, von welchen ich den einen kurz im Feldlager gesehen hatte, den andern, dessen trauriges Ende vielleicht auf mein Schicksal mit Einfluß gehabt hat, hier in Königsberg zum erstenmal sah. Ich meine Gustav von Barnekow und August von Kotzebue. Der erste hat mir einige Not, der zweite vielleicht schwere Not gemacht.

Den Vater jenes Gustav von Barnekow hatte ich wohl gekannt. Er wohnte zu Teschvitz unweit Gingst auf Rügen, wo ich ihn im Greisenalter gesehen habe, ein schönster Greis und ein Mann voll Thatkraft und Unbeugsamkeit, mit allen adligen Vorurteilen des Mittelalters behaftet, aber auch mit vielen trefflichen Eigenschaften gerüstet, welche die meisten seiner Rügenschen Vettern nicht teilten. Er war nicht mein Freund. Der Sohn früher in kursächsischen, dann in[184] preußischen Kriegsdiensten hatte sich in dem Winterfeldzuge von 1807 in Preußen glänzend ausgezeichnet, war mit einem stattlichen Abschiedsreisegelde aus dem Dienst entlassen, da man von seiten Frankreichs seine Auslieferung 16 begehrt hatte, weil er die französischen Marschälle beim Eintritt ins Theater in Königsberg öffentlich ausgescharrt und ausgepfiffen hatte, im Jahre 1809 hatte er als Freiwilliger unter Österreichs Fahnen gefochten und sich darauf in den stillen Jahren von 1809 bis 1812 in Pommern und Mecklenburg so hingehalten. Da war er, dessen Verdienst das Schweigen nicht war, einmal von Davoust eingefangen und einer französischen Friedenskugel nur durch die Verwendung und Börse eines Freundes seines Vaters, eines Freiherrn von Stenglin, ganz hart vorbeigekommen. Ich sah ihn flüchtig im Lager von Smolensk, hatte ihn in der Heimat nimmer gesehen. Es war ein schönster Kriegsmann, groß, schlank, mit herrlichsten Augen und Stirn, dabei leicht und beweglich, voll Einfälle und Talente, aber alles husarisch und überströmend, mit der allerunbändigsten Zunge, so daß, wenn er seinen Mut nicht durch Thaten erprobt hätte, einer ihn für einen Prahler hätte halten können. Dieser Gustav Barnekow ward in Rußland der genannteste deutsche Name. Er hatte in der Schlacht bei Borodino ein paar Pulks Kosaken geführt und diese durch seine schöne und mutige Persönlichkeit so begeistert, daß sie im stehenden Gefecht ausgehalten und, von seinem wilden Mut hingerissen, in zwei französischen Regimentern gewaltigen Durchbruch und blutige Metzelung angerichtet [185] hatten. Aber es waren die meisten von ihnen im Kampf gefallen, und auch den Führer hatte man von vielen Wunden bedeckt auf dem Schlachtfelde aufgelesen. Sein ihm voranfliegender Ruf hatte ihn zur Verpflegung und Heilung auf Rostopschins Schloß bei Moskau gebracht, dann in die Nähe der Stadt Twer und der großherzigen Zarentochter, Katharina von Oldenburg, der späteren allgeliebten Königin von Württemberg. Dieser Mann prangte nun als ein Wunder persönlicher Tapferkeit und Stärke (denn er war stark wie ein Löwe) in allen russischen Tageblättern, und die Begeisterung für ihn ging so weit, daß für diesen verwundeten deutschen Ritter auch in Petersburg ordentliche Sammlungen gemacht wurden. Da man ihn nicht auffinden konnte (denn er war unterdessen aus Rußland durch Polen halbgeheilt weiter gefahren), so waren die gesammelten Summen dem Minister vom Stein übergeben, als der den Kriegsmann wohl irgendwo treffen würde. Kaum waren wir in Königsberg, so erschien einen guten Abend mein Barnekow vor dem Minister am Theetische. Er kam auf Krücken hereingehumpelt, denn auf der Fahrt durch Polen hatte er durch Umwerfen mit dem Schlitten seine verwundete Hüfte wieder verletzt. Stein schalt ihn und hieß ihn nach Hause gehen und still liegen, damit er für den Frühlingsfeldzug wieder recht rüstig sein könne; mir aber trug er eine Art Aufsicht über ihn auf, bis er wieder fertig wäre. Für Arzt und Wundarzt war leicht gesorgt; schwerer war der wilde Vogel in Ruhe zu halten. Der Minister gab ihm bei der Abreise einen Teil der Sammlung; den Rest in Wechseln sollte ich behalten, bis der Lahme besser wäre. So vergingen einige Wochen, und er ward wieder ganz fertig und erhielt von mir die letzten Wechsel. Diese lagen den nächsten Morgen in den schönsten Thalern und Friedrichsd'or auf seinem Tische – es mochten wohl 3000 Thaler sein. Ich warnte, sie nicht zu geschwind flüchtig zu machen; er lächelte und antwortete: »Freundchen, ein paar prächtige [186] Pferde und neue Ausrüstung, das übrige wollen wir der Freude weihen.« Ein paar Tage drauf höre ich, Barnekow habe in seinem Hause mit großer Herrlichkeit einen Ball gegeben – er war in Königsberg bekannt – über hundert Menschen eingeladen, habe ihm wenigstens hundert Friedrichsd'or gekostet. Nicht vierzehn Tage vergingen, und ich erhielt eines Morgens einen kläglichen Brief von ihm, worin er bat, ihm hundert Friedrichs'dor vorzustrecken; er müsse sie haben, seine Ehre sei verpfändet. Ich konnte seine Ehre nicht aus dem Pfandstall lösen. Er war indessen bald weggeflogen, und ich hörte seinen Namen nicht wieder bis zur Nachricht von dem Erfolg des Czernichesschen Zuges gegen Kassel. Da hatte Barnekow eine Reihe Wagen des flüchtigen Königs Hieronymus abgeschnitten und auf seinen Anteil über 30000 Thaler Beute gemacht und mit einem Teil desselben, wie er denn adliger Gesinnung war, eigene und Freundesschuld bezahlt. Das übrige war bald wieder weiter geflogen. Barnekow ist vor nicht lange als preußischer Generalmajor gestorben. Er kam mir anfangs vor wie eine Blüchersnatur, eine der schönsten Gestalten, die meine Augen gesehen; aber er war doch nur der Ritter mit der Stange der nordischen Märchen. Wie jenen hätte man ihn an einer eisernen Stange festhalten und nur auf Schlachtfeldern loslassen müssen. Schade um solche königliche Natur.

Herr von Kotzebue kum bald nach mir nach Königsberg, ging mit dem General von Wittgenstein nach Deutschland, und tageblätterte wie ich und andre. Ich mußte ihn oft sehen, er war eine Fliege, die sich auf alles setzte, kam auch viel zu Nicolovius dem Buchhändler, der sein Kunde gewesen, und deklamierte und las vor. Er machte, wie man ihn sah, einen sehr gemeinen Eindruck – sein großes Talent in allen Ehren – eine der widerlichsten Erscheinungen, die mir in meinem Leben vorgekommen sind. Ich hatte mir ihn ganz anders gedacht, wie es einem mit den meisten Menschen geht, die man sich nach Erzählungen oder Büchern [187] vormalt, wenigstens als einen feingeschliffenen, etwas höfischen und höfelnden Mann, zumal da er so lange in dem zierlichen und adligen Lievland gelebt hatte. Aber den Vornehmen und Zierlichen spielte er nicht. Er trat auf mit der Haltung eines Altflickers und mit einer unverschämten Offenheit, die nichts von der Offenheit der Natur hatte, ja nicht einmal von jener, welche schlaue und gewandte Weltleute gewinnen; und in seinen freundlichen Augen war zugleich etwas schleichend Laurendes und unverschämt Faunisches. Er hat mich später in Schriften angegriffen; glücklich, daß ich mit diesem Schmutzfinken die Fehde nicht aufgenommen habe! Das hätte mir, als er ein so schrecklich blutiges Ende nahm, Gott weiß wie, in die Schuhe gegossen werden können.

Um die Mitte des Monats März fuhr ich aus Königsberg. Der Winter war vergangen, ich mochte ausrufen, leider vergangen! In einem kleinen Wagen, mit einem Bedienten ganz allein, ohne schwere Ladung, vier Extrapostpferde vor, mußte ich auf fettem preußischen und polnischen Boden doch oft den Schneckengang schleichen; was freilich auch durch häufiges Warten auf Pferde und durch die Abgetriebenheit der Pferde selbst noch gemehrt ward. Auch einen weiten Umweg mußte ich machen, nördlich der Festung Thorn, die eben belagert ward, wovon der Kanonendonner mein Ohr erreichte. Hier lernte ich nun die rechte polnische Wirtschaft kennen und in diesen Monaten einen Schmutz in den Wohnungen und auf den Gassen der Städte und Dörfer, den ich vergebens zu schildern versuchen würde. Mir fiel dabei die Anekdote ein, die man in Kalisch und Breslau von dem Marschall Davoust erzählte. Dieser ritt im Spätherbst 1806 in Person vor das Stadthaus, wohin er die polnischen Magnaten beschieden hatte, und da er beim Absteigen vom Pferde tief im Kot versank, sprach er zu einem neben ihm stehenden ehemaligen preußischen deutschen Beamten, indem er den Dreck von seinen Stiefeln schüttelte: Voilà ce que cette canaille appelle sa patrie. In der That muß man [188] sehen und fühlen, sonst glaubt man die wüste Unordnung und den schweinischen Schmutz der Polen nicht; man begreift nicht, wie ein Volk von so vieler Lebendigkeit und von einer so zauberhaften Vorliebe für alles Prächtige und Schimmernde, als die Polen haben, so weit herunterkommen konnte. Denn auch hier leider malt sich ab, wie es in ihrer Regierung und Verwaltung seit Jahrhunderten ausgesehen hat; auch hierin sieht und begreift man des edlen Kosciusko Wort finis Poloniae! Hiemit ist alles angethan und befleckt, so nicht nur die Wohnungen der Lebendigen, sondern auch die Wohnungen der Toten und die Wohnung Gottes, wenigstens was die Sterblichen so nennen. Wie viele Kirchhöfe habe ich gesehen ohne eine Spur einer Mauer oder Umfriedung, die Kühe und Schweine nach Gefallen auf den Gräbern herumspazierend! In die Kirchen streuen sie in der schlimmen Jahreszeit Stroh auf Stroh, daß es sich wie in schlechtgehaltenen Viehställen gegen den Sommer oft Ellen hoch drinnen erhebt und ordentlich ausgemistet werden muß. Ich will durch diesen Jammer wahrlich des größeren politischen Jammers nicht spotten. Schon das ist genug gesagt, daß ich in schlimmer Jahreszeit, wo es fast immer regnete, doch fast immer froh war, von den Stühlen und Tischen der Menschen wieder auf meinen nassen und kalten Sitz hinauszukommen. Denn ich fuhr nur in einem leichten sogenannten Holsteinerchen, den ich mir in Königsberg gekauft hatte, und der allen Winden und Wolkenergüssen mit meiner Herrlichkeit freies Spiel ließ.

Unterdessen war Kutusow, welcher über Litthauens Sümpfe und Wüsten und über Polens Schnee auch nicht hatte hinhüpfen können, mit seinen Russen auch über die Weichsel gegangen und der Kaiser Alexander nach Breslau, wo er Bündnis und Freundschaft mit dem König von Preußen von neuem befestigte. Der König hatte seine Verkündigung an sein Volk und die Kriegserklärung an Frankreich erlassen und den Orden des Eisernen Kreuzes als das hohe [189] Feldzeichen dieses Kriegs errichtet. Ich kam in der letzten Märzwoche in Kalisch an, wo der Kaiser und der Minister vom Stein waren und den König von Preußen erwarteten. Bei meiner Fahrt von da nach Breslau traf mein Wägelchen auf dem Wege plötzlich auf den Wagen Sr. preußischen Majestät, die den Kaiser in Kalisch besuchen fuhr. Ich richtete mich auf, entblößte mein Haupt, schrie aber meinem polnischen Schwager vergebens zu, auszuweichen. Um ein Haar hätte der Königliche Wagen mich armen Plebejer gestreift; wie würde ich mit meinem Geschirr auseinandergeflogen sein, wenn er uns gefaßt hätte!

Ich weilte nur ein paar Tage in Breslau. Bei meiner Fahrt von da nach Dresden begegnete mir ein paar Stunden von Liegnitz einer jener Vorfälle, die, wiewohl nur bare Spiele des Zufalls, doch eines tiefen Eindrucks auf uns nicht verfehlen. Ich war bei meiner Nachtfahrt im halben Schlafe – siehe! da schmetterten mich Trompeten plötzlich aus meinem dämmernden Traumzustande heraus. Ich rieb mir die Augen – es war die Morgenröte, und ich kam eben aus einem großen Tannenwald aufs Blachfeld hinausgefahren – und siehe! auf einem Querwege zogen ein paar russische Regimenter Husaren und Kosaken mit fliegenden Fahnen an mir vorüber, so daß ich wohl an zehn Minuten still halten und mir die Leute und die Gegend betrachten mußte. Und als meine Sinne und Gedanken sich mit der aufgehenden Sonne aufklärten, ward mir eine dunkle Erinnerung, gleichsam eine Wiedererkennung hell in meiner Seele – hier an derselben Stelle, hier vor dem Tannenwalde, und in eben solcher morgendlichen Zeit hatte ich vor einem Jahre sächsische und polnische Reiter mit ganz anderen Gefühlen vorüberziehen sehen. Was haben bei solchen wunderlichen Spielen die Gedanken für ein weites freies Spiel! O hätte nun mein Chazot bei mir gesessen! Wie würde er dieses Morgenrot und das aufgebrochene Morgenrot der Freiheit begrüßt haben!

[190] Im Anfange Aprils war ich in Dresden und ließ mich bei dem würdigen Oberappellationsrat Körner einquartieren. Bald kam auch der Minister vom Stein. Er war jetzt durch gemeinsamen Beschluß der hohen Herrscher zum Vorsitzer eines Kaiserlich Russischen und Königlich Preußischen Verwaltungsrats für die Deutschen Angelegenheiten und Lande ernannt. Die würdigsten Männer, Herr Präsident Schön aus Preußen und Herr Geheimer Staatsrat Niebuhr aus Berlin wurden von Preußen ihm beigesellt. Niebuhr ist gegen den Herbst ausgetreten und hat den Staatsrat von Rhediger aus Schlesien zum Nachfolger gehabt.

Hier begann nun ein ganz neuer Abschnitt unsers Lebens, ein neues Gedränge, ein Gedränge der deutschen Dinge und Menschen, und dies wogte nun allerdings oft mit Sturmflut auf Herrn vom Stein ein. Er begriff, daß der Stein, den er von Deutschlands Nacken abwälzen wollte, nur durch die gemeinsame Anstrengung des ganzen Volks abgewälzt werden könne, daß alles, was Alttestamentlich an die Wand p ... und Spieß und Stange heben könne, angestrengt werden müsse. Schon von Petersburg aus hatte er darüber vielfach nach England und Deutschland hin und her gebriefwechselt: denn allerdings hatte man nach Deutschland, wenngleich langsame, Gelegenheiten, durch Eilboten über Jassy und längs der Donau nach Wien, auch durch einzelne Schiffer, die ihre Briefe und Felleisen irgendwo an der Ostseeküste Vertrauten überlieferten. Ich erinnere mich mehrerer Briefe, die er mit dem hannöverschen Minister Grafen von Münster in London gewechselt hat, und die ich abschreiben mußte. Münster äußerte sich sehr kalt und bedenklich in Hinsicht der Volksbewaffnung und sah, wie mir däuchte, die Dinge allein aus dem aristokratischen Standpunkte von oben her an, und erblickte in einer solchen Erhebung und Bewaffnung für die Folgezeit mancherlei Gefahren; Stein antwortete ihm aber, er wolle lieber das Stück trockne Brot mit dem ärmsten deutschen Bauren in der Hütte essen, als in der glänzendsten [191] Herrschaft von Fremden abhangen. Stein vertraute der Treue und dem Willen des deutschen Volks, und er hat sich darin nicht geirrt; aber wie weit war er von allen demagogischen und anarchischen Utopien, welche manche Querköpfe ihm auch wohl zugetraut haben! Aber Napoleon gegenüber konnte er auf Spanien und Tyrol hinweisen, und er wies darauf hin. Nun kam in Dresden das Gedränge beide der Wohlmeinenden und der Verrückten, die oft auch recht wohlmeinend waren, nur überall keine Meinung haben durften. Wenn es langsam ging mit dem Vormarsch der Heere, mit der Bewaffnung, und jener blitzschnellen Wirksamkeit, welche man von den vereinigten Preußen und Russen erwartet hatte, wenn Stein selbst oft ärgerlich war über Versäumungen und Hemmungen, die weder von den Monarchen noch von ihm verschuldet waren, so pflegte er die Fragenden und Suchenden oft kurz und ungeduldig mit den Worten abzuweisen: »Meine Herren, was wollen Sie von mir? Ich bin kein Herrgott, ja ich bin nicht einmal Kaiser von Rußland, noch König von Preußen.« Doch mußte ich bei seiner Heftigkeit oft bewundern, wie er selbst gegen überlaufende und quälende Narren, wenn sie es nur gut und treu meinten, geduldig und zuweilen sogar langmütig sein konnte. Wie er nun vollends mit brieflichen Anfragen, Bitten, Vorschlägen und Entwürfen der vielen Vaterlandsretter bedrängt worden ist, kann jeder sich vorstellen, der jene aufgeregte Zeit bedenkt. Was kurz gefaßt war, las er gewöhnlich, merkte sich, wenn etwas zu merken war, und zerriß oder verbrannte dann sogleich das Papier; denn mit geschriebenen Aktenballen schleppte er sich nicht gern. Was lang und mit langen Einleitungen und Herleitungen versehen war, dem traute er nicht, und seine praktische Kürze hielt es – was es meistens auch war – für unbrauchbares theoretisches Gewäsch. Das gab er mir dann zuweilen zur Beantwortung, gewöhnlich aber nur zur Durchlesung. Es liefen da die wunderlichsten Dinge ein. So schickte unter andern ein [192] Professor Hauff oder Hauch, der früher in Marburg gelehrt hatte, später, wenn ich mich richtig erinnerte, als Professor der Mathematik nach Gent berufen ist, einen Plan ein zur leichten Zerstörung und Überwindung des französischen Heers, einen ähnlichen Plan, wie der, den man zu Rostopschins Zeit in Moskau ausgeheckt haben soll. Es war in diesem Entwurf von nichts Geringerem die Rede, als von einem magnetischen Eisenkoloß von eigentümlichem Bau, der vor der Fronte des deutschen Heeres geführt werden und alle feindlichen Kanonen-und Flintenkugeln mit unwiderstehlichem Reiz zu sich locken solle, so daß der deutsche Soldat unverletzt und unverletzlich unter diesem Schirm dem Feinde desto mutiger und kräftiger auf den Leib rücken könne. Ich hatte mir von solchen Schnurrigkeiten eine kleine Sammlung angelegt, die auf dem Meere mit einem Teil meiner Bücher verfault ist.

Da die verbündeten Heere nun über die Elbe weiter in Thüringen vordrangen, und die Franzosen von der andern Seite heranzogen, so wimmelte Dresden außer den erwähnten Fremden, die dort Geschäfte hatten, auch von Flüchtlingen, die das Sichere suchten, einige Zeit dort blieben und dann über die Berge nach Böhmen zogen. Auch Goethe kam und besuchte mehrmals das ihm befreundete Körnersche Haus. Ich hatte ihn in zwanzig Jahren nicht gesehen; er erschien immer noch in seiner stattlichen Schöne, aber der große Mann machte keinen erfreulichen Eindruck. Ihm war's beklommen, und er hatte weder Hoffnung noch Freude an den neuen Dingen. Der junge Körner war da, freiwilliger Jäger bei den Lützowern; der Vater sprach sich begeistert und hoffnungsreich aus, da erwiderte Goethe ihm gleichsam erzürnt: »Schüttelt nur an Euren Ketten, der Mann ist Euch zu groß, Ihr werdet sie nicht zerbrechen.«

Ich war meinen Dresdener Monat recht fleißig, arbeitete meinen Soldatenkatechismus A62 aus und überarbeitete einen dritten Teil des Geistes der Zeit, wozu ich schon in Königsberg [193] gesammelt hatte. Ich erlaube mir hier daraus eine Stelle zu wiederholen, zum Zeichen, daß ich das Ziel dieses heiligen Krieges klar und richtig ins Auge gefaßt habe, ein Ziel, das in deutschen Herzen ewig unverrückt stehen sollte 17.

»Das nächste große Ziel dieses mit solcher Würde und Hoheit der Gesinnung begonnenen Krieges ist die Befreiung und Wiederherstellung Italiens und Deutschlands und die Beschränkung des französischen Übermuts an dem Rheinstrom. Dort beginnt die Arbeit des Kriegs, vielleicht eine lange und schwere Arbeit, die aber gethan werden muß, wenn man nicht bei Halbem stehen bleiben und nach einigen Jahren die Franzosen wieder da sehen will, wo sie eben gewesen sind. Den Rhein darf das unruhige und eroberungslustige Volk nimmer als Grenze behalten; denn welche Klauseln und papierne Eidschwüre und Verschreibungen man auch an einen Friedensschluß hängen, und von wie vielen Bürgen und Zeugen man ihn auch mit unterschreiben lassen mag, die natürliche Gewalt wird immer stärker sein als die künstliche, wenn die Grundlage des Friedens nicht eine sichere ist. Der Rhein mit seinem Knie in fremder Hand drückt grade auf den Nacken Deutschlands und wird nicht weniger drücken, wenn man auch gelobt und bedingt, es solle mit weicher Wolle und Seide umwulstet werden. Wenn Frankreich den Rhein und seine festen Stellungen besitzt, so ist das Niederland und die Schweiz und also auch der größte Teil von Oberitalien gradezu von ihm abhängig, so liegt ihm das übrige Deutschland bis an die Elbe und den Böhmerwald offen, und es mag ungestraft hineinbrechen und streifen und ziehen, so weit es will; zu ihm aber darf ungestraft kein Heer bis an den Rhein, geschweige denn über den Rhein kommen. Will man also den Franzosen das Übergewicht in der That entwinden und nicht bloß zum Schein, so müssen Deutschlands alte Grenzen wiedergewonnen [194] werden. Dann werden die beiden Völker, die Deutschen und die Franzosen, in gleichem Verhältnis einander gegenüberstehen, und gegenseitige Furcht wird die Marken besser bewachen und das Gleichgewicht und die Ruhe Europas besser bewahren, als alle Bullen und Diplome, deren ewige Versicherungen und Gelobungen immer nur durch die Degenspitze recht getragen werden. Die Deutschen wollen nur ihr Gebührliches wieder haben, die Menschen ihres Landes und ihrer Zunge, die ihnen unter Ludwig dem Vierzehnten und Fünfzehnten und in der letzten französischen Raubzeit entwendet worden sind. Diese uralte germanische Grenze steht an dem Vogesus, dem Jura und den Ardennen, durch Art und Sprache des Volks unverkennlich und unverrücklich fest, und nichts Französisches, welches sie nur verderben würde, soll von den Deutschen je begehrt noch genommen werden.«

Ein großes Glück erlebten wir hier in Dresden, für welches alle, welche die Verhältnisse kannten, dem Himmel dankten; so daß viele dabei riefen: der alte deutsche Gott lebt noch. Den 23. April starb zu Bunzlau in Schlesien der alte russische Feldmarschall Kutusow am Nervenfieber. Bei dieser Nachricht rief auch ich: hier ist der Finger Gottes. Dieser Greis war eine hartnäckige zauderische russische Natur. Er hatte die Gewalt und das Ansehen im Heer gewonnen, daß selbst Alexander ihn nicht gut davon hätte wegrücken können. Kaum war es ihm und Stein gelungen, ihn über die Weichsel vorwärts zu bringen. Er hatte durchaus jenseits der Weichsel bis zum Sommer stehen bleiben und dann erst mit verjüngten Kräften vorrücken wollen. Aber was wäre dann aus Deutschland geworden? Er war nun freilich vorwärts marschiert; aber wieder kann man fragen: was wäre aus Deutschland, was aus Preußen geworden, wenn Kutusow gelebt hätte? Die Franzosen würden alles Land bis an die Weichsel, sie würden mit der grausamsten Berechnung Preußens letzte Hilfsmittel vertilgt, seine letzten Sehnen zerschnitten, und eine preußische Bewaffnung fast [195] unmöglich gemacht haben. Und was hätten Kutusow und die Russen allein ohne Preußen wohl ausgerichtet, hier, wo auch noch alle Festungen von französischen Besatzungen gehalten wurden? Ein anderer Übelstand wäre gewesen: Kutusow mochte die Deutschen nicht, er war im höchsten Grade rauh und unliebenswürdig, und hätte jede hohe deutsche Aufwallung und Begeisterung wahrscheinlich bei ihrer Geburt mit plumpen moskcvitischen Füßen zertreten. Einen Ähnlichen oder gar einen Gleichen würde er neben sich nimmer geduldet haben; wie wäre neben ihm Blücher heraus oder herausgekommen? Nach seinem Tode aber hat sich alles wie von selbst gemacht. Blücher der Alte ist weniger gehemmt durch seine eigne Kraft emporgedrungen, und die übrigen russischen Feldherren, Wittgenstein, Barclay de Tolly, Langeron u.s.w. haben sich neben und selbst unter dem Liebenswürdigen und Schönen, der alles bezaubern und hinreißen konnte, nicht in Schatten gestellt gefühlt. Diesen Finger Gottes sahen wir jetzt; ein anderer Finger Gottes reckte sich für das Vaterland in der Schlacht bei Dresden aus den Wolken, wo eine der ersten losgebrannten französischen Kanonenkugeln dem wackern Moreau A63 beide Beine und mit ihnen das Leben zerschmetterte. Wahrlich hätte dieser Franzose gelebt, wie würde er im Großrat des Kaisers Alexander sich in unsre Angelegenheiten und Siege hineingeschoben und zwischen uns und die Franzosen vorgeschoben, und uns nach Vermögen um Ruhm und Siegespreis betrogen haben! Wir haben solchen Finger Gottes in jenen Tagen, wo man glauben und hoffen lernte, ausgereckt zu sehen gemeint. Andere haben uns darüber ausgelacht und lachen uns noch aus.

Nach der Schlacht bei Lützen vom 2. Mai wichen die Verbündeten über die Elbe zurück, wo sie auch nicht einen einzigen festen Platz als Anlehnungspunkt besaßen. Ich sah in Dresden den edlen Scharnhorst, leicht am Knie verwundet. Er selbst sah es nur für eine Streifung an; aber [196] diese leichte Wunde sollte sein Tod werden. Er starb den 28. Junius in Prag. Eine Reise nach Wien und bei der schwebenden Ungewißheit der Dinge hin- und herfliegende Sorge um die endliche Lösung derselben bei diesem starken und doch reizbarsten Gemüte machten das kleine Übel zu einem gefährlichen. Doch auch der Tod ist Gottes.

Ich fuhr, als alles Dresden verließ, mit kleinen Aufträgen meines Herrn nach Berlin, und besuchte von dort aus meine Gefreundten und meinen kleinen Sohn in Pommern und Rügen. Dann wieder nach Berlin zurück, wo ich bis gegen das Ende des Junius blieb. Es wurden inzwischen mit Napoleon Schlachten geschlagen, zweifelhafte, aber tapfere; doch selbst die Nachrichten von Verlusten schlugen nicht nieder. Die Menschen waren auf das Höchste und Letzte gerüstet: lieber das tiefste Leid und Verderben, lieber die letzten ehrlichen Todeswunden als länger die Schande der Knechtschaft – das war das allgemeine Gefühl und die einstimmige Stimme in der Hauptstadt. Not genug und Bedrängnis, aber Freude und Hoffnung in der Not und eine Gemeinsamkeit der treuen Herzen, die nur in solchen Zeiten zusammen auflodern kann. Ich lebte mit lieben Freunden, mit edlen und hohen Menschen, die meinen Willen für die That nahmen. Savigny und Eichhorn saßen im Landwehrausschuß; Süvern übte seine Compagnie, bald sein Regiment Landsturm auf dem Wilhelmsplatz; Fichte hatte für sich und seinen kaum waffenfähigen Sohn, der kaum aus dem Knabenalter heraustrat, Lanzen und Schwerter vor seiner Thür angelehnt stehen. Man hatte ihn der Ehre wegen zum Offizier beim Landsturm machen wollen, er hatte es verweigert mit den Worten: »Hier tauge ich nur zum Gemeinen.« Diesem Mann war es mit allem immer voller Ernst; er war schlecht auf den Füßen, ich glaube, etwas an Gicht leidend; da hatte er denn gesprochen: »Ich weiß, ich werde keine großen Thaten thun, aber ich werde dem Volke nimmer den Weg zur Flucht weisen; nur über meine Leiche sollen [197] die Feinde in die Stadt eindringen.« Er war erstaunlich frisch, lebendig und liebenswürdig in dieser Zeit, und es schien gleichsam, als fände sein frommer Sinn in der Liebe zum Volk und Vaterlande mehr und mehr die Brücke, worüber er aus seinem idealischen Ich zum Nichtich hinübergelangen könnte. Ich habe ihn damals viel gesehen, in seinem Hause und bei Freunden. Er und Reil waren gewissermaßen die tragischesten Personen der Hauptstadt durch die ungeheure Feurigkeit, womit sie die Zeit auffaßten, und durch den brennenden Haß, den der letzte fast noch mehr als Fichte gegen die Welschen trug. Reil A64, der edle Ostfriese, war ein Mann mächtiger und gewaltiger Leidenschaften, die sich in seinem schönsten Leibe und seinen göttlichen Augen in herrlichsten Farben und Flammen darstellten und brachen. Ich war dort gleichsam Hausfreund geworden durch einen geliebten Freund, Ernst von Scheele, Bruder des gegenwärtigen hannöverschen Ministers, und ich habe manche Abende in seiner liebenswürdigen Familie versessen, wenn er über Menschenleben und Naturleben bei dem leidenschaftlichen Blasen seiner Tabakspfeife seine Phantasieen ausströmte. Ich erinnere mich wie heute – ich traf ihn unter den Linden spazierend, als die grimmige Botschaft unter vielen zugleich Zusammenlaufenden erschallte, es ist Waffenstillstand (war den 4. Junius abgeschlossen). Er stand bei der Nachricht wie in den Boden hineingedonnert, erblaßte einem Ohnmächtigen ähnlich, dann drückte er mir und andern Freunden die Hand, und die hellen Thränen strömten ihm über die Wangen.

Ja das war eine grimme Botschaft und machte viele unsicher und zweifelhaft. Bald kam der Jammer von Hamburg A65, das so leicht hätte gerettet werden können. Dann der schändliche Überfall mitten im Waffenstillstand der Lützower und ihre Niedersäbelung, wo die Franzosen, die sie die brigands noirs schalten, sich die Lust machten, die Württemberger in böser Missethat auf ihre Brüder zu hetzen A66. Ich [198] fuhr im Anfang des Monats Julius nach Reichenbach in Schlesien, wo Herr vom Stein lebte, und in dessen Umgegend die hohen Herrscher saßen. Ich wohnte dort anfangs in einem schlechten Stübchen bei einem Nachtwächter auf der Mauer, dann bei einem edlen Herrn, dem Grafen Karl von Geßler, vormaligem preußischen Gesandten in Dresden und jetzt ernanntem Feldhauptmann des schlesischen Landsturms in jenen Gauen. Ich ließ hier meinen Soldatenkatechismus drucken. Ich weiß nicht, ob er irgend ein Herz zum Kampfe begeistert hat – dazu hatten die Franzosen mit roter Tinte den rechten Katechismus geschrieben – aber daß er manchem verwundeten Krieger in Lazaretten ein Trost gewesen ist, das weiß ich, und das ist auch mir ein Trost gewesen.

Hier zu Reichenbach stand nun während des Waffenstillstands ein Kongreß, hier und zu Schloß Gitschin in Böhmen: ein schauerlicher Kongreß, der die verworrenen europäischen Dinge zu Ordnung und Frieden vermitteln sollte. Napoleon saß als dritte Größe in Dresden. Ich sage, ein schauerlicher Kongreß, denn viele fürchteten, Napoleon, der den Willen und die List der Einheit – Einheit ein gewaltiges Ding bei Unterhandlungen – gegen Mehrere hatte, werde die Zeit und das Glück so hinschleppen und durch Überlistung gewinnen, was nicht mehr durch Waffen erzwungen werden konnte. Wir waren alle viel in Sorgen und Mißstimmungen und oft in bitterm Ärger, wenn wir in den Zeitungen von angenehmen Hoffnungen eines baldigen Friedens lasen. Mein alter Herr war auch häufig nicht allein mißgestimmt, sondern verärgert, auch wohl durch Podagra gestachelt, und das fiel dann auf unsereinen und auf andere Kleine zurück. Die einzige große Freude in dieser schweren Zeit war die Nachricht von dem Siege bei Vittoria, wo Wellington das französische Heer von seinem ganzen Geschütz und Zeuge ausgezogen und über die Pyrenäen gejagt hatte. Wir siegten mit bei Vittoria und hofften wieder [199] auch bei uns zu siegen. Ich müßte eigentlich bei dem Namen Wellington immer die Hände falten; wie viele fröhlichste Tage und Nächte hat er mir erfochten, und wie hat er über die schwersten Jahre 1810 und 1841 mir und so vielen hinübergeholfen!

Zwar gab es hier der bedeutenden Männer viele, die zu mir auch oft sehr freundlich waren. Doch sie litten an demselben Übel, woran Stein krankte mehr oder weniger; z.B. von Niebuhr hatte man selten Freude, zumal da seine Frau viel kränkelte, und er einmal mit Stein sehr gespannt war, was Herr von Schön durch sicherere Stimmung wieder zurechtstellte. Andere merkwürdige Personen oder ausgezeichnete Männer: der Korse Pozzo di Borgo, Stadion, die sächsischen Flüchtlinge Thielmann, Carlowitz und Aster, die berühmten preußischen Feldherren, Blücher, Gneisenau, Grolmann, gingen und kamen. Es war ein Feldlager, wildes, drängendes, oft sehr unbehagliches Leben. Ich fand indessen eine Schar edler Jünglinge, mit welchen ich in der Stadt, mehr noch in den umliegenden Orten, z.B. in dem seinen Herrnhuter Flecken Gnadenfrei, öfter zusammentraf: da waren Max von Schenkendorf, den ich hier kennen lernte; Theodor Körner, der mit einer schlimmen Wunde den Säbeln der Württemberger entronnen war und hier bei dem Grafen Geßler, seinem Paten, einige Wochen wohnte; Karl Sack, mein jetziger Bonner Freund; Graf Karl von der Gröben; zuweilen auch der wilde genialische von der Marwitz. Mein einziger rechter Freudenbringer war indessen der Graf Geßler, ein alter Jugendfreund Steins, welcher über ihn eine große Gewalt hatte und ihn, selbst wenn sie sich anfangs kabbelten, doch zuletzt meistens in heitre Laune setzte; denn dieser edle Mann hatte über ein sehr stürmisches Herz und einen kränklichen Leib, der ihn schrecklich mit Gicht plagte, eine großartige Herrschaft gewonnen. Er verstand die schwerste aller Künste, nach außen hin heiter zu spielen, wenn auch in ihm Gewitterwolken spielten. Das war aber das Anmutigste, [200] daß seine Art Witz dem Steinschen auf eigentümliche Weise zum Wetzstein diente und Funken aus ihm hervorlockte. Er war in der Nähe begütert, und die sächsischen Generale und andere wohnten auf seinem Gute Neuendorf eine Stunde von Reichenbach, wohin wir oft spazieren fuhren. Er erlöste mich bald aus meinem Nachtwächterneste, wo ich wie auf einer Hühnerstiege saß. Weil wir alle und die meisten nur zu viele Muße hatten, woraus bei dem schwebenden zweifelhaften Stande der Dinge eben doppelter Überdruß und Verstimmung entstand, so zog er mich heran, und wir lasen Griechisch und Italienisch miteinander. Denn er war ein sehr gebildeter kenntnisreicher Mann, der in der Jugend England und Italien mehrmals gesehen und sich eine schöne Bibliothek gesammelt hatte. Ein kleiner Mann, mit der lebhaftesten Bewegung, mit einem breiten von Blatternarben zerrissenen Gesicht und feuerblitzenden Augen, leider mit durch Gicht oft zuckenden Zügen. Schalkheit und Witz funkelten aus ihm, obgleich er beim ersten Anblick mehr den Eindruck eines häßlichen Mannes machte. Von Natur ungestüm und geschwind hatte er durch beharrliche Übung die größte Herrschaft über sich gewonnen. Im Gespräch schoß er Pfeil auf Pfeil ab, und wenn er ja einmal hart getroffen hatte, machte seine große Gutmütigkeit es bald wieder gut. Denn eben diese Gutmütigkeit und eine große Weichheit und Zärtlichkeit des Gemüts zu bedecken oder vielmehr zu verhüllen, gebärdete er sich oft wie ein Eisenfresser, besonders wenn er Gutes thun und Wohlthaten erteilen wollte; worin er im Stillen unermüdlich war. Er war der Enkel eines großen preußischen Reitergenerals, der im zweiten schlesischen Kriege in der Schlacht bei Jauer oder dem schlesischen Hohenfriedberg durch eine glänzende Waffenthat die große Entscheidung brachte, indem er mit vier Reiterregimentern das österreichische Centrum durchbrach und die ungrischen und böhmischen Grenadierregimenter wie Haberstroh zusammenritt. Der große König machte ihm in dem eroberten Lande [201] eine der bedeutendsten Schenkungen und erhob ihn in den Grafenstand. Als Zeichen jener glorreichen Waffenthat führen seine Enkel 25 Fahnen und 66 Standarten im Wappen. Nach der Überlieferung waren die Geßler in den Kreuzzügen gegen die Heiden aus Schwaben nach Preußen gekommen und gehören wahrscheinlich dem Stamm des wilden Geßlers der schweizerischen Tellsabel an, welche ja nur die Übersetzung der persischen Kambysessabel ist. Unser Graf Karl war ein Feldhauptmann des Landsturms und hat als solcher gottlob nicht Gelegenheit bekommen, Thaten zu thun. Er war aber mit ganz Schlesien nebst dem würdigen Oberpräsidenten Merkel und vielen andern Patrioten eifrigst thätig, durch Rat und That, auch durch Silber und Gold die Landwehr errichten und bewaffnen zu helfen. Diese war eine geschwinde und schöne Arbeit Gneisenaus: 60000 Mann Landwehr waren in einigen Monaten leidlich fertig, wie Soldaten in zwei Monaten fertig werden können. Sie zogen zum Teil fast sanskulottisch ins Feld, manche nur mit linnenen Beuteln statt der Patrontaschen auf dem Rücken; aber es war der rechte Einrichter und Beleber da und der rechte Mut. Sie haben's an der Katzbach und bei Wartenburg wohl bewährt, und das Schlesische Heer hat sich einen grünsten Kranz und Namen gewonnen; so daß von den Preußen nicht bloß die Pommern und Brandenburger genannt werden sollen. Hier war also Graf Geßler auch eifrig thätig; aber von seinem Landsturm mochte er nichts hören, noch weniger von den für den Landsturm erlassenen Gesetzen, welche wohl in Litthauen und Rußland hin und wieder, aber nimmer in einem so dichtbevölkerten Lande als Deutschland Anwendung finden konnten, und welche ein verkehrter Hyperpatriot (man hat den nachherigen Königlich Preußischen Generalkonsul Bartholdy in Rom als Verfasser genannt) im Traum gemacht zu haben schien. Er legte auch diese Oberfeldherrnstelle sobald als möglich nieder. Noch während meiner Anwesenheit in Reichenbach hatte er sein sechzigstes [202] Jahr vollendet und ließ sich nun sogleich davon entbinden. »Eine schöne Geschichte,« sagte er eines Tages zu mir, »wenn ich mit meinen Baumwollenwebergesellen auf den Plan müßte!« (es sind aber in Reichenbach und der Umgegend viele Zeugwebereien). »Das würde ein Laufen geben! und ich müßte dann ja mit laufen! Nein, so weit sind wir noch nicht herunter; eine solche Maulschelle soll mein Wappen nicht bekommen.«

Als der Waffenstillstand zu allgemeinem Jubel den 10. August aufgekündigt ward und den 17. August das Schlagen wieder begonnen, war Herr vom Stein mit dem großen Hauptquartier durch Böhmen gezogen und hatte mich in Reichenbach zurückgelassen. Da erst lernte ich meinen Geßler recht kennen und erkennen. Es zogen nach der Schlacht an der Katzbach 18000 französische Gefangene durch Reichenbach nach Oberschlesien; in Reichenbach waren Lazarette für verwundete Preußen. Da arbeitete und wirkte mein Landsturmsfeldhauptmann auf das treueste und unermüdlichste. Wie oft sind wir auf dem Wurstwagen nach und von seinem Gute gerollt, von wo wir fette Schöpse und Kälber mit zurückbrachten, die alsbald in Braten und Suppe für die Kranken verwandelt werden mußten! Solche Dinge that er ohne allen Schein, ja mit einem Schein, als thue er es nur, weil es sich nicht anders schicke; er that es aber aus vollstem liebenden Herzen.

In diesen schönen Reichenbacher Tagen machte er eine prächtige Geschichte. Einige französische gefangene Generale, unter ihnen General Puthod und viele französische Stabsoffiziere waren in Reichenbach zurückgeblieben. Diese hatten von der für uns unglücklich ausgefallenen Schlacht vor Dresden Wind bekommen und singen an lose Reden zu führen und auf die Türme und Dächer zu klettern, um zu sehen, ob ihre siegreichen Heere nicht heranmarschierten: denn davon hatten sie gemunkelt, daß diese, ihren Napoleon an der Spitze, bald wieder in Schlesien sein würden. Auch waren [203] sie nach der welschen Art, wie sie ist, wenn man ihr nicht den Daumen auf das Auge hält, gegen die deutsche vergessende Gutmütigkeit bald übermütig geworden und hatten in den Häusern schier auf die besten Zimmer als die ihnen behaglichen und gebührenden Quartiere Anspruch gemacht, ja eigenmächtig und wie mit Drohung gegen die Bewohner Reichenbachs angefangen sich hin und wieder umzuquartieren. Da gingen wir, der Graf und ich, einmal zu dem evangelischen Oberpastor Tiede, einem gebornen Pommer aus Pasewalk, in dessen Hause der Minister Stein gewohnt hatte. Dieser Herr Pastor fing nun an vor dem Grafen über den welschen Übermut zu klagen und namentlich über den bei ihm einquartierten General Puthod und wiederholte ungefähr das Obengesagte, und wie der Schluß immer sei, Napoleon würde uns die kurzen Vorteile bald mit doppelten Zinsen zurückzahlen und in wenigen Wochen wieder an der Oder und Weichsel als Sieger gebieten. Bei diesen Worten erzürnte sich mein Graf und schalt ihn: »Schämt Euch! Ihr dicker starker Pommer, solltet doch wissen, wie man unter solchen Umständen mit solchen Kerlen umgehen muß – das Hausrecht! wofür wachsen denn Stöcke und Hanf?« Und er drückte den Hut auf den Kopf und ging eilig mit mir von dannen und grüßte den General Puthod, der uns auf dem Markte begegnete und zuerst den Gruß bot, nicht einmal wieder. Ich ging auf mein Zimmer, sah aber nach einem Viertelstündchen meinen Grafen in voller Kammerherrnuniform, Blau mit Gold, einen Degen an der Seite und Pistolen in den Taschen eilends aus der Thür über den Markt in das Kommandantschastshaus eilen, wo der preußische Kommandant Oberst Graf Lusi seinen Sitz hatte. Er kam bald wieder und wir setzten uns zum Thee. »Ich habe jenem spazzacammino (der Graf war von piemontesischer Art) die Dauben aufgetrieben, und ihn Pulver merken lassen; den könnte ich mit meinen Landstürmern allenfalls noch überwältigen; er scheint mir auch die Franzosen [204] im Leibe zu haben, daß sie wiederkommen könnten – sie sollen alle fort!« Diese letzten Worte sprach er gar kecklich aus – und kaum waren einige Stunden vergangen, so fuhren Wagen und Karren genug auf, und General und Offizier ward drauf gepackt und tiefer nach Oberschlesien hinauf fortgerutscht.

So war mein Graf, so war mein mitten im brennenden Kriege einmal wieder still gewordenes Leben in seiner freundlichen und tapfern Nähe recht vergnüglich. Er ist mir ein treuer Freund geblieben, auch in den spätern Jahren, auch als es mehr um mich zu stürmen anfing, und sein Andenken muß mir heilig sein. Ich habe ihm ohne meine Schuld Mühe gemacht. Dieser seine und helle Mann hatte eine eigentümliche fast hamännische Ader und streute in der Rede und in Briefen nach allen Seiten hin Blitzfunken aus, die nicht immer die Wolken zeigten, woraus sie hervorgeschossen, dunkle oft wunderbar gestaltete oder verhüllte Bilder und Gleichnisse, wie Leben, Lesen und Einfall des Augenblicks sie ihm eben gaben. Zu seinen Worten, die immer in möglichster Kürze zusammengepreßt und nach allen Ecken mit mehreren Gesichtern ausgeschliffen waren, mußte man seine Miene und Gebärde haben, um zu empfinden, was sie bedeuteten. Spiele aber und Anspiele des Witzes zu unterdrücken war einem solchen Manne platt unmöglich. Er ist wegen Briefen, die man bei mir gefunden, mit in meine Demagogie verwickelt worden, d.h. er ist befragt worden, aber auf das leichteste A67.

Nach der Leipziger Schlacht hieß mein Herr mich nach Leipzig zu sich kommen. Da fand ich nun auch meinen Friedrich Albert Eichhorn und den Obersten Rühle von Lilienstern und Reil, der als Oberhaupt über den Jammer der vielen Lazarette gestellt war. Er war dem Anschein nach frisch und gesund, sagte uns aber, er trage das Verderben in sich, habe es in Berlin aus dem Munde eines sterbenden Freundes eingehaucht bekommen und könne es [205] durch kein Mittel austreiben; es liege ihm wie Blei in den Knochen. Ach! nur zu wahr! Er ging nach Halle, die Vermählung seiner liebenswürdigsten ältesten Tochter mit meinem lieben Ernst von Scheele zu feiern – und in wenigen Tagen war er nicht mehr. Das war ein prächtiger Mensch voll überschäumender Kraft und Leidenschaft, der von seinem Feuer Hunderten hätte abgeben können und immer noch genug übrig behalten hätte.

Im November zogen Herrscher und Heere und auch die Verwaltung des Herrn vom Stein in Frankfurt ein. Ich blieb noch in Leipzig. Hier war ein kleines Bild von Wilna, nur mit dem Unterschiede, daß die Stadt nicht verwüstet worden, und daß hier deutsche Menschen lebten. Es lagen 30000 Kranke und Verwundete in Lazaretten, Freunde und Feinde; die Leichenwagen knarrten auch hier täglich durch die Straßen, und viele der Einwohner wurden mit von den Seuchen fortgerafft. Doch ermüdete hier die Menschlichkeit und Wohlthätigkeit nimmer, und die Leipziger vergaßen die Ängsten und Nöten und sich selbst und halfen und retteten, so viel sie konnten. Das war auch Deutschland, und das allerbeste Deutschland.

Ich besorgte hier Kleinigkeiten und ließ kleine Flugschriften ausfliegen. An einer derselben erlebte ich Freude, an dem Schriftchen: Der Rhein Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze A68. Sie gefiel und scheint mir noch heute eine wohl gefaßte Schrift. Natürlich waren die meisten jener kleinen Schriften, im Strudel der Menschen und Geschäfte geboren, wo man auch das rechte Handwerksgerät selten zur Hand haben konnte, wirklich nichts weiter als fliegende und mit den Winden hinfliegende Blätter. Diese trug mir offenes Lob von dem preußischen Staatskanzler Füsten Hardenberg ein und Antrag und Versprechen für den preußischen Staatsdienst.

Gleich nach Weihnachten ging ich auch nach Frankfurt am Main, eine böse Straße im Winter über den Inselberg [206] nach Schmalkalden, und von da über Würzburg und Aschaffenburg längs dem Main. Denn auf der gewöhnlichen Straße über Fulda war damals wegen Mangel an Pferden gar nicht fortzukommen. Auf der Spitze des Thüringer Waldes stürzte ich auf dem spiegelglatten Schnee- und Eiswege mit Pferden und Wagen auf eine fürchterliche Weise kopfüber, kam aber mit einer tüchtigen Beule und einem wackligen Zahn davon. In der alten heiligen Reichs- und Krönungsstadt fand ich die Stimmung und Ansicht der Guten und Gescheiten so, daß ich mit ihnen nicht zu hadern brauchte. Alles war über die geheimen Punkte des bekannten Vertrags von Ried A69 betroffen worden. Die meisten deutschen Menschen wünschten damals größere Stärkung und Mehrung der Hauptmächte Deutschlands und also ad modum Napoleonis Einziehung mehrerer geringerer Herrschaften. Sie begriffen auch nicht, wie man mit den notwendigen Entschädigungen fertig werden, oder viel mehr, woher man sie nehmen wolle, wenn Napoleons Werk in Deutschland unverrückt stehen bleiben sollte, zumal bei den Friedensanerbietungen, die man selbst nach der gewaltigen Hunnenschlacht bei Leipzig dem Niedergelegten noch machte. Er hatte nämlich bei seiner Flucht eines seiner diplomatischen enfants perdus, den Grafen St. Aignan, zurückbleiben und sich fangen lassen, um durch ihn auf den Busch zu klopfen. Schon zitterten wieder viele treue Herzen, der Teufel werde sein Spiel haben, und man werde den Fuchs wieder durchschlüpfen lassen. Aber wie viel man ihm auch erbot, selbst auf die Gefahr, vergeblich gesiegt zu haben, er konnte und wollte sich sein ganzes Unglück selbst noch nicht klar machen, und sein zerknirschter Stolz wollte sich noch nicht beugen. Folgende Erklärung, die einer amtlichen Erklärung von seiten der erhabenen Herrscher ähnlich sah, hatte man damals den 1. December in Frankfurt mit einer Art Verwunderung in deutscher und französischer Sprache gedruckt gelesen:


[207] »Erklärung.«


Die französische Regierung hat kürzlich eine neue Aushebung von 300000 Mann aufzubieten beschlossen. Die Beweggründe dieses Senatuskonsults sind eine Aufforderung an die verbündeten Mächte, noch einmal im Angesicht der Welt die Absichten, welche sie im gegenwärtigen Kriege leiten, die Grundsätze, auf welchen ihr Benehmen beruht, ihre Wünsche und ihre Entschlüsse bekannt zu machen. Nicht gegen Frankreich, sondern gegen jene laut verkündete Übermacht, welche der Kaiser Napoleon zum Unglück Europas und Frankreichs nur allzulange außerhalb der Grenzen seines Reichs ausgeübt hat, führen die verbündeten Mächte Krieg. Der Sieg hat die verbündeten Heere an den Rhein geführt. Der erste Gebrauch, den auch hier die Kaiserlichen und Königlichen Majestäten von dem Siege machten, war Sr. Majestät dem Kaiser der Franzosen den Frieden anzubieten. Die neue und verstärkte Kraft, welche sie durch den Beitritt aller Herrscher und Fürsten Deutschlands erhalten haben, hat keinen Einfluß auf die Bedingungen des Friedens gehabt. Diese sind ebensowohl auf die Unabhängigkeit des französischen Reichs als auf die Unabhängigkeit der übrigen Staaten Europas gegründet. Die Absichten der verbündeten Mächte sind gerecht in ihrem Ziele, großmütig und edelmütig in ihrer Anwendung, beruhigend für alle, ehrenvoll für jeden.Die verbündeten Monarchen wünschen, daß Frankreich groß, stark und glücklich sei, weil die französische Macht groß und stark eine der Hauptgrundlagen des europäischen Staatsgebäudes ist. Sie wünschen, daß Frankreich glücklich sei, daß der französische Handel wieder auflebe, daß Künste und Wissenschaften, diese Wohlthaten des Friedens, wieder aufblühen, weil ein großes Volk nur dann ruhig sein kann, wenn es glücklich ist. Die verbündeten Mächte bestätigen dem französischen Reiche eine Ausdehnung des Gebiets, wie [208] Frankreich sie nimmer unter seinen Königen hatte, weil eine tapfere Nation deswegen nicht herabsinkt, daß sie nun in einem hartnäckigen und blutigen Kampfe, in welchem sie mit gewohnter Tapferkeit gefochten hat, auch Unfälle erlitten. Aber auch die verbündeten Mächte wollen frei, glücklich und ruhig sein. Sie wollen einen Zustand des Friedens, der durch eine weise Verteilung der Macht, durch ein billiges Gleichgewicht ihre Völker künftighin vor den zahllosen Leiden bewahre, welche seit zwanzig Jahren auf Europa lasteten. Die verbündeten Mächte werden die Waffen nicht niederlegen, ohne diesen großen und wohlthätigen Zweck, dieses edle Ziel ihrer Anstrengungen, erreicht zu haben. Sie werden die Waffen nicht niederlegen, bevor der politische Zustand Europas nicht von neuem befestigt sein wird, bevor nicht unwandelbare Grundsätze über eitle Anmaßungen den Sieg davongetragen, bevor nicht endlich heilige Verträge Europa den wahren Frieden versichert haben werden A70.

In dieser merkwürdigen Erklärung war nicht allein zu den Franzosen gesprochen; es war auch, und gar nicht schräge und seitwärts, zu den Deutschen nicht allein gewinkt, sondern auch gesprochen. Sie konnten nach den Verhöhnungen und Schändungen so vieler Jahre, nach den blutig erschöpfenden Anstrengungen und Arbeiten der letzten beiden Jahre sich billig ein wenig verwundern, hier in dieser Erklärung die Gründe nicht etwas besser belegt zu finden,warum die Franzosen zum Glück und Heil Europas denn so groß, mächtig und glücklich sein müßten. Sie hatten von dieser Macht und Größe nun seit drei bösen Jahrhunderten nichts als Trug und Hinterlist und Schmach und Verderben erfahren; sie konnten sich billig wundern, warum bei ihnen, dem Herzenskern des Weltteils, dem Mittelpunkt, der von Gott bestimmt scheint, die Streitenden, welche von Westen und Osten gegeneinander anlaufen wollen, auseinanderzuhalten, nimmer von der Notwendigkeit von Macht, Glück und Größe die Rede sei.

[209] So glücklich war es denn durch Gott wieder geraten, daß Napoleon sich gesträubt hatte, und daß die Heere der Verbündeten endlich über den Rhein gegangen waren. Endlich waren sie einmal in das Land eingerückt, das alle Welsche unter dem Titel das schöne und ruhmvolle Frankreich gleichsam als ein heiliges und unantastbares, als den Sitz aller Kunst, Wissenschaft, Bildung und Schönheit den andern Europäern, den Barbaren möchte man sagen, darzustellen pflegten. Diese Feinen und Feinsten mußten sich nun einmal gefallen lassen, dieses Land nicht allein von den Deutschen, Ungarn und Russen, sondern von Kosaken, Kalmücken und Baschkieren, deren Rosse aus der Wolga und dem Oby getrunken, bestampfen zu lassen. Doch gingen inmitten der Züge und Gefechte die Unterhandlungen mit Napoleon immer noch fort, und wurden den 3. Februar des Jahres 1814 zu Chatillon wieder neu eröffnet. Wir diesseits des Rheins zitterten daher immer noch vor bösen Friedensnachrichten; kleine Wechselfälle der Schlachten erschreckten uns nicht, sondern wir fürchteten die welschen Fuchslisten, und ob es ihnen nicht gelingen würde, das Gewebe, welches Liebe und Eintracht jetzt glücklich und fest um die Monarchen geschlungen zu haben schien, irgendwie und irgendwo zu lockern. Aber gottlob Napoleon ward durch einzelne kleine Erfolge zu neuen Hoffnungen verleitet, und die Herrscher konnten immer klarer erblicken, daß er durch Unterhandlungen nur hinzuhalten und Zeit zu gewinnen suchte. Aber das Beste war, daß die Friedensbedingungen nun immer härter gestellt wurden, und daß nicht bloß mehr sein Stolz, sondern vielleicht auch seine Sicherheit auf das Spiel gesetzt ward, wenn er durch irgend ungewöhnliche Zugeständnisse, z.B. durch Übergebung und Besetzung der Hauptfesten und Schlüssel Frankreichs (Mainz, Antwerpen, Lille, Metz, Straßburg) sich besiegt und entwaffnet bekennen mußte. Zwar schrieen die Franzosen, als das Unglück und die Not, welche ihr Übermut so viele Jahre über die Nachbarn gebracht [210] hatte, nun an ihre Thore klopfte, Frieden! Frieden! aber Napoleon kannte sein Volk. Wie sie ihre Unthaten und Grausamkeiten gegen andere Völker zuletzt alle auf ihn zusammenwarfen, so würden sie ihre Demütigung als seine einzige Verschuldung auf ihn abgelagert haben – und ein Emporkömmling ist dem nicht so gewachsen als ein Fürst aus altem Königsstamm. Er hat selbst später bekannt: Ich hätte anders herrschen und anderes wagen können, wenn ich mein Enkel gewesen wäre.

Also beide Stolz und Eigensucht retteten diesmal Europa. Er hat sich übrigens im Januar dieses Jahres 1814 prächtig ausgesprochen, als im französischen Unterhause, was sie damals le Corps législatif nannten, Lainé und Raynouard endlich gewagt hatten, über das für Frankreich gefährlich fortgesetzte Würfelspiel des Kriegs frei den Mund zu öffnen, und als diese Mundöffnung in die Adresse jenes Unterhauses an Napoleon überging. Das kam ihm, vor welchem alles nun zehn Jahre und länger im Staube gekrochen war, ganz ungewohnt; er ergrimmte und jagte sie auseinander und antwortete aus seinem Zorn in seiner Weise so schön, daß diese charakteristische Antwort hier stehen muß.

»Ich habe den Abdruck Eurer Adresse verboten; sie war aufrührerisch. Elf Zwölftel des gesetzgebenden Körpers bestehen aus guten Bürgern; ich kenne sie und habe Achtung für sie. Das letzte Zwölftel enthält Ränkeschmiede oder schlechte Bürger, und Eure Kommission befindet sich unter dieser Zahl. Lainé ist ein Verräter, welcher durch Vermittelung des Deseze mit dem Prinzregenten briefwechselt. Ich weiß es, ich habe Beweise davon. Die vier andern sind Rottensüchtige. Dieses Zwölftel besteht aus Leuten, welche die Anarchie wollen und den Girondisten ähnlich sind. Wohin hat ein solches Betragen Vergniaud und die andern Häupter gebracht? Auf die Henkerbühne. Nicht in diesem Augenblicke, wo man den Feind von unsern Grenzen vertreiben muß, soll man von mir eine Änderung in der Verfassung [211] verlangen. Man muß das Beispiel des Elsaß, der Grafschaft Burgund und der Vogesen nachahmen. Dort wenden die Einwohner sich an mich, um Waffen zu erhalten, und daß ich ihnen Anführer für die Freischaren zukommen lassen soll. Auch habe ich Adjutanten hingeschickt. Ihr seid nicht Stellvertreter der Nation, sondern Sendeboten der Depar tements. Ich habe Euch versammelt, um Trost von Euch zu erhalten; nicht daß es mir an Mut fehlte, sondern ich hoffte, der gesetzgebende Körper würde mir denselben noch vermehren. Statt dessen hat er mich getäuscht; statt des Guten, was ich von ihm erwartete, hat er Schaden gethan: kleinen Schaden zwar, indessen nur darum, weil er keinen großen thun konnte. Ihr sucht in Eurer Adresse den Herrscher von der Nation zutrennen. Ich allein bin der wahre Stellvertreter des Volks; und wer von Euch vermöchte wohl diese Last auf sich zu nehmen? Der Thron ist nur ein Ding von Holz mit Sammet überzogen. Ich allein bin der wahre Stellvertreter des Volks. Wenn ich mich nach Euch richten wollte, so würde ich dem Feinde mehr abtreten, als er selbst von mir verlangt. In einem Vierteljahr sollt Ihr Frieden haben oder ich will untergehen. Allein gegenwärtig muß man Kraft zeigen. Ich werde die Feinde aufsuchen, und wir werden sie schlagen. Der Augenblick, in welchem Hüningen bombardiert und Belfort angegriffen wird, ist nicht der rechte, um über die Verfassung des Reichs und den Mißbrauch der Staatsgewalt Klagen zu führen. Der gesetzgebende Körper macht nur einen Teil des Staats aus; er kommt nicht einmal mit dem Senat und dem Staatsrat in Vergleichung. Ich stehe darum an der Spitze der Nation, weil Euch die dermalige Staatsverfassung so recht ist. Sollte Frankreich eine andere Verfassung verlangen, welche mir nicht recht wäre, so würde ich sagen: sucht Euch einen andern Herrscher. Die Feinde sind gegen mich noch mehr als gegen Frankreich erbittert; allein soll ich mir dorum die Zerstückelung [212] des Reichs erlauben? Opfere ich nicht meinen Stolz und mein Selbstgefühl auf, um Frieden zu erlangen? Ja, ich bin stolz, weil ich Mut besitze, ich bin stolz, weil ich große Dinge für Frankreich gethan habe. Eure Adresse ist mein und des gesetzgebenden Körpers unwürdig, und ich werde sie dereinst drucken lassen, um den gesetzgebenden Körper und die Nation zu beschämen. Kehrt in Eure Heimat zurück. Selbst vorausgesetzt, ich hätte Unrecht, steht es Euch nicht zu, mir darüber Vorwürfe zu machen. Übrigens bedarf Frankreich mein mehr, als ich Frankreichs bedarf.«

Die Verbündeten kamen nach blutigen Schlachten nach Paris; Napoleon ward entthront und ließ sich ganz zahm nach der Insel Elba abführen: die Bourbons bestiegen den Thron ihrer Väter. Was soll ich, was alle Deutsche damals empfunden haben, was alle wissen, hier weiter berühren? Talleyrand war sogleich voran da und nahm den Kaiser Alexander in Empfang; ja er nahm ihn gefangen, er nicht allein, sondern die Franzosen, sondern die Pariser. Wie knirschten die preußischen Krieger, wie die Österreicher, daß sie vor den Thoren und in den Straßen von Paris hungern und durften mußten, daß ihnen nicht einmal Quartier vergönnt ward in dieser Hauptstadt der gesitteten Welt, wie die Welschen sie nennen, sie, die Berlin und Wien und die grausam und hinterlistig berechneten Mißhandlungen so vieler Jahre fühlten! Doch sollen wir nicht vergessen, daß wir es vorzüglich Alexanders Beharrlichkeit verdankten, daß wir nach Paris kamen. Durch ihn haben wir Paris erobert, aber so wie er in ihre Thore einritt, hatte Paris ihn schon erobert. Frankreich behielt den Raub der Länder und leistete auch nicht die geringste Entschädigung und Vergütung; doch brannte es die Hoffart tief, daß sie die meisten Eroberungen und Einziehungen wieder herausgeben mußten. Dies ist das Glück der Welschen, der allgemeine Gebrauch ihrer Sprache als einer Weltsprache und was sich an diesen Gebrauch bei allen Verhandlungen von [213] Vorteilen und Hilfsmitteln knüpft, und was durch die Erziehung und Unterweisung in derselben fast als Sitte und Art zu ihrer Gunst in die Gemüter sich einschleicht, ja einschmeichelt. Kaiser Alexander, wenn man ihn nicht als Russen betrachtet, war sowohl von Vater als Mutter her fast ein deutscher Fürst; die Deutschen sind es vor allen andern europäischen Völkern, welche das russische Volk zur europäischen Bildung mit emporgehoben und aus dem Groben gearbeitet haben; er hatte mehr als eine Million deutscher Unterthanen – aber der Zar war erzogen, als wenn er künftig Franzosen beherrschen sollte; sein Lehrer und Meister war ein schweizerischer Welsche. Dieser und Talleyrand und was ihn in Paris sogleich umfloß, ja überschwemmte, flüsterten ihm zu: »Gnade! Gnade! und Huld den Franzosen gegenüber! sie sind die Überlieferer der Geschichte für künftige Geschlechter; haben Alexander von Macedonien und Rom Ilium geehrt und geschont wegen Homers, so schone und ehre du Paris wegen des gebildetsten und wissenschaftlichsten Volks, ohne welches wir alle noch Barbaren sein würden.«

Ich war den ganzen Winter in Frankfurt geblieben und dann nach Koblenz gegangen, weil der Minister meinte, ich könne in der Verwaltung des Mittelrheins unter Gruner irgendwie eine schickliche Anstellung finden. Daraus ward aber nichts, weil diese Verwaltung sich nach dem Pariser Frieden bald in verschiedene Teile auflöste und ganz anders gestaltete, als anfangs die Meinung gewesen war. Einen Teil des Sommers und Herbstes benutzte ich, die Rheinischen Lande, worüber und wodurch ich bisher nur hingeflogen und durchgeflogen war, näher zu erkunden. Ich sah den Oberrhein, ich sah Straßburg ein paarmal, versteht sich im strengsten Inkognito. Welches Land! welche Stadt! und wir haben sie nicht wiedergenommen und behalten? Aber, sagt man, sie würden sich schwer zu uns gefügt haben? Freilich, nicht so bald; aber muß sich denn nicht alles [214] gewöhnen? haben die übrigen Rheinlande, die freilich nur zwölf bis fünfzehn Jahre von den Franzosen besetzt oder beherrscht waren, sich nicht gewissermaßen auch wieder an Deutschland und an ihre deutschen Brüder gewöhnen müssen? Elsaß ist dem größten Teile nach hundertfünfzig, ja beinahe zweihundert Jahre mit Frankreich vereinigt. Noch bis heute herrscht die Sprache und Sitte Teuts bei ihnen; doch empfinden wenige von ihnen, was sie verloren haben, daß sie nicht ganz mit den Pulsadern des ganzen großen deutschen Volks ihr Leben pulsieren fühlen. Das ist die geistige Weltverlehrung, wenn ein Volk von einem größeren fremdartigen Volke beherrscht wird, daß die Elemente seines eigenen innersten Lebens sich matter regen und schlechter entwickeln, und daß es sich die Elemente der fremdartigen Nation nur kümmerlich aneignen kann. Wird und kann ein deutscher Elsässer jemals im französischen Wesen und Geist ein Mann des ersten Ranges in der französischen Monarchie werden? Ich zweifle. – Aber, sagt man ferner, man wollte den Revolutionsgeist in Frankreich töten, man wollte die Franzosen befriedigen, beruhigen – und wie würde man sie erbittert haben, wenn man ihnen das Elsaß und alles, was diesseits des Ardennenkamms liegt, abgenommen hätte! O! O! meint ihr, sie seien uns Deutschen dankbar für unsre Blödigkeit zuzugreifen? sie seien nicht erbittert, daß sie endlich die verdiente Staupe gekriegt haben? Wo ist der Franzose, der nicht flucht, daß die Leute in Antwerpen, Köln und Mainz vor ihm als dem Herrn den Hut nicht abnehmen müssen? wo ist von Chateaubriand bis de Lamartine, bis auf den dümmsten Korporal ein Franzose, der nicht sagte: »aber der Rhein das ist Frankreichs natürliche Grenze; was diesseits des Rheins liegt, das ist Frankreich, das muß bei der ersten besten Gelegenheit wiedergenommen werden?« O mit welchen Gefühlen, mit welchen Gefühlen von Wonne und Weh über all diese Schönheit und Herrlichkeit, und daß diese nicht [215] wieder unser geworden sind, bin ich in Straßburg auf dem hohen Münster gestanden und habe im Osten den Schwarzwald, im Süden den Jura, im Westen den Vogesus vor mir sich bläuen sehen! Eine herrliche Stadt, und die Menschen darin wie deutsch noch! wie leicht erkenntlich die echte schlichte deutsche Art von der mehr verzierten und beweglichen welschen! und welche schönen kräftigen Baurengeschlechter in diesem herrlichen Rheinthal! Es sind Alemannen – die Heftigkeit, der Ungestüm der Leidenschaften, der kurze gestoßene Accent in der Sprache, die Fülle der Herzigkeit und Gradheit, ja selbst die Grobheit sagt es. Dieser Stamm, freilich hin und wieder mit andern Stämmen durchschossen und etwas verdünnt, läuft nach meiner Überzeugung, wenn ich die Sprache, noch mehr, wenn ich die Sitten und Gestalten der Menschen erwäge, über den Hundsrück und die Mosel hinaus bis in die Eifel und östlich bis ans Maifeld bei Andernach; so daß es an einigen Stellen nicht fern von der Aar abbricht. Weiter gegen Westen wird die Sprache auf jede fünf Meilen hin immer träger, tonloser und plattdeutscher. Der Bauer um Köln, der im Jülicher, Klever, Limburger Lande, ja der in Brabant und Flandern spricht mit kleinen Abweichungen im Grunde denselben Dialekt, wenigstens nicht abweichender als in Norddeutschland der Braunschweiger, Holsteiner, Pommer und Brandenburger voneinander abweichen. Das Faeit: dies sind größtenteils Franken. In diesen Landen waren die Sitze der ripuarischen und salischen Franken; sie sind nicht ausgewandert; ihre Fürsten haben nur mit ihrem freiwilligen Gefolge Gallien erobert – wie sollten sie auch so herrliches, von den prächtigsten Strömen bewässertes, mit jedem Naturreichtum und seltenster Fruchtbarkeit begabtes und gesegnetes Land für ein schlechteres verlassen haben? Und wer hätte ihnen, wären sie mit Mann und Maus ausgezogen, nachrücken sollen und die von ihnen verlassenen Lande besetzen? Etwa die Sachsen, ihre Erbfeinde? Wir wissen, nichts desgleichen ist geschehen.

[216] Ihre Eroberung Galliens fällt in eine geschichtlich beleuchtete Zeit. Und es blieb das deutsche Frankreich, Austrasien genannt, noch vier Jahrhunderte die Kraft und Macht ihres Reichs. Aber mit den Sachsen, welche nachher ihre grimmigsten Feinde hießen, sind sie verwandt gewesen, sehr nahe verwandt. Das zeigt bis auf den heutigen Tag ihre ganze Art und Sprache. Waren die Franken ursprünglich ein besonderer Stamm? Ich glaube es nicht. Der Name Franke ist als Bundesname entstanden; die Masse, woraus das Frankenvolk gebildet worden, muß aus sächsischen Völkerschaften zusammengeballt sein – es werden ja auch in der römischen Kaisergeschichte des dritten, vierten Jahrhunderts in den Kriegen der Römer am linken Rheinufer viele sächsische Völkerschaften genannt in eben der Gegend, wo die Stärke der Franken wohnte. Die wohnte aber in den Gauen zwischen Mosel und Maas und jenseits der Maas bis an die Grenzen der Friesen, die mehr in den Marschlanden längs des Meers und um den Südersee von dem Ausfluß der Maas bis über die Elbe hinaus und bis in die cimbrische Halbinsel hinein saßen. Auch in den Schilderungen, welche Freund und Feind vom vierten bis neunten Jahrhundert von ihnen entwerfen, werden Sachsen und Franken in vielen Beziehungen ähnlich gezeichnet: Hartnäckigkeit, Wildheit, ja Grausamkeit und eine fürchterliche Gräulichkeit hatten nach allen Beschreibungen die Franken in jenen Tagen vielleicht vor den Sachsen voraus. Ihnen gegenüber erschienen die Gothen und Longobarden viel menschlicher, milder und ritterlicher. Wenigstens der Franke in Gallien ward, von dem verdorbenen, verknechteten und romanisierten Gallier angesteckt, bald ebenso listig und treulos als tapfer und grausam.

Welche glückliche, ja welche selige Augenblicke habe ich bei jenen Streifzügen und Durchflügen durch die Lande durchlebtl wie viele edle deutsche Menschen, damals alle von der Glut unendlicher Hoffnungen durchhaucht, sind mir begegnet! [217] in Worms und Speier, in Baden, im Schwarzwald, selbst im Elsaß begegnetl Schon in Frankfurt hatte ich Elsässer getroffen, – ich traf durch ihre Anweisungen ihnen ähnliche in Straßburg – welche sagten: »Wir sind Deutsche, und viele von uns möchten wieder deutsch werden, aber uns mit einem kleinen Fürstentum zusammenlöten, das würde nicht halten; schafft etwas Größeres, sonst bleiben wir lieber, wie wir sind.« Ich kam nach Köln, nach Düsseldorf, sah Friedrich Jacobis wackern Sohn Georg in dem großväterlichen Pempelfort; ich kam in die Berge, ja recht in die Berge des Herzogtums Berg. Hier lächerte mir's, als ich fast alles auf Pferderücken erblickte. Das kam mir fast vor wie in dem schwedischen Jemtland. Wie mag es hier galoppiert haben, als noch gar keine geschütteten Straßen hier waren, als man kaum auf zwei, geschweige auf vier Rädern durch die Bergrisse und Thalgeklüfte gelangen konnte! Es lächerte mir's wegen einer philologischen Schnurre, die ich in einem Kommentar über Tacitus Germanien irgendwo gelesen habe: die Tenkterer, welche Tacitus in dieser Gegend als vortreffliche Reiter gemeldet, sollten ihren Namen von dem Trompetenton Tenk Ter, Tenk, Tenk erhalten haben, grade wie ein Römer der blutigsten Feldschlacht, welche Germanikus und Arminius an der Weser miteinander hielten, den Namen die Schlacht bei Idistavisus gegeben haben soll, indem er von einem Deutschen et is a Wife auf seine Frage nach dem Namen der Stelle zur Antwort bekommen habe. Ich kam in den Bergen von Elberfeld über Solingen nach Remscheid, nicht zu Roß noch zu Wagen, sondern zu Fuß, mit einem Wegweiser von Elberfeld, der mein Gepäck trug. Jahn war mit mir, der Obermeister der Turner, so jung noch, daß er in Greifswald mein Zuhörer gewesen; er war mit mir von Koblenz, wo ich ihn traf, rheinabwärts gezogen. Wir kehrten in Ehringhausen in einem Patriarchenhause ein, wo ich von jenem Tage an nun seit einem Vierteljahrhundert Einkehr gehalten habe und Einkehr halten werde, [218] bis der Tod mir die Augen vernebelt. In Remscheid, Ehringhausen und ringsum wohnen mehrere Männer des Namens Hasenclever. Hier in Ehringhausen wohnten damals drei Brüder – der älteste, Bernhard, ist seitdem heimgegangen – Bernhard, David und Josua. Weil das Alte Testament in den Namen so vorherrschte und auch wohl wegen der treuen patriarchalischen Haussitten habe ich meinen lieben freundlichen Freund Bernhard ganz unbewußt, bis ich mich eines Bessern besann, oft Abraham genannt. So stempelte ich ihn, was er in der That war, zu einem rechten frommen Patriarchenpapa. Dies war ein echtes deutsches Geschlecht, welchem in jenen Tagen des Siegs und der Freiheit das Herz hoch in die Brust hinaufschlug. Meinen David hatte ich im Winter schon in Frankfurt gesehen. Er war damals Feldhauptmann der Tenkterer in den Bergen, des Landsturms nämlich. Seine Frau eine edle Frankfurterin, Georg Schlossers würdige Tochter. Wer verehrte eine solche Frau nicht gern als Königin David? Mit diesen und mit ihnen ähnlichen Menschen war es eine Luft zu leben und von ihnen über Land, Art, Sitte der Menschen sich Auskunft und Kenntnis zu holen. Der Landsturm meines Königs David würde, wenn die Not bis an ihn gekommen wäre, wohl feuerfester gestanden sein, als die Webergesellen meines lieben Grafen Geßler. Diese mannhaften und kernigen Tenkterer, gewohnt das Eisen durch Feuer zu bändigen, würden im Feuerspritzen und Schlachtenhämmern gleichsam in ihrem Element gewesen sein. Auch hatte sich hier in den Bergen begeben, daß bei den Gerüchten von den französischen Niederlagen in Rußland und Polen hier viele in zu frühem Aufstand sich erhoben hatten; was mehreren Jünglingen Verderben gebracht.

Um die Mitte des Monats Junius dieses Jahrs 1814 war der Minister vom Stein aus Paris nach Frankfurt zurückgekommen, wo er ungefähr sechs bis acht Wochen weilte. Acht Tage lang sahen wir dort den für Deutschland begeisterten [219] Kronprinzen von Bayern in dem Steinschen Garten vor dem Eschenheimer Thor fast immer die Abende beim Theetisch. Dort sah ich auch zuerst den Fürsten von Hardenberg, der mir seine früheren Versprechungen wiederholte und mir seit diesem Herbst das Gehalt, das ich bisher aus der Kasse der Centralverwaltung genossen hatte, bis zu meiner ordentlichen Anstellung im preußischen Staate bewilligte. Von Frankfurt ging Stein auf seine Güter in Nassau. Dort war ich im August einige Tage. Es war ein prächtiges Leben dort, vorzüglich durch eine edle Frau, welche ich wiedersah und jetzt erst recht kennen lernte. Dies war seine ältere Schwester, Fräulein vom Stein, damals Priorin des freien adligen Fräuleinstifts zu Homburg in Hessen. Ich hatte sie im Frühling schon kennen gelernt auf einer Landreise von Frankfurt nach Koblenz, wo ich sie in Dietz traf.Das war ein Mensch! so pflegte die selige Doktorin Lüdecke in Stockholm, eine tapfre Schwäbin aus Augsburg immer auszurufen, wenn sie jemand besonders loben wollte. Ja das war ein Mensch! ein ganz kleines, seines, etwas verwachsenes Persönchen, schon über sechzig Jahr alt, mit einem schneeweißen Köpfchen. Aber ihr Gesichtchen war leuchtend, und die schönsten blauen Augen funkelten als Sterne darin. Man mochte sagen, sie war ganz das Ebenbild ihres Bruders des Ministers, dasselbe Gesicht, dieselben Züge, nur alles seiner und kürzer, alles besonnener und milder, wie das Weib neben dem Manne sein soll; dieselbe Kürze und Gewandtheit in der Rede, derselbe unbewußte Witz, fast noch mehr Geist. Doch bei dem Worte Geist erschrecke ich, weil sich darunter oft ein Bastard- oder gar ein Kastratengeschlecht versteckt, wovon ich eben nicht viel halte. Weiber haben mehr Klarheit, haben mehr Besonnenheit und, wenn sie wirklich Geist haben, leicht mehr Bestimmtheit und Spitzigkeit als Männer. Vielleicht hatte sie wirklich mehr Geist als ihr Bruder; aber was Herr von Varnhagen auch sagen mag, welcher in ihm keinen [220] Geist bemerkt haben will, ich denke, er hatte davon, und zwar solcher Art, wovon er manchen spitzigen und spitzelnden armen Sündern zur Genüge hätte abgeben können, ohne daß er darum daran verarmt wäre. Es giebt aber viele, welche die Kraft und Einfalt, wodurch der Geist in einem großen Charakter untergeht und sich in Mut und Demut und Glauben versenkend selbst unscheinbar wird, aber den rechten Männerstahl der Tugend und Thatkraft macht, nimmer begreifen können. Es heißt im Sprichwort fulmine, non grandine, wie soll aber ein sogenannter geistreicher armer Teufel begreifen, daß man mit einem tüchtigen Keulenkopf viel wirksamer schlägt und trifft, als wenn man ihn in hundert kleine Speerspitzen ausgeschnitzelt hätte? Kurz, sie war geistreich, sie war aber auch kenntnisreich und gelehrt und wußte die vaterländische Geschichte und die alten deutschen Ordnungen und Verfassungen nicht bloß auf dem Nagel, sondern im Herzen. Rührend war es, wie sie neben dem Bruder stand, und wie die reißende Gewalt seiner Lebendigkeit allein vor ihr in stillen Ufern hinfloß. Bekannt ist, daß sie in den deutschen Aufruhr des Jahrs 1809 verwickelt und als eine Staatsgefangene von den Franzosen weggeschleppt und eingekerkert worden. Sie hatte, verlautete es, dem Ritter von Dörnberg eine Fahne gestickt und eingesegnet. Sie war im Umgange höchst heiter und liebenswürdig. Das war auch die Gemahlin des Ministers, eine Tochter des weiland kurbraunschweigischen Generalfeldmarschalls, Reichsgrafen von Walmoden, eine schöne stattliche Frau, aber bei großer Milde mehr ernst und ruhig. Wir erlebten damals eine königliche Geschichte in Nassau. Ich erzähle sie hier:

Der Hettmann Platow nebst noch einem russischen General waren in Nassau zu Mittage. Nach Tische ging alles, die Priorin und die beiden noch nicht erwachsenen Töchter des Ministers mit, auf die Burg Stein spazieren. Da hatte es ein eignes Spiel. Ein alter Maurermeister im Städtchen [221] Nassau, der vor längst verschollenen Jahren mit dem Freiherrn Kinderspiele gespielt und sich immer als ein Ergebener zum Freiherrlichen Hause gehalten hatte, war auf den Einfall gekommen, an den Gängen, welche auf der Höhe und an den Wiesen hin durch den Park des Steinschen Berges laufen, wirklich und bildlich durch die künstlichsten und wunderlichsten Zusammensetzungen von Steinen, Moosen, Blumen und Büschen die Thaten und Leiden der russischen Feldzüge, den Brand von Moskau, den Rückzug der Franzosen, die Leipziger Schlacht u.s.w. u.s.w. abzubilden. Da war denn auch Steins Namen und Wappen und ein wohlverdienter Kranz hie und da abgebildet. Der alte Herr hatte schon von dieser Transfiguration gehört und finster dazu gesehen. Nun als er es wirklich erblickte, geriet er in Zorn und wollte alles sogleich wegschaffen lassen, alle die schöne kunstreiche und mühsame Arbeit, worauf der fromme und dankbare alte Meister vielleicht die Feierstunden einiger Wochen verwandt hatte. Die gute Priorin war außer sich, wagte aber nicht sich gegen zu legen, seufzte nur ach! der arme Mann! Sie kriegte mich nun auf, bald kamen noch andere Gäste, welche vorstellen und bitten helfen mußten; und wir brachten es dahin, daß der alte Herr freilich verdrießlich wegging mit den Worten: »Die Leute könnten glauben, ich wäre ein kindischer Narr geworden und bildete mir ein, die Welt erobert zu haben« – aber er erlaubte endlich doch, daß Wind und Wetter die Kunstwerke des alten Mannes zerstören durften.

Er ging bald darauf (im September) nach Wien, und ich trat gegen das Ende des Oktobers meine Wanderung nach Berlin an. Glückselig, daß ich, meinen Säbel an der Seite und meinen Stock in der Hand, meine Füße gebrauchen durfte. O es geht keine Luft und Freiheit über die Luft und Freiheit des Fußgängers; und wer die Sitten, Arten und Weisen der Menschen und Völker recht erkunden will, soll, wo Wüsten und Räuber es ihm nicht verbieten, [222] nimmer anders pilgern. Wer in Kutschen mit Vieren dahergefahren kommt, schließt den Leuten den Mund oder öffnet ihn nur dem Lügner oder Schmeichler; dem Fußgänger aber gehört die Welt, er ist des Bauers und Bürgers Gleicher, und jeder steht ihm Rede und gewinnt ihm Rede ab, und so wird ihm auch die Lust, durch die Gefühle und Gedanken der Menschen frei durchzuspazieren. Dazu kommt, daß wer mit einem Viergespann oder Sechsgespann einherkutschiert, schon dem einen großen gebildeten europäischen Volke angehört, welches bei aller Verschiedenheit der einzelnen Völker eine so große Einerleiheit gewonnen hat, daß die an der Tiber und Newa, an dem Tajo und an der Elbe gebornen Vornehmen und Gebildeten durch eine gewisse Gemeinsamkeit der Sitte und des Tons sich so abgeschliffen haben, daß man das ursprüngliche Naturgepräge oft kaum im dünnen Durchschein noch erkennt. Ich wanderte denn durch die Wetterau und Hessen und Westfalen lustig hin, besah mir den Teutoburger Wald und die Porta Westphalica und lebte einige fröhliche Tage mit dem wackern alten deutschen Hessen, Dr. Faust in Bückeburg; dann ging es über Hannover, Braunschweig und Magdeburg fröhlich weiter. Fröhlich, doch, wie es der Herbst häufig mit sich bringt, zuweilen im brausenden Regen. Ich konnte noch alle Wechsel und Unbilden des Wetters ertragen. Hier machte ich eine Bemerkung, die mir auffiel und die ich für die Herren Chemiker und Physiker zur Nachricht hieher setze: Ich war gewohnt, geschwind wie ein feuriges Roß zu pilgern, so daß ich auch im Herbst wohl mit Schweiß bedeckt ward. Da fühlte ich nun, so wie ich ungewöhnlich erwarmte, in der linken Lende da, wo die eiserne Säbelscheide an schlug, ein fliegendes Prickeln in der Haut, als ob ich mit Nadeln gestochen würde. Ich habe dieses Prickeln an derselben Stelle noch einige Wochen nach der Wanderung gefühlt. Ich meine nach meiner Ansicht, es war bei dem damals noch kräftigen Manne viel Eisen im Blut, und durch die Wärme wurden beide[223] Metalle gereizt ihren magnetischen Zug gegeneinander zu offenbaren.

Im Werder vor Potsdam begegnete mir ein romantisches Glück. Ich kam dort spät Abends an, durchnäßt, ermüdet, überwacht, suchte den schwarzen Adler zum Nachtquartier, erhielt so schlechtes Abendessen und so säuerlichen Wein, daß ich meine Lippen verdrießlich zusammenkniff und mich nüchtern in ein kaltes Bett legte. Hier erschien mir ganz Mexiko im Traum. Ich habe von bildlichen Blumengeweben der Dichtkunst bei Mexikanern und Peruvianern wohl hin und wieder gelesen, auch von allerlei hieroglyphischen orientalischen Blumensprachen, aber nimmer habe ich mich in die Vorstellung und Nachbildung derselben so vertieft, daß sie in meiner Phantasie eine Gestalt hätten gewinnen können. Nun aber hatte ich gewiß stundenlang – wenn ich den Inhalt berechne – die allerlustigsten Blumenbilderungen von den buntesten Gestalten und Begebenheiten. Vergangenes und Gegenwärtiges, Zukünftiges und dem Scheine nach noch ganz Überweltliches zauberte sich dort in lieblichsten Wechseln von Blumenbildern, und zwar von sprechenden und weissagenden Blumenbildern ab; so daß ich in meinem schlechten Bette das entzückendste Erwachen hatte. Was ist dies? woher dieses lieblichste in den mannigfaltigsten Farben und Tönen wechselnde Blumenmexiko? oder bin ich schon einmal in mexikanischen Blumengeweben verstrickt gewesen? Überhaupt wer sind diese wundersamen Spieler der Nacht, wo unser Geist, der alles unser Spiel regieren sollte, mit zu schlummern scheint? was sind das für kleine bunte Götzen, die in unsrer Herzenskapelle in verborgenen Nischen versteckt liegen und in dem dunklen Traumleben solche wunderbare Gestalten und Nachbildungen nicht nur des in That oder Gefühl Erlebten, sondern Vorbildungen des Künftigen und Ungebornen hervorbringen? was sind das für Götter oder Götzchen, die uns eine künftige Geliebte, einen künftigen Herzensfreund schon im Abbilde vorzaubern? [224] oder tragen unsre innersten edelsten Organe die Urbilder jener Nachahmungen der Natur so in sich, daß wir, wenn sie uns im Leben erscheinen, uns gleichsam mit magnetischer Gewalt zu ihnen hinreißen und sie lieben müssen? Genug, ich stand glückselig auf und habe die anmutigsten Bilder noch nicht vergessen; fröhlich schlürfte ich meinen dünnen gelben Kaffee ein und wanderte auf die Residenzstadt Potsdam und hielt auf halbem Wege nach Berlin an der Stelle, wo ganz hart an der Heerstraße ein Busen des großen Havelmeers anspült, in einem ganz stattlichen Gasthause mein Mittagsessen. Dies war die Stelle, wo der genialische Heinrich von Kleist A71, den ich im Winter 1809 während meines Inkognito in Berlin oft mit Freuden gesehen hatte, sich unten am See mit einer älteren Dame durch einen gegenseitigen Schuß entleibte. Ich ließ mir den Fleck zeigen, wo sie gefallen waren; die Bäume standen ruhig da, das Gras wuchs saftig und grün, sogar einige Stengelchen Quendel konnte ich mir noch pflücken. In der Stube, wo ich mein Mittagsmahl hielt, saß ein junger Offizier mit einer sehr hübschen blauäugigen Blondine, wie ich mit dem Essen beschäftigt. Diese beiden sahen nicht aus, als die da aus dem Leibe herauszuspringen meinten. Sie nahmen ihren Weg bald gegen Süden, und ich den meinigen gegen Norden. In der Abenddämmerung war ich in meines lieben Reimers gastlichem Hause, wo ich später ein weicheres Bett, aber ohne mexikanische Blumengespräche hatte.

Ich lebte diesen Herbst 1814 und den Winter 1815 in Berlin. Ich gehörte diesem Staate jetzt an. Nachdem ich von meiner schwedischen Sonderheit (Partikularismus) und fast auch von jeglicher deutschen Sonderheit geheilt worden, fand ich mich ungefähr in der Lage des starken Sankt Christoffel, der auf die Wanderung ausging sich einen Herrn zu suchen. Ach! wer hatte in den Jahren 1810 und 1811 denn noch einen deutschen Herrn? Einer war der Herr über alle geworden. Als dieser Stolze aber anfing zu [225] wanken, als das scythische Eis und Schnee und die Rippenstöße der Kosakenlanzen den Koloß bearbeiteten, da konnte man sich umschauen. Ich hatte früher manches Sonderheitsgefühl gegen die Preußen gehabt; selbst mein alter Herr hoffte im Anfang des Jahrs 1813 nicht so viel von den Preußen, als er gesollt hätte. Er gedachte noch des Kampfes von 1809, des stolzen Riesenkampfes, wo Österreich mit den edelsten Wunden nur unterlegen war, nein nicht unterlegen – wo es den schlimmen Frieden hatte unterzeichnen müssen, weil es zuletzt nicht nur allein gelassen, sondern zum Übermaß des bethörten und bethörenden Jammers vom Osten her sogar von den Russen angegriffen ward A72. Als nun aber der alte preußische Donner und Blitz alles aufschütterte, als die Siege von der Walstatt, von Dennewitz, Wartenburg und Leipzig wie Lichtstreifen des Ruhms jenem Blitz nachzitterten, da glaubte ich einen Herrn zu sehen, dem wohl ein Stärkerer als zehn Christoffel sich gern dienstbar machen möchte; ich glaubte eine auch für die Zukunft belebende, erhaltende und schirmende Macht Deutschlands zu sehen. Ich ward mit voller Liebe und Zuversicht ein Preuße.

Alle deutschen Herzen und Augen waren seit dem Herbst auf Wien gerichtet, wo die Kaiser und Könige Europas und ihre Räte sich versammelt hatten, um die verworrene und übereinander geworfene Welt wieder ein wenig zu ordnen und besonders auch die deutschen Dinge und Leute zurechtzustellen. Ich leugne nicht, daß ich und viele andre wohl oft ungerecht gemurrt und gezürnt haben, wenn uns die Dinge nach unsrer Ansicht krumm oder verkehrt zu gehen schienen; daß wir auch gegen den preußischen Staatskanzler Fürsten Hardenberg gewiß oft mit Unrecht gemurrt haben; daß uns überhaupt die Angelegenheiten nicht in dem Maße, wie die Deutschen für das Allgemeine, für ganz Europa, diesmal mit den Herzen und Schwertern gewaltig und scharf gewesen waren, für Deutschlands Ehre und Würde geführt zu werden schienen. Wir Deutsche vergessen bei solchen Gelegenheiten [226] immer wieder, wie ganz eigentümlich nachteilig unsere Stellung ist: daß, wenn viele mit geteilten Vorteilen und Ansichten gegen einen oder gegen drei nach demselben Ziel laufen sollen, jener eine oder jene drei immer in einem unermeßlichen Vorsprung sind, nämlich, daß sie Willen und Kraft immer für einen Zweck beisammen haben, daß also in Unterhandlungen das in viele Herrschaften und Ansichten geteilte Deutschland immer einen Teil der Vorteile verlieren muß, welche es durch Siege erfochten hat. Rußland, England, Frankreich, Spanien standen in Wien als Einheiten, Deutschland als Vielheit, endlich gar als eine zersplitterte und zwieträchtige Vielheit, worunter und womit die Fremden desto besser ihr Spiel treiben konnten. Das war aber gar das Seltsamste, daß man den Urheber alles Unheils, daß man das niedergeworfene und besiegte Frankreich, dem man durch den Frieden von Paris eben sein Erbe wieder zugeteilt hatte, hier in Wien sogleich wieder mithandeln und mitstimmen ließ, daß man den Mann, der mit den deutschen Fürstentümern und Herrlichkeiten jüngst noch so schändlich gefeilscht hatte, der alle unsre Unebenheiten, Schwächen und Gebrechen auf das gründlichste kannte, daß man Talleyrand als den Mitsprecher und Mitrater unter den erlauchten Räten und Freunden der Herrscher mitsitzen ließ. Fürst Hardenberg hatte also gewiß eine sehr schwere Stellung, zumal da Preußen bei der Entschädigungsfrage weit mehr als Österreich, welches sich in Italien und um das Adriatische Meer seine Fettstücke ausgesucht hatte, recht in die Mitte aller möglichen deutschen Streite und Zänke hineingeschoben war.

Hardenberg war ein edler Edelmann, ein Mann von großmütigem freiem Sinn, von liebenswürdiger gewinnender Persönlichkeit, von schönen Kenntnissen und Talenten, seine Redlichkeit und Treue gegen seinen König und sein Vaterland unbezweifelt; aber das bleibt doch bei allem dem wohl wahr, daß er ebenso mutig und frisch, als seine [227] Preußen auf dem Schlachtfelde vorgedrungen waren, mit einer zu offenen und arglosen adligen Geradheit und Redlichkeit bei den ersten Unterhandlungen vorgeschritten war, ohne fremde Listen und Hinterlisten, welche bei langsamen Unterhandlungen nimmer fehlen, und mögliche Änderung der Gesinnung der Menschen und mögliche Wechsel und Zwischenfälle der Begebenheiten genug in seine Berechnung aufgenommen zu haben. So hatte erz.B. an England für das künftige Königreich Hannover große Abtretungen preußischer Landschaften gemacht, ohne demselben ganz bestimmte und untersiegelte Versprechungen für Preußen als sichere Unterpfänder abgenommen zu haben A73: er hatte für England die Stiftung eines Niederländischen Königreichs bewilligt, ohne den Zustand der Lande, welche dieses neue Königreich ausmachen sollten und die politischen und natürlichen Grenzmarken desselben gegen Preußen, fest und scharf ins Auge gefaßt zu haben. Er hätte nach der Leipziger Schlacht, als Bayern glücklich und klug mit Österreich seinen Vertrag von Ried abschloß, der notwendig eine Grundlage für den ganzen Rheinbund werden mußte, mit doppeltem Adlerauge auf die Rheinlande und deren Zukunft sehen müssen, da es nun jedem klar war, daß, wenn Preußen ordentlich und deutsch entschädigt werden sollte, seine Entschädigung gegen Südwesten hin fallen mußte; denn in Deutschlands Mitte war nun nichts Verlornes mehr wiederzugewinnen. Österreich hatte durch jenen Vertrag Preußen nun ein P vorgeschrieben. Daß aber Preußen weit in den Osten hinein auf Kosten Polens entschädigt werden sollte, konnte kein Deutscher wünschen; denn dort konnte die sogenannte Vermehrung und Verstärkung nur eine Minderung und Schuächung werden beide für Preußen und für Deutschland.

Drei Lande waren es, worum in Wien vorzüglich verhandelt und gestritten worden: Polen, das Königreich Sachsen und die von Frankreich wiedereroberten Rhein- und Maaslande. Ich weiß, daß viele Preußen, besonders auch solche, [228] die Feldherren heißen oder werden wollten, statt aller Wiedererstattung und Entschädigung nichts als Sachsen, das ganze Sachsen begehrt hatten; ja ich habe viele schelten gehört, daß man mit den preußischen Landen nur über den Rhein hinaus wollte. Mich für meinen Teil hat der Streit um Sachsen wenig gekümmert: Sachsen im Mittelpunkt Deutschlands mußte endlich, wenn wir nicht immer wieder in die allerundeutscheste, die Fremden lockende Zwietracht zurückzufallen gemeint waren, schon in und bei Deutschland bleiben und mit dem übrigen Deutschland auf jeden Fall stehen oder fallen. Aber ganz anders stand die Frage um Polen und um die Lande um die Maas, Mosel und Rhein. Dort lagen die mächtigen Reichsfeinde an den Grenzen und konnten sich nur freuen, wenn man da schwächende Zersplitterungen und Zerreißungen machte. Das durfte ein Fürst Staatskanzler von Preußen nicht unbeachtet lassen; er mußte sorgen, wenn Preußen mit seinen Grenzen durchaus an den Rhein mußte – und das mußte es – daß es als Vorstreiter des deutschen Volks dort in tüchtiger Rüstung zu stehen komme. Daß nun shon manches, was man sonst fast für abgemacht hielt, sehr zweifelhaft stand; daß nach dem Vertrage von Ried die Angelegenheit Sachsens und seines Königs ganz andre, ja selbst völlig veränderte Ansichten und Beurteilungen zuließ; daß da bis auf den letzten Mann gefochten und gestritten werden würde – diese Möglichkeiten, ja diese Wahrscheinlichkeiten mußte er kalt und besonnen anschauen, und also nach einem Felde hinschauen, welches erst neu verteilt werden, wo erst neue Herren eingesetzt oder gemacht werden sollten. Dieses Feld waren die wiedergewonnenen rheinischen Lande, das alte herrliche Austrasien. Es mußten auch die Gründe, ja das Geschwätz kurzsichtiger Feldherren oder Feldherrngeelschnäbel bei ihm kein Gewicht haben, daß Preußen sich durch den Besitz mehrerer rheinischer Landschaften zu sehr verlängere und also den Hebel seiner Kriegsstärke durch jene Verlängerung schwäche. Dies war zugleich [229] eine Dummheit und eine Unwahrheit. Eine Dummheit: denn die Feldzüge von Jahrhunderten haben bewiesen, daß wer den Rhein besitzt, auch bald Weser, Elbe und Inn erreicht, daß also Tollheit war, hier schwache Fürsten hinzusetzen, und dann nachher doch, wann der Welsche losbrach, von der Oder und Elbe zum Rhein hineilen zu müssen. Oder wußten sie etwa nicht, oder hatten sie es in der Eile vergessen, daß schon der große Kurfürst im Elsaß und Brabant und Holland hatte fürs Reich kämpfen müssen; Friedrich der Erste und Friedrich Wilhelm der Erste ebenso? Also, Starker, du, der an der Elbe, der Saale, der Weser, im Sachsen- und im Westfalenlande so viele schöne Besitzungen hast, du mußtest auch hier stark vortreten wollen du mußtest hier vorschreiten wollen, um die östlichen und westlichen Deutschen grade hier am sichersten zu beschirmen. Es war dies aber auch eine Unwahrheit: nur fünf bis sechs Märsche, und man hat von Koblenz, Köln und Wesel aus geschwind den Kern dieser schönen Lande, wo die Schlachtfelder und alle Hilfsmittel des Kriegs und der Schlachten sind. Aber man mattete sich um Sachsen ab, verfeindete sich, stritt sich tot um Sachsen, und hier – weh! daß ich es sagen muß! – hier den hinterlistigen lüsternen Welschen gegenüber ließ man die Fremden die Länder gutwillig und demütig zerschneiden und zuschneiden und gebärdete sich dabei, als wenn es sich um Kleinigkeiten handle. Ja, ich bin noch heute überzeugt, hätte hier, für diese wichtigste Grenze, der Geist der Klugheit und Stärke gewaltet, hier wäre ganz anderes und größeres zu erlangen gewesen als bei dem traurigen Streit um Sachsen. Freilich England hatte mit dem Prinzen von Oranien und mit seinen holländischen und deutschen Räten und Helfern ein neues austrasisches Königreich frühe zugeschnitten; aber weil Hardenberg das wußte, mußte er sich mit offnen Falkenaugen über diesen Landen schwebend halten und die künftige Entscheidung nicht so dem Zufall oder der Willkür überlassen. England hatte von [230] Preußen für Geldanleihen, Waffen und andere Lieferungen Zusagen ganzer preußischer Landschaften erhalten (Ostfriesland, Hildesheim, einen Teil des Münsterlandes u.s.w.). Hardenberg mußte England und Holland gegenüber nicht den Reichen und Großmütigen spielen. Mit Holland besonders war große Abrechnung zu halten. Hat nicht Österreich die Wiedereroberung Italiens von den Fürsten Italiens sich mit vielen Millionen bezahlen lassen? Und Preußen eroberte Holland und die meisten belgischen Lande und Festungen mit seinem edelsten Blute, und es hat erobertes Geschirr und Geschütz und noch so vieles andere den wohl und strenge rechnenden Kaufleuten umsonst ausgeliefert. Und was ist geschehen? Nicht einmal die Maas und die Maasfestungen teilten wir mit dem neuen Königreiche, sondern ließen uns die allerschlechtesten, unsichersten und schwächlichsten Grenzen, die den künftigen Unterthan verletzendsten und schädlichsten von den Holländern mit ihrer gewöhnlichen Knickerigkeit und listigen Zaudrigkeit ordentlich zuschneiden. Ja diese waren mit einemmale so länderdurstig geworden, daß sie gern alles Deutschland bis an die Mosel mit verschlungen hätten, was ihnen noch mehr als Belgien unverdauliche Aufstöße gegeben haben würde. Ebenso unpolitisch, sorglos und gedankenlos ließ man an der Ostseite die schönen Rheinlande in ein halbes Dutzend Stückchen zerschneiden und einzelnen Fürstentümern als eine kleine Ergötzlichkeit hinwerfen. Dazu lächelte Frankreich ins Fäustchen; darüber trauerten alle einsichtsvollen Vaterlandsfreunde. Hier aber wäre ein Streit um und für das ganze Rheinland besser und gründlicher durchzuführen gewesen als bei Sachsen.

Für Preußen war, wie eben angedeutet ist, die Lage in Wien dadurch die allerschlimmste, daß es bei den Verhandlungen über die Abtretung preußischer Lande an Hannover mit England sich nicht mit der Vorsicht gesetzt hatte, die das bekannte do ut des erfordert; daß es sich nicht auf solche sichere Bedingungen mit ihm gesetzt hatte, daß England [231] bis zum entschiedenen Ausgang der Sachen in Wien mit ihm hätte denselben Strang ziehen müssen. Es fanden sich klein- und kurzsichtige und klein- und kurzdenkende deutsche Männer, welche sogleich bei dem Anfange der Unterhandlungen in Wien sich mit England und Hannover gegen Preußen zusammenwickelten und rotteten: nicht als Verräter, nicht aus bloßem Haß, sondern gleich wieder aus dem alten deutschen Neid, aus der armseligen Sorge, es möge im Vaterlande irgend ein großer Glanz aufleuchten, der die kurzen Schatten der andern zu sehr zeige. Sie aber nannten das die Sorge für die deutsche Freiheit. Eben hatten alle nun in zehn, fünfzehn Jahren die schändliche Staupe gefühlt, welche die deutsche Zwietracht und Ohnmacht über alle, über den einen nach dem andern gebracht hatte; und noch waren die Narben der Ruten nicht verharscht, so regte sich die uralte Unart, und das römische Sprüchlein, lautend: Griechenlands Staaten, da jeder einzeln herrschen wollte, haben insgesamt die Freiheit verloren 18 war wieder vergessen. Auch England hatte des großen Pitt Gedanken vergessen, welchen er seinen Freunden sogar im Testament hinterlassen, daß, wenn die Rheinlande und Belgien in einem glücklichen Kriege wiedererobert würden, alles Austrasien an Preußen, als den deutschen Vorfechter im Westen, wie Österreich es im Südosten ist, müsse abgegeben werden. Aber der große Pitt mit seinen erhabenen Gedanken zur Rettung und Befriedigung Europas war lange hingegangen, und Lord Castlereagh und seine Betrautesten standen tief unter so hohen Ansichten. Denn grade von seiten Englands und von einem geistesarmen und engherzigen deutschen Mann, der nur das einzelne Kleine und das einzelne Gegenwärtige sehen konnte, von dem hannöverschen Minister, Grafen von Münster, ging grade der rücktreibende Wellenschlag gegen [232] Preußen aus. Er, von vielen deutschen Parteigängern, sogenannten deutschen Freiheitspatrioten gefolgt, stellte sich an die Spitze aller neidvollen und ränkevollen Bewegungen und Zettelungen gegen Preußen und hatte seinen mächtigsten Rückhalt an den anwesenden englischen Ministern, welche mit Macht aufdrücken konnten, und welche er die Dinge durch seine Brille ansehen ließ. In diesem Verhältnisse hat man wieder Hardenberg, gewiß mit Unrecht, beschuldigt, er als ein geborner Hannoveraner habe hier auch unbewußt nicht genug entgegengehalten. Aber etwas anderes war es vielleicht mit einem Einfluß, dem er ohne Verdacht des Argen Zutritt und Eingang zu sich erlaubt hat, und der von den Preußen beschuldigt worden ist schlangenlistig zwischengeschlichen zu sein. Dies war der Einfluß eines Freiherrn von Hardenberg, vormaligen hannöverschen Gesandten in Wien. Dieser Mann, wie ihn uns Herr von Hormayr in seinem Historischen Taschenbuch für 1839 geschildert hat, war eine jener sich durchlauschenden und durchschleichenden Figuren, welche bei scheinbarer Charakterlosigkeit und Unbedeutsamkeit auf dem diplomatischen Felde meistens leise und still auf den Busch klopfen und dem rechten Jäger das Wild ganz unvermerkt in den Schuß treiben. Er hatte so den unschuldigen Brutus zu machen verstanden, daß selbst die Franzosen, als sie im Jahr 1809 Wien und Österreich überschwemmten, ihn aus seinem stillen Lager nicht aufgestört hatten. Dieser verhüllte Brutus hatte sich nun seinem Vetter, dem Staatskanzler, beigesellt, welchem er durch seine Verbindungen und Bekanntschaften in der österreichischen Hauptstadt in allerlei kleinen Nachweisungen und Dienstleistungen nützlich werden konnte; und er wich demselben während seines Wiener Aufenthalts auch keinen Augenblick von der Seite. Indem er nun bei demselben gar nichts zu thun noch zu wollen schien, auch sich sehr klug jeder politischen Rolle und Parteinahme enthielt, erlauschte er, wie es bei unbewachtem geselligem Zusammenleben am leichtesten und leisesten geschieht, [233] alle geheimsten Gedanken und Entwürfe des Staatskanzlers und trug – so erzählten die Preußen – das Erspähte und Erlauschte dem Grafen Münster zu. Es war natürlich, daß Talleyrand sich sogleich mit dieser englischhannöverschen Partei zusammenfand und ihr Gewebe mit aufwickeln und durchflechten half. Es war rührend zu sehen und zu hören, welche schöne Predigten hier der Wolf wieder dem Reiche der Schöpfe und Kälber hielt, und mit welcher Gleisnerei dieser Franzose hier, der im Namen eines Volks redete, welches, wenn seine Arme Umfang und Umgriff genug hätten, alle ihm fremde Eigentümlichkeiten sogleich erdrosseln möchte, von politischer Mäßigkeit und Gerechtigkeit predigte und von der höchst wohlthätigen europäischen Notwendigkeit, alle kleinsten Einzelheiten Deutschlands, alle kleinsten Farbenschattenschimmer, welche von Bruchstücken weiland besonderer deutscher Volksstämme noch übrig sein möchten, zu achten und zu erhalten.

Auf diese Weise ist hier einem politischen Unverstande, einem Neide, welchem jede kaum erst aufleuchtende deutsche Herrlichkeit sogleich zu herrlich und zu gefährlich deucht, die Arbeit gegen Preußen endlich nur zu gut gelungen. Was Napoleon eingerichtet und vergrößert hatte, das blieb als etwas Unantastbares stehen; viele kleine deutsche Fürsten, gleichsam als sei durch sie das Vaterland vorzüglich gerettet worden, wurden noch mit Landen und Leuten vermehrt; England, Rußland und Östreich hatten gehörig für sich gesorgt; Preußen allein, welches in der heiligen Arbeit dieses Krieges am meisten gethan und gelitten hatte, erhielt nicht den Inhalt der Quadratmeilen, welche es im Jahr 1806 besessen hatte, kaum seine alte Einwohnerzahl, und ward in seinen südwestlichen Landschaften mit den schlechtesten von fremder Politik abhängigen Grenzen, dem laurenden Frankreich und dem habsüchtigen Holland gegenüber hingestellt, so hingestellt, was man in die Luft hinstellen nennt.

Als man in Wien noch alle Hände voll Arbeit hatte und [234] die einige verbündete Freundschaft sich durch die eben erwähnten politischen Stellungen, Zettelungen und Streitpunkte sehr abgekühlt hatte, erscholl plötzlich die Nachricht, Napoleon habe den letzten Tag des Februars 1815 die Insel Elba verlassen, sei mit einigen Hundert Mann in Südfrankreich gelandet und ziehe immer landeinwärts an der Rhone heraus. Nicht lange und es erscholl weiter, wie sein Zug ein wahrer Triumphzug bis in Paris hinein geworden, indem General und Korporal ihm zugefallen und seinen Fahnen gefolgt waren. Ludwig der Achtzehnte, von allen verlassen, war nach Belgien entflohen, und die verbündeten Herrscher mußten ihre Heere zum neuen Kampf gegen den gefährlichen Korsen wieder über den Rhein und die Alpen schicken. Dahin schickte auch ich mich im April; was ih auf jeden Fall, doch etwas später, gewollt hatte. Denn meine Gedanken und Hoffnungen, welchen höheren Orts nicht unfreundlich zugewinkt war, richteten sich auf den Rhein und auf die dort zu stiftende preußische Universität. Ich wollte den Rhein und seine Bewohner besser kennen, ich wollte am Rhein leben lernen. Ich war jetzt ein von allen guten und schlechten Fesseln Befreiter; ich konnte mir allenfalls meinen Aufenthalt wählen. Es fanden sich schon Gönner, die geruhten mich einen Vagabunden zu nennen; was die Bauren in Pommerland wohl in Vagelbund verkehren, indem sie des fliegenden Vogels dabei gedenken. Auch bedeutet mein Name in der That nichts anderes als Vogel 19; doch bitte ich Vergleichung und Anspielung mit meinen ebengenannten Gönnern nicht in zu breiter Anwendung zu gebrauchen.

Ich lebte den ersten Monat in Aachen, mir das Kriegsgetümmel und die Bewegungen in Belgien ein wenig in [235] der Nähe zu betrachten. Damals begab sich in Lüttich der Jammer mit den unglücklichen Königlich Sächsischen Bataillonen, welche laut des Wiener Vertrags zwischen Sochsen und Preußen verteilt werden sollten. Die Leute wollten dazu erst den besonderen Befehl ihres Königs sehen. Da stand denn ein wild erzürnter Hause auf und wollte den Palast des Feldmarschalls Blücher erstürmen. Das hätte, wenn ihnen der Anschlag gelungen wäre, eine schöne Geschichte geben können; sie hätten uns den alten Helden Blücher, den Gneisenau und die Blüte des preußischen Generalstabs, welche grade in diesem Palaste beisammen waren, erwürgen können. Aber wie diese Sachsen mit wilden Dingen umgingen, so thaten die Wachen des Palastes, die aus ihren Brüdern bestanden, ihre heilige Soldatenpflicht, verteidigten die Thore, welche jene zu sprengen versuchten, auf das mannhafteste, und gaben den Feldherren Zeit aus einer Hinterthür zu entrinnen, ihre Rosse zu besteigen und sich in Sicherheit zu bringen A74. Ich fuhr den Vorabend jenes Morgens, wo der alte Feldmarschall die noch in Lüttich anwesenden Sachsen und Preußen versammelte und wegen jenes Auflaufs an sie eine zugleich belobende und ermahnende Rede hielt, mit dem Obersten Rühle von Lilienstern nach Lüttich und begab mich zur bestimmten Stunde nach dem Platz, wo der Alte reden wollte. Er stand in prächtiger Haltung da wie ein Gott Mars und sprach noch prächtiger. Im Anfange der Rede blieb er in den Fugen derselben (ich hörte, sie sei von einem sehr federgewandten General für ihn verfaßt worden) aber nicht lange, und er zersprengte sie und ging mit mordlich husarischem Einhauen auf den deutschen Dativ und Accusativ im gewaltigen Feuer seiner eigenen Natur durch. Ich erinnere mich noch der Schlußworte, welche lauteten: »Nein, die Franzosen sollen sich nicht freuen, daß sie ihren Bonaparte wiedergeholt haben, daß sie hier vom Aufruhr der Deutschen gegen ihren General gehört haben. Wir sind vor ihnen und an ihren Grenzen [236] keine Sachsen und keine Preußen, wir sind alle Deutsche, wollen Deutsche bleiben und als Deutsche siegen oder sterben. Ich habe es geschworen, und ihr schwöret es mit mir, ich komme nur als Leiche oder als Sieger über den Rhein zurück.« Hier fühlte ich wieder, welche die Kraft war, die diesen gewaltigen Menschen, diesen durch keine besondere Kenntnisse und weite Ansichten und Einsichten geschmückten Feldherrn gleichsam zu einem deutschen Panier gemacht hatte.

Um die Mitte des Maimonats ging ich nach Köln, der Hauptstadt des Rheins, wo ich einstweilen meinen Sitz aufschlug. Auch hier gab es genug Bilder des Kriegs und des Kriegsgetümmels den ganzen Sommer hindurch. Zuerst kamen mehrere Männer, auch teils Verwandte, aus meiner Heimat, welche als Freiwillige dem preußischen Heere in Belgien zuzogen. Ich erinnere mich, ich ging mit ihnen an das Ufer des Stromes uns nach Deutz übersetzen zu lassen, wo ich sie bewirten und in der Nacht eine Strecke Weges begleiten wollte. Mein kleiner damals eben vierzehnjähriger Sohn mit langen fliegenden blonden Locken lief neben uns her und trug den mächtigen Säbel eines der Reiter unterm Arm. Weil er schlank und schön und mit seinen dichten Locken fast jungfräulich anzuschauen war, so liefen die alten und jungen Weiber zu seinem großen Ärger hinter ihm her und schrieen: »Wahrhaftig, es ist ein Mädchen! ein hübsches Mädchen! und läuft mit den Husaren?« Andere, nachdem sie sich ihn näher betrachtet, schrieen wieder: »Das arme junge Blut! was will der schon mit im Krieg?«

Bald kam auch Talleyrand von Wien, um zu seinem Ludwig dem Achtzehnten nach Gent zu eilen. Ich war grade bei dem Kommandanten, Oberst von Ende, einem wackern etwas barschen Kriegsmann, als eine Stafette von ihm anlangte, der Oberst möge ihm doch für einige Posthalte Gendarmen zum Geleit und Begleit zuschicken; denn dem alten Schelm war bange geworden, als er auf einigen Stellen die Leute den Namen Franzos nicht eben mit Achtung [237] hatte rufen gehört. O! er kannte die deutsche Geduld doch noch nicht genug; einem deutschen Talleyrand, der nach Spielung einer ähnlichen Rolle durch Frankreich hätte reisen müssen, wäre wohl nicht ratsam gewesen, solche Reise ohne starkes Geleit zu wagen. Mein Ende brummte bei der Zumutung, schickte aber doch das gewünschte Geleit, sprechend: »Lieber schlüge ich den alten bösen Fuchs tot.« So zog den ganzen Sommer durch ein Gewimmel von Fremden und von Bekannten von und nach Paris hier durch; denn über Köln ging die große Kriegsstraße. Dies gab dann vielfältige Ergötzung und Kurzweilung. Man fragt hier vielleicht: warum ich in jenen Tagen nicht auch nach Wien und Paris gekommen bin? O, ich kannte meine Stelle recht gut, wohin ich gehörte. Was sollte ich, eine Stimme eines Predigers in der Wüste, da thun? und wie sollte ich da umgehen, wo die Zierlichen und Feinen die Lose über die Länder warfen und sie zerlegten und wieder zusammenleimten? Mich in Paris aber roh und übermütig über die wieder gebändigten und niedergeworfenen Franzosen ergötzen – der schlechte Spaß konnte mir auch nichts frommen.

Es kamen aber auch die Bedeutendsten diesen Sommer nach Köln. Im Julius, als wir in der Siegeswonne über Waterloo und Belle-Alliance schwelgten, erschienen einen guten Morgen Herr vom Stein und Herr von Goethe. Goethe war von Frankfurt nach Wetzlar und von da längs der Lahn abwärts gezogen, die alten rührenden Jugendpfade von Werthers Leiden und Freuden wieder nachlesend und das Liedlein bei sich summend, welches ihm weiland in der Kutsche zwischen Basedow und Lavater entklungen war:


Prophete rechts, Prophete links

Das Weltkind in der Mitten.


So war er ins Städtchen Nassau gekommen und im Löwen abgestiegen. Herr vom Stein dies erfahrend konnte den großen Mann dort nicht sitzen lassen, sondern ging hin [238] und holte den Sichsträubenden auf sein Schloß, ließ den folgenden Tag anschirren und setzte sich mit ihm in den Wagen. So kamen beide über Koblenz und Bonn nach Köln, wo sie mehrere Tage blieben und den Dom und alle andre Denkmäler und Sehenswürdigkeiten musterten, uns Kleine aber bei den abendlichen Thees königlich erfreuten. Diese Reise verglich ich der fabelhaften Reise des eisernen und thönernen Topfes; nur lief sie viel glücklicher ab. Die beiden würdigsten alten Herren gingen mit der aufmerksamsten und vorsichtigsten Zärtlichkeit nebeneinander her, ohne gegeneinander zu stoßen. Dies ist das letzte Mal, wo ich Goethen gesehen habe. O wie war er viel glücklicher, heiterer und liebenswürdiger als den Frühling vor zwei Jahren in Dresden! Ich sah aber hier wieder, was ich bei früheren Gelegenheiten schon an ihm bemerkt hatte, und was auch aus seinen Büchern hervorgeht, wie er, obgleich selbst nun ein Edelmann und eine Excellenz, und obenein welche Dichterexcellenz von Apollos und aller Neun Musen Gnaden! die bürgerliche Blödigkeit und Beklommenheit vor dem gebornen Edelmann nicht los werden konnte. Daß er vor Stein eine Art erstaunter Ehrfurcht gefühlt hätte, wäre auch dem seiner Größe bewußten Mann zu verzeihen gewesen; aber es erschienen sich ihm darzustellen ein paar Lieutenante und Hauptleute, junge Adlige, deren Väter oder Oheime Goethe kannte – und siehe da! ich sah den Greis vor den Jünglingen in der Stellung wie des Aufwartenden. Er war übrigens äußerst liebenswürdig und freundlich mit allen und zu allen, und eroberte nicht bloß das Herz des alten wackern Wallraff, der für ihn sich gern zum Cicerone machte, sondern die Herzen aller andern, die in seine Nähe kamen. Stein aber war ungewöhnlich sanft und mild, hielt den kühnen und geschwinden Atem seiner Natur an und zügelte den Löwen, daß er nimmer herausguckte A75.

Nicht lange darauf war Stein nach Paris gegangen und kam im Herbst zurück. Da erschien er im Anfang des [239] Oktobers mit einem ganz andern Gast, mit dem Großherzog von Weimar, und das gab den Ungeweihten eine andere Erquickung, wie er mit Fürsten zu leben verstand. Der Herzog, frisch, lebendig, witzig und unverzagt, wie ein Fürst leicht sein kann, führte die kurze Ware in geschwinder Rede, und mein alter Herr blieb ihm die seinige so wenig schuldig, daß die Anwesenden oft erstaunten, ja erblaßten. Ein Beispiel: Es kam das Gespräch auf den Verfasser der Söhne des Thales, den eben zum katholischen Priester eingekleideten Königsberger Werner, welcher auch auf dem Weimarischen Olymp den Göttern und Geistern gehuldigt hatte. Der Herzog erzählte mit sehr hübscher Laune mancherlei Wunderliches und Verkehrtes von dem preußischen Dichter, und kam endlich auf seine Liebeshistörchen, und nannte ihn einen armen Kater, der den verliebten Kätzchen auf allen Dächern seine ohnmächtige Liebe vormiaut habe. »Ja der wunderliche Kautz hatte,« sagte der Herzog endlich, »seiner Lehre kein Hehl, daß der Mann hier auf Erden seine jammervolle Seelenwanderung als durch das Fegefeuer durch die verschiedenen Leiber der Weiber durchmachen müsse; und, lieber Baron, gestehen Sie nur, daß wir alle auch durh dieses Seelenwanderungsfegefeuer haben laufen müssen.« Zugleich streute er zum Schluß noch einige leichtfertige Scherze auf diese Worte. Darob erzürnte sich der Freiherr und rief: »Ich weiß nicht, welche Seelenwanderungen durch solches Fegefeuer Euer Hoheit erlitten haben; aber das weiß ich, daß weder Fürst noch Edelmann sich solcher Leiden zu rühmen haben; auch sollten Euer Hoheit sie nicht als etwas Unschuldiges und Lustiges vor diesen jungen Männern bekennen.« Es saßen nämlich unter den Anwesenden auch mehrere junge Offiziere. Diese Worte flogen mit solcher Gewalt aus dem Alten heraus, daß der Herzog einen Augenblick verstummte, sich jedoch bald wieder zur Lustigkeit faßte. Oberst von Ende aber und der Oberpräsident Graf zu Solms, welche mit beim Thee saßen, meinten beim Nachhausegehen: das sei gar [240] keine lustige Gesellschaft, sondern eine andere Art Fegefeuer, man komme zwischen den scharfen Geschützen, welche die alten Herren führen, ordentlich in die Klemme.

Napoleon war besiegt und an seinen Prometheusfelsen St. Helena geschmiedet. Es saß wieder ein Kongreß der Herrscher in Paris. Diesmal wiegten wir uns mit Hoffnungen, es werden endlich jedermänniglich die Augen geöffnet sein, es werde endlich eine volle und ganze Sündentilgung und Schuldabrechnung mit dem übermütigen welschen Volke abgeschlossen werden. Und dies erfolgte wieder nicht, wenigstens erfolgte es nur zum kleinen Teil. Freilich mußten sie eine bedeutende Geldentschädigung bezahlen, auch die aus allen Landen entführten Bibliotheken, Kunstwerke und Denkmäler zurückgeben, endlich einen Teil ihres Landes und ihrer festen Plätze auf drei und nach Befinden der Notwendigkeit, auf fünf Jahre von 150000 Mann der verbündeten Heersmacht besetzen lassen; aber die Herausgabe der deutschen Landschaften, die Stärkung Deutschlands durch festere und sicherere Grenzen wurde nicht erlangt. Was konnte denn dagegen im Wege liegen? Man hatte ja die Erfahrungen so vieler Jahre und die jüngste Erfahrung dieses Winters, daß dieses wankelmütige und prahlerische Volk nicht durch Eidschwüre und Gnade, sondern nur durch Furcht und Geiz zu halten und zu binden sei.

Zuerst Ludwig der Achtzehnte mit seinem Talleyrand gebrauchte die gewöhnlichsten Listen und Künste, worin dieses Volk allen überlegen ist. Der alte Ludwig rühmte seine ritterlichen Franzosen, als auf deren Treue und Hingebung er immer gebaut habe und auch jetzt bauen könne; sie seien an dem letzten Aufruhr ganz unschuldig gewesen, ihn hätten bloß einige Verführer der Soldateska und die trügerischen Vorspiegelungen des Korsen verschuldet. Besonders aber war diese welsche Fuchslist und Hundeschwanzwedelei zu den Füßen des Kaisers Alexanders die thätigste und geflissenste; denn durch ihn war man ja das vorige Jahr für alle [241] Demütigungen und Niederlagen getröstet worden. Sie umsäuselten und umbrausten seine Ohren mit allen möglichen Süßigkeiten und Schmeicheleien. So klang es unter andern in französischen Blättern, als er eine große Musterung zu halten mit den übrigen Monarchen auf die Ebene von Vertus abgereist war: »Kaiser Alexander ist auf sein Lieblingsschloß (Tugendfeld) abgereist.« Doch schien der russische Kaiser etwas abgekühlt gegen sie; indessen war er darum noch nicht erwärmt für das verlassene Deutschland. Das schlaue Volk griff ihn nun von einer andern Seite an; es stieß nicht allein mehr in die Trompete irdischen Ruhms, sondern ließ gleichsam Posaunentöne einer andern Welt auf ihn herabblasen. Der Franzose ist einmal der Mensch des Augenblicks, ja der Sekunde und weiß jedes feinste Lüftchen, das zu seinen Gunsten wehen kann, mit seinem vielfarbigen und vielfaltigen Wendemantel aufzufangen. Man schlage nur die Denkbücher seiner Diplomaten auf und lese darin ihre vielgestaltigen protëischen Künste, wie sie vor den Augen Europas offen da liegen. Statt aller andern schlage man nur die Mémoires du Maréchal Comte de Villars auf. Dieser bekleidete in Wien bei Kaiser Leopold zur Zeit, als bei dem Hinschwinden Karls des Zweiten vou Spanien ganz Europa durch die bald fällige spanische Erbschaft in Bewegung gesetzt war, den Posten als französischer Gesandter. Er war jung, mutig, schön und thätig, hatte offenbar ein Dutzend der schönsten und gewandtesten Jünglinge aus den ersten französischen Häusern und versteckt unter mancherlei Kappen und Hüllen noch viele andre Mithelfer in seinem Geleit und unter seinem Schutz; daneben ein Gewimmel reizender französischer Tänzerinnen und Buhlerinnen. Die ersten waren bestimmt, die deutschen und ungarischen Damen, die zweiten, die Männer zu fangen; er selbst gab sich in allen möglichen Verpuppungen und Verkleidungen in ähnlichen Unternehmungen gleichen Abenteuern preis; was in der österreichischen Hauptstadt von schlechtem feilen und spitzbübischen [242] Volk vollends für Gold und Silber zu erkaufen war, das hatte er als Mäkler, Lauscher und Späher im Solde. So waren sie, so sind die Franzosen bis auf den heutigen Tag. Wozu noch kommt, daß sie durch allgemeinen Gebrauch ihrer Sprache einen leichten Eingang und ein geistiges Übergewicht haben, welche allen übrigen Völkern Europas fehlen. Jetzt also suchten sie sich des Kaisers Alexander auf eine andere Weise zu bemächtigen. Er war ein liebenswürdiger Fürst mit einem leichten Anflug alles Edelmütigen und Hohen, was freilich nicht lange vorhielt; mit einem milden, sanften, fast weiblichen Gemüt, so daß ihm die Männlichkeit, womit er die Jahre 1812 und 1813 bestanden und beharrt hat, doppelt hoch anzurechnen ist; auch mit einer fast weiblichen Eitelkeit, welche um die Gunst und das Wohlgefallen der Menschen zu buhlen schien. Dies hatten sie ihm schon im vorigen Jahre abgesehen und spannten nun die Netze aus, womit sie ihn zu bestricken meinten und ihn im gewissen Sinn allerdings wieder bestrickt haben.

Es war eine Frau von Krüdener, Witwe eines ehemaligen russischen Diplomaten, eine Dame aus der großen Welt, welche in ihrer Jugend, wo sie eine glänzende und berufene Schönheit gewesen, die Wege und Stege derselben, ja auch wohl manche verbotene durch allerlei Irren gewundene Schleichwege derselben durch Erfahrung kennen gelernt hatte. Diese Dame, jetzt älter geworden, immer noch mit großen Resten von Schönheit und dem zauberhaften Schimmer einer sehnsuchtsvollen Magdalenenbüßerin übergossen, der Eitelkeiten und Nichtigkeiten der irdischen Freuden dem Anscheine nach satt, trat als eine Begeisterte, als eine mit Gesichten und Weissagungen von oben Gesegnete, als eine Predigerin der Lehre von der Gnade und von Reue und Buße auf. Sie hatte diese letzten Jahre am Oberrhein, in Baden, in Basel, in Straßburg gelebt und großes Aufsehen erregt, um so mehr, da sie manche russische und [243] andere Große, Generale, Minister u.s.w. u.s.w. in die sanften Zügel ihrer Frömmigkeit einzuspannen und siegreich wie im christlichen Triumph umherzuführen schien, da sie auch der Gunst genoß, mehrmals stundenlang mit dem Kaiser Alexander, wie man flüsterte, über die himmlischen Dinge und über himmlische Offenbarungen sich unterhalten zu dürfen. Ich habe sie im Sommer 1814, wo ich mich wohl einen Monat in den Bädern zu Baden, im Elsaß und in dem paradiesischen Murgthale aufhielt, viel und oft gesehen, unter anderm viel in Gesellschaft des lieben frommen Greises Jung-Stilling, mit dessen kindlicher Einfalt sie herrlich zu spielen verstand. Sie hatte die ganze Unruhe und geschäftige Zudringlichkeit einer Dame aus der hohen Welt, die doch noch nicht zur Ruhe gekommen ist und das eine Auge immer noch für die Luft des irdischen Lebens offen zu haben scheint, während das andere nach dem Frieden der überirdischen Welt schmachtet. Diese Frau machte nicht den Eindruck einer Gauklerin und Betrügerin, sondern einer Schwärmerin; sie hatte den sehnsüchtigen und mächtigen Zauber einer Begeisterten, welche sie wirklich war: denn sie predigte ihr neues Evangelium mit gleichem Eifer den Armen wie den Reichen, dem Kaiser wie dem Bettler. Besonders war ihr Lieblingsthema, wie ich es bei alten Weibern unter Männer- und Frauenbildern dieses Standes an den verschiedensten Orten auf gleiche Weise wiedergefunden habe, die Erschütterungen und Umwälzungen, wovon Europa heimgesucht wird, von den Sünden der Völker herzuleiten, welche sie mit unruhigen Trieben umherjagten und sie den Frieden und das Glück, da wo allein ihr Wohnsitz ist, nicht suchen ließen. Sie sprachen hiemit eine unleugbare Wahrheit aus; nur hätten sie nicht unten bei allem Volk anfangen sollen, sondern zunächst bei ihrem Volke und Geschlechte, bei der hohen und vornehmen Welt, und in Hinsicht auf Frankreich bei den abscheulichen sittenlosen und glaubenlosen Regierungen und Hofhaltungen des Vierzehnten und Fünfzehnten Ludwigs. [244] An diese Dame machten sich nun auch sogenannte fromme diplomatische Franzosen und brachten sie in nächste Seelenverbindung mit der französischen Dame Lezay-Marnesia, Witwe des ehemaligen Landvogts von Straßburg, eines wackern und durch seine Redlichkeit allgemein geachteten Mannes, der im verflossenen Jahre dem Grafen von Artois entgegenfahrend mit seinem Wagen umgeworfen war und den Hals gebrochen hatte. Diese beiden Frauen zogen nun miteinander ins Kaiserliche Hoflager, und Frau von Krüdener hielt Betstunden und Bußübungen mit dem Kaiser, deren Anfangs- und Endwort war und blieb: Es ist wahr, die Franzosen sind gottvergessen und verrucht, und die schlimmsten Grundsätze haben bei ihnen überhand genommen, sie haben mit Recht die Züchtigung Gottes und der Menschen verdient; aber will man sie nicht mit Gewalt in die Wildheit hineintreiben, will man sie für das Christentum und die alte Herrschaft der Bourbons wiedergewinnen, so darf man nicht mit der Strenge der Gerechtigkeit mit ihnen handeln, man muß sie durch Milde und Großmut allmählich wieder zum Bessern erziehen. Also das Stichwort war hierGnade und immer Gnade, während man Deutschland sein Recht, sein versprochenes, sein feierlich versprochenes Recht weigerte.

Diese Damen und noch einige andere, welche sie sich beizugesellen wußten, nahmen den Kaiser Alexander in die Mache. In eine andere Mache, welche diesmal viel schlimmer wirkte, gerieten die Engländer oder vielmehr ihr großer Feldhauptmann Wellington und durch ihn und seine Bindung Castlereagh und die andern, welche bei den Verhandlungen mitwirkten. Fouché, der berüchtigte Due d'Otranto, welcher während so vieler Jahre der Generalfeldmarschall von Napoleons europäischer Späherbande gewesen war, dessen Namen Fusche man Pfuscherer, Verwirrer und Anzettler übersetzen könnte, war, als die Heere diesen Sommer gegeneinander ins Feld rückten, gewiß nicht ohne Napoleons Mitwissen, mit dem großen englischen Feldherrn in Verbindung[245] getreten, unter dem Schein eines Verräters, welcher den Engländern die Stimmungen und Bewegungen Frankreichs und die Entwürfe Napoleons mitteilen wollte. Durch ihn war es schon geschehen, daß die Verbündeten durch Napoleon überrascht wurden. Schon einige Wochen vor den Schlachten bei Ligny und Waterloo hatte der preußische Feldherr Wellington gewarnt und ihn zu bewegen gesucht, daß die einzelnen Scharen der verbündeten Heere in ihren Kantonierungen, damit sie für jeden Schlag sogleich bereit wären, näher zusammengerückt würden. Vergebens: Wellington verließ sich auf die Berichte seines Fouché, der ihm eingebildet hatte, Napoleon wolle überhaupt nicht angriffsweise verfahren und werde auf keinen Fall sein Heer vor dem Julius für eine Schlacht beisammen haben. So begab sich, daß die Verbündeten den 16. und 17. Junius von der ganzen französischen Macht gedrängt und zum Teil geschlagen wurden, da bei ihren Heeren 50000 bis 60000 Mann nicht sogleich zur Stelle kommen konnten und erst den zweiten und dritten Tag eintrafen. Wenn es Napoleon damals gelungen wäre, einen vernichtenden Sieg davon zu tragen, wie würde ganz Frankreich die verschmitzte Tugend seines edlen Bürgers Fouché gepriesen haben! Aber wie wahr dies ist, Wellington war einmal mit dem Netze umstrickt und blieb fortwährend in Verbindung mit Fouché, der nun freilich, da Napoleon nach der Niederlage bei Waterloo ohne Rettung verloren war und sich selbst auch verloren gab, den Spieß sogleich nach der andern Seite hinwandte und seinen alten Herrn durch die planmäßigsten Verstrickungen endlich auf der Rhede von Rochefort den Engländern auf ihren Northumberland auslieferte. Fouché behielt den größten Einfluß bei Wellington und gebrauchte diesen Einfluß für Frankreich gegen Deutschland. Preußen, auch durch Stein noch mehr befeuert, welcher aber von seinem Gewicht auf Alexander schon viel verloren hatte, stellte immerwährend als conditio sine qua non des Friedens mit Frankreich, [246] die Auslieferung und Rückgebung der deutschen Landschaften Elsaß und Lothringen mit den Festungen Metz und Straßburg auf und drang um so kühner auf diese Auslieferung, da es erklärte, es handle hier bloß im Sinn der deutschen Ehre und Sicherheit, es verlange von diesen zurückgegebenen Landschaften auch kein kleinstes Dorf. Es war wegen der Engländer nicht zu erlangen, die hier, wie in andern Punkten, auf Deutschlands Kosten die Großmütigen spielten.

Dies war und blieb die deutsche Klage, als im Herbst dieses Jahres 1815 alles abgeschlossen war, und jeder wieder in sein Land zog. Deutschland hätte noch viel mehr zu klagen gehabt, wenn Klagen etwas Verlornes ersetzten und etwas Versäumtes einholten. Es war niemals und nirgends auf einem der Friedenskongresse von einem bestimmten großen deutschen Kabinette, von einem wirklichen deutschen Minister ein Programm Deutschlands ausgegeben, wie fast alle die andern Völker dort Programme ihres Daseins, ihrer natürlichen Verhältnisse, Vorteile und Forderungen ausgaben. Nicht nur die Franzosen, auch die Verbündeten hatten von dem schönen, gebildeten, kunstreichen Lande der Franzosen, und daß ihr Staat zum Heil des übrigen Europas mächtig und stark sein und bleiben müsse, uns die Ohren voll geklungen; daß Deutschland eben als der Mittelpunkt des Weltteils, an welchem sich die wilden Wogen aller Völkerbewegungen und Weltaufruhre brechen müßten, stark und mächtig erhalten oder gemacht werden müsse, wer hat es ausgesprochen? Höchstens hatte man von einer Wiederherstellung der alten Zustände von 1790 gesprochen, welche, wenn man die Kraft und Macht des Widerstandes und das Glück der Sicherheit und die Ehre der Unabhängigkeit ins Auge faßte, eben nicht die fröhlichsten Erinnerungen und erbaulichsten Betrachtungen erwecken konnten. Man hätte besonders darauf größere Forderungen und Ansprüche für Deutschland mit Nachdruck begründen können, daß dieses große in mehr als dreißig [247] größere und kleinere Staaten verteilte und zerstückelte Land schon durch die Schwerfälligkeit und Langsamkeit seiner Bewegung und die Schwierigkeit der Vereinigung seiner Kräfte nimmer die Macht habe, welche seine natürlichen Hilfsmittel und die Menge und der kriegerische Sinn seiner tapfern Bewohner ihm sonst geben würden; daß dasselbe, dessen Einheit seit mehr als sechshundert Jahren nach und nach zerbröckelt sei, nimmer einen Reiz zu Angriffskriegen gegen die Nachbarn habe, wohl aber von der Lüsternheit und Habsucht derselben solchen Angriffen ausgesetzt sei; daß es als ein großes Friedensland zum Heile Europas von Gott in die Mitte gestellt wenigstens durch die Massenhaftigkeit seines Inhalts und Umfangs mit einigem Glanz der Furcht und Majestät angethan werden müsse. – Auch das sprachen die Fremden endlich noch als eine offenbare Verhöhnung unsers Namens aus, daß Deutschland durch seine Siege wenigstens in seinen vollen Besitzstand, wie er im Jahr 1790 gewesen, wiederhergestellt sei. Nein! das war nicht wahr. Eine Menge kleiner Besitzungen im Elsaß und in Lothringen, welche 1790 noch deutschen Fürsten und Baronen gehorchten, waren den Welschen überlassen, und vier Millionen Seelen hatte man ohne gehörigen Gegenkampf gegen Englands dumme Entwürfe den Holländern hingeworfen, die nimmer Deutsche sein wollen, obgleich sie es sind: die schönen burgundischen Lande und das große Bistum und Fürstentum Lüttich nebst mehreren Reichsabteien.

Ich war in der heiligen Rheinstadt, wie man halb im Ernst und halb im Scherz Köln wohl zu nennen pflegt, sehr fleißig, und schriftstellerte auch, indem ich eine Zeitschrift unter dem Titel Der Wächter A76 herausgab. In dieser Zeitschrift hatte ich eine Abhandlung geliefert des Namens: Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und Bauern im Sinn einer höheren, d.h. menschlichen Gesetzgebung; welches Wort ich im Jahr 1820 in Schleswig als ein besonderes Schriftchen habe [248] wieder abdrucken und ausgehen lassen. Ich kehrte damit gleichsam wieder zu meinen politischen Anfängen zurück; denn für die Bauern hatte ich meinen ersten Auslauf gethan, für sie meine ersten Sträuße ausgeteilt und zurückempfangen. Sie sind auch bis auf den heutigen Tag ein immer ernsterer Gegenstand meines Nachdenkens geworden und werden es von Tage zu Tage mehr, je weiter die Zeit in der Offenbarung ihrer Richtungen und in der Entwickelung ihrer Bildungen und Veränderungen vorschreitet. Wegen der Wichtigkeit der Sache, und weil ich notwendig andre Ansichten über die Zeit daran hängen muß, gehe ich hier etwas näher auf jenes Schriftchen ein und gebe, indem ich was die Forsten angeht nicht berühre, meine Gedanken über das Bauerwesen teils wörtlich teils im Auszuge, wie sie in jenem Büchlein enthalten sind.


Über die Bauern.


So sind wir dnrch unsern Wald gewandert und haben uns unter seinen Bäumen umgesehen und auf die Geister gelauscht, die um sie wehen und weben und von ihnen auf die Menschenkinder herabspielen. Wir kommen jetzt auf die zweite große Forst, die wir erhalten und, wo sie verwüstet ist, wiederhergestellt wünschten, auf die Forst, woraus zum Staatsbau die stärksten und tüchtigsten Stämme und woraus die Masten und Balken der Kraft gehauen werden müssen, nämlich auf die Bauren. Wir lassen uns nicht verdrießen, wenn viele sagen, daß wir immer auf derselben Leier klimpern, auch wenn wir närrsch oder wohl gar rasend genannt werden. Die Wahrheit ist ja selbst ein so närrisches und rasendes Ding, daß sie immer nur ei nen Schein und Klang hat und deswegen von vielen Leuten aus der sogenannten seinen Gesellschaft weggewiesen wird. Auch das soll uns nicht kümmern, daß man uns Baurenfreunde und für die Bauern parteiisch und gegen den Adel feindselig nennt. Weil ich für den Bauer schreibe und ihn verteidige, daraus folgt noch [249] nicht, daß ich den Adel hasse; auch daraus folgt das nicht, weil ich mich hie und da wohl gegen Ansprüche des Adels erklärt habe, die mir ungebührlich dünken. Für den Bauer spreche ich, und haben vor mir viele gesprochen, weil er unmündig ist; für den Adel brauche ich nicht zu sprechen, weil er selbst Mundes genug hat, den er nicht schweigen läßt.

(Betrachtungen über Zeitalter, Länder, Klimate, Urzustände der Völker; dann wird fortgefahren:)

Aber jenseits der seligen Schuldlosigkeit und Unbefangenheit der Jugend der Völker, die sich so frei fühlt, weil sie von der Welt so wenig bedarf und begehrt, und jenseits der gemeinen Menschen, welchen dort alles Glück ausgeschüttet deucht, wo die wenigste Arbeit und der reichste Genuß ist, wird noch nach einer andern Freiheit gefragt, wodurch auch die Geister ihre Weide haben wollen; und dies ist eigentlich die Freiheit, worauf wir hier hinspielen: die politische Freiheit im höheren Sinn. Hätten wir so wenig verderbliche und zerstörende Leidenschaften und Bedürfnisse wie die Kinder, wäre die Natur auch überhaupt gegen die Menschen so liebreich und gütig, als die meisten Menschen es in der Regel doch gegen Kinder sind, so hätte das Menschengeschlecht von der Wiege bis zum Grabe lustig miteinander hinspielen und leben können; deun die kleinen Hader, die wohl einmal entstanden wären, hätten sich fast immer leicht und unblutig beilegen lassen. Dann wäre das, was wir in einem höheren Sinn unter dem Worte politische Freiheit verstehen, in einem Menschenkopfe nie zu einem Begriff geworden. Aber die Not der Natur, die Unbarmherzigkeit der Elemente, der Ungestüm und die Wildheit unserer Lüfte und Begierden haben auf Erden frühe Unglückliche und Verbrecher, Tyrannen und Sklaven geschaffen, und die Menschen der ewigen Unsicherheit und der unaufhörlichen Wechsel eines ungebundenen Zustandes müde, welchen einige die ursprüngliche Freiheit nennen, wo aber eines jeden Hand gegen die des andern aufgehoben ist, haben sich selbst Gesetze gegeben [250] und sich mit vielen freiwilligen Banden gebunden, weil sie ein beschränktes Glück mit Sicherheit einer unsichern Ungebundenheit vorzogen. So sind die Völker einer selbstgemachten Notwendigkeit dienstbar geworden, wodurch den zu kühnen Verbrechen und zu frechen Leidenschaften die Bahn verengt werden sollte. Dieser Zwang, dessen ein vollkommneres Gestirn und vollkommnere Wesen freilich nicht bedurft hätten, hat zuerst den Begriff der Freiheit geboren. Das Wort Unschuld ist durch die Schuld und das Wort Freiheit durch den Dienst in die Sprachen der Menschen gekommen; um das Gesetz, um das, wodurch der Zwang bedingt ist, hat sich die Idee der Freiheit gesammelt und entwickelt.

Der Mensch, wenn er bis auf diesen Punkt der Entwickelung gekommen ist, wenn er die sogenannte ursprüngliche Freiheit bis hieher aufgegeben hat, beginnt nun das Gebiet abzustecken, in welchem er sich noch frei und ungehindert bewegen darf. Grauen vor Gewalt der Natur und vor der schlimmeren Gewalt seinesgleichen machte ihn dem Gesetze dienstbar. Da er nun das Gesetz freiwillig empfangen hat, wohl wissend, daß er eine große und schwere Last auf seinen Nacken nahm, so hat er sie nur aufgenommen, damit er von den Plagen jenes unbestimmten und wüsten Zustandes befreit würde, wo er ohne feste Übereinkunft mit seinesgleichen doch immer rechtlos und schutzlos und also unglücklich war; er hat seinen Stand und seine Stände jegliches an seinen Ort gestellt, jedem seinen Kreis und Umfang gemessen, aus welchen sie nicht ungestraft herausspringen dürfen. So hat er sein Recht und seine Richtschnur gesucht und gefunden. Fichte sagt ganz folgerichtig: es giebt kein sogenanntes ursprüngliches Recht der Wilden und Ungebändigten, es giebt kein Recht vor dem Staat.

Da der Mensch den einzelnen Willen – ein hohes Gut, das er nur um höhere Güter aufgeben konnte – dreingegeben hat, so verlangt er unerbittlich und unabweislich, daß es keinen [251] einzigen Willen gebe, der über die Üebereinkuust hinaus oder gar gegen die Übereinkunft etwas vermöge. Er darf hier auch nicht die geringste Ausnahme zugestehen; denn was dem einen erlaubt und möglich wäre, müßte nach einem ganz giltigen Schlusse ja auch für Millionen erlaubt und möglich sein: wann der Damm erst für Bäche durchbrochen ist, wird er es auch für den Strom werden. Der dem Gesetz unterwürfige Mensch will demnach, daß alle dem Gesetze gehorchen sollen, daß der König! wie der Bettler die Majestät desselben anerkennen und ihr gehorchen soll. In diese Majestät des Gesetzes setzt er die eigentliche Freiheit. Wo aber nur die geringste Ausnahme ist, wo gelehrt werden darf, daß der Herrscher über dem Gesetze ist, da trifft er das Gebiet der Sklaverei an, wie mannigfaltig auch die Abstufungen von dem Besseren zum Schlechteren seien. Nach hundert Zufälligkeiten, nach der verschiedenen Beschaffenheit jedes Landes und der besondern Eigentümlichkeit jedes Volkes werden die Gesetze selbst, welche Menschen sich geben, die verschiedensten sein, strenger oder milder, vollkommener oder unvollkommener; doch wird darnach die Freiheit nicht gemessen, sondern nach dem allgemeinen Gehorsam, womit jedermann unter denselben gebunden ist. Und mit Recht halten die Menschen, welche sich auf Freiheit verstehen, den Staat besser und glücklicher, wo schlechten Gesetzen ohne Ausnahme gehorcht wird, als jene andern, wo Eigenmacht oder Mutwille gute Gesetze nur zuweilen überschreiten dürfen.

Der eigentliche Begriff politischer Freiheit ist also:Höchste und ausnahmlose Herrschaft des Gesetzes. Denn wo diese Herrschaft wirklich ist, kann der Bürger sein Leben so einrichten, daß er durch strengen Gehorsam nichts zu fürchten und sich vor keinem einzelnen Willen zu beugen hat, welche Beugung, selbst wenn sie innerhalb der Verbeugungen stehen bleibt, das bitterste Leid ist, welches einem stolzen und mutigen Herzen widerfahren kann. Außer dieser hohen [252] politischen Freiheit spricht man häufig noch von einer höheren, von der sogenannten geistigen Freiheit, und auch über diese muß hier wenigstens einiges gewinkt werden.

Die Guten und Redlichen, wann sie klagen, daß es auf dieser unvollkommenen Erde nicht so ist, wie es nach dem der Menschenbrust von Anbeginn eingepflanzten Bilde der Gerechtigkeit sein sollte; wann sie klagen, daß Habsucht, Schmeichelei, Lüge und Sklavensinn oft alle Gesetze umgehen oder durchbrechen; kurz wann sie klagen, daß der Mut und die Freiheit tot und der Eigennutz und die Knechtschaft recht lebendig sind, werden von vielen mit der Antwort abgewiesen: Ihr klaget thöricht. Wer kann dem Menschen die Freiheit nehmen? die Freiheit nämlich, welche allein diesen Namen verdient, die geistige Freiheit? Freilich die Teilnahme an den Gesetzen und an der Gesetzgebung kann der Despotismus euch abschneiden, auch das Sprechen kann er euch teuer machen durch Censuredikte und durch heimliche Späher, die mit dem Verdachte und der Anklage allenthalben lauschen, aber das Denken kann er euch nicht verbieten.

Auf diese oder auf eine ähnliche Weise hat man viele antworten gehört. Sie können mit einer solchen Antwort wohl die Person, aber nicht die Sache abfertigen; denn der gewöhnliche Spruch: Alles mag ein Tyrann den Menschen verbieten, nur nicht das Denken, dieses hat Gott freigelassen, hält nur bis zu einem gewissen Punkte Stich. Wir wissen, daß es bei dem sklavischesten Zustande der Gesellschaft einzelne große Wortklauber und Schriftgelehrte gegeben hat – solche sah man nach dem Untergange der griechischen Freiheit an den Despotenhöfen von Alexandria, Antiochia und Pergamus – aber das arme unterdrückte Volk dachte nicht mehr mit, und deswegen fehlte den Rednern, Weltweisen, Gelehrten und Künstlern jene erhabene Einfalt und kühne Würde und Hoheit der Seele, welche sterbliche Werke mit dem Zeichen der Gottähnlichkeit stempeln. Deswegen ist auch keine geistige Freiheit im höhern [253] Sinn, wo die politische Freiheit fehlt. So ist der Mensch einmal geboren, daß er äußern leiblichen Reiz haben muß, damit das innere Geistige in ihm lebendig werde und lebendig bleibe.

Also unsere Freiheit heißt Herrschaft des Gesetzes, damit ein würdiger Kampf sei für die Beschützung und Erhaltung des Gesetzes, damit alle durch die Teilnahme an dem öffentlichen Leben das Gesetz kennen und anerkennen, damit die Geister dadurch lebendig und frisch erhalten und gereizt werden zu jeder edlen Kühnheit und zu jedem schweren und unsterblichen Werke. Durch etwas Großes und Gemeinsames, was allen nahe liegt, müssen die Menschen zum Reden und zum Denken geweckt werden. Denn Reden und Denken ist eins, und wer das Sprechen verbietet, der verbietet auch das Denken, ja er verbietet das Reden; denn reden heißt mit Verstand und mit Gedanken sprechen. Die Lippe ist der Wetzstein des Geistes, über die Lippe muß der Gedanke oft hin- und herlaufen, damit er Glanz, Farbe und Gestalt gewinne. Ein im Innern verschlossener und durch Auflaurer und Späher zurückgescheuchter Gedanke ist eine Sonne und ein Blitz hinter düstern Wolken. Die Zunge muß gelöst werden, damit der Gedanke wärmen und leuchten könne; immer verschlossen erstarrt und erstirbt er allmählich. Der Tag bricht an und der Mensch spricht. Dies ist so sehr ein Wort und eine Bedeutung, daß die ganze schöne Welt Gottes wüst, tot, dumm und stumm wird, wenn beide nicht mehr hervorbrechen dürfen. Denn die Sprache ist die geistige Sonne auf Erden, und muß zuweilen auch der geistige Blitz sein.

Wir finden bei der Betrachtung dessen, was unter dem Worte Gleichheit verstanden und begriffen wird, daß die ursprüngliche Idee dieser Gleichheit dem menschlichen Gemüte so eingepflanzt ist, daß alle Menschen gleichen Genuß der Erde und der Freude haben müßten. So hat Gott dem Menschen sein Paradies gepflanzt, so sind die goldenen und [254] saturnischen Zeitalter einst gewesen und später nur als Fabeln der Dichter geglaubt worden, jene Zeitalter, wo die Menschen ohne Krankheit und schwere Sorgen und Arbeiten Jahrhunderte lang fortlebten, wo die wilden Leidenschaften der Habsucht und Wollust noch nicht wüteten, wo freundliche Güte und Milde vor Hader bewahrte, wo kein Totschlag und kein Krieg war, und wo die Lebenden glaubten, daß die Gestorbenen, weil sie noch so rein und glücklich waren, unmittelbar zu den Sitzen der Götter aufstiegen und von ihnen herab als Engel und Schutzgeister den späteren von jener Reinheit und Glückseligkeit immer mehr ausartenden Geschlechtern beiständen. Aber diese Gleichheit hat auf Erden nicht bewahrt werden können und ist auch nirgends mehr möglich zu machen. Für die Verständigen, welchen Narrheit und Verbrechen nicht gefallen, die aus so thörichtem Streben folgen müßten als das Streben nach solcher Gleichheit (Radikalismus) sein würde, hat die Gleichheit endlich den Begriff bekommen, daß das Gesetz, der Schirmer und Strafer, alle gleich richten soll. Obgleich dies nun so ist und wegen der Verhältnisse, Elemente, Anlagen und Triebe der Natur und des Menschen nicht anders sein kann, so sind doch vom Anbeginn der Geschichte große und weise Männer gewesen, welche darauf gesonnen haben, durch eine strenge und feste Gesetzgebung die Gleichheit des Besitzes und der Freude den Sterblichen so zuzuteilen, daß der Unterschied des Glücks und der Glücksgüter der Bewohner eines Landes nicht zu ungeheuer würde. Sie haben wenigstens eine Annäherung zu jener ursprünglichen Gleichheit gesucht, die jetzt eine idealische Gleichheit scheint. Sie waren zu weise Männer, als daß sie nicht begriffen hätten, daß die Ordnung der Natur, die man auch die Ordnung der Notwendigkeit nennen könnte, sich nicht willkürlich verrücken lasse; aber sie meinten, es lassen sich gegen die Gewalt des Zufalls und gegen die menschliche Willkür, damit sie sich nicht zu viel erlauben, durch das Gesetz eherne und unzerbrechliche Riegel vorschieben, [255] es lasse sich etwas setzen, wodurch Glück und Unglück gehindert würden, ein zu freches Würfelspiel mit den armen Sterblichen zu spielen: Die weisesten Völkerstifter und Gesetzgeber des Altertums haben ihre Staaten auf Ackergesetze gegründet. Das wußten sie, daß sie Natur und Glück nicht so binden konnten, daß der Geschwinde mit dem Lahmen, der Starke mit dem Schwachen, der Kluge mit dem Dummen, der Faule mit dem Fleißigen durchaus eine gleiche Bahn des Glücks laufen mußte; aber dahin haben sie gestrebt und das haben sie zum Teil erreicht, daß wenigstens ein großer Kern ihres Volkes durch die Verfassung selbst in einem gewissen tüchtigen und mittelmäßigen Zustande des ungefähr gleichen Wohlstandes erhalten wurde. Sie wollten vor allen Dingen dem Unglück vorbeugen, wodurch die Tugend und Herrlichkeit der Staaten endlich unvermeidlich untergehen muß, daß nicht einige Wenige durch Glück, Geschicklichkeit und Habsucht allen Landbesitz an sich rissen und die große Masse des Volks zu bloßen Knechten und Tagelöhnern dieser wenigen Reichen erniedrigt würde. Sie hatten hiebei zwei Dinge am meisten ins Auge gefaßt. Erstlich meinten sie – und welcher Verständige meint das nicht mit ihnen? – in den Klassen des Volks, die eine gesicherte mittelmäßige Wohlhabenheit haben, werde Tugend und Redlichkeit, um derenwillen doch jeder Staat gegründet gedacht werden soll, am reinsten und treuesten erhalten; und zweitens wußten sie, das Vaterland könne keine mutigeren und zuverlässigeren Verteidiger haben als diejenigen, welche Arbeit und Thätigkeit nicht in Weichlichkeit versinken ließen, und welche mit ihrem Vermögen an dem Lande so festgewurzelt säßen, daß sie in Zeit der Gefahr es nicht wie Wechsler und Lombarden einpacken und an sicherere Orte tragen könnten.

Ein großer Mann ist hier vor allen zuerst zu nennen, nämlich der Träger des Alten Testaments, der Seher und Mann Gottes Moses. Je mehr man das Werk seiner [256] Gesetzgebung betrachtet, desto mehr muß man seine tiefe Weisheit und seinen alle Verhältnisse der Gesellschaft umfassenden Blick bewundern. Der Staat, den Moses stiftete, war eine Theokratie, aber sehr fern von der Unterdrückung und Sklaverei. Der weise Gesetzgeber hatte das Land berechnet, das von den Kindern Israel erobert und besetzt werden sollte, und hatte in dieser Berechnung jedem Stamme nach seiner Volkszahl sein Gebiet zugeteilt. Aber weil sein Entwurf nicht ganz ausgeführt wurde; weil einige Stämme zu frühe zum Besitz des ihrigen kamen und sich bald der Ruhe und Faulheit überließen und den andern, die ihr volles Erbteil noch nicht hatten, mit den Waffen in der Hand nicht dazu halfen; weil unter den verschiedenen Stämmen auch bald Eifersucht und Nebenbuhlerei einriß; und weil auf Josua nicht sogleich ein kriegerischer Feldhauptmann des Volks folgte – so haben Moses große Gedanken und Entwürfe nimmer völlig zum Leben gelangen können, da der politische Staatsleib, worauf er bei seinem Entwurf gerechnet hatte, nimmer ganz fertig ward. Und deswegen ist der mosaische Staat früh zerspaltet, darauf wegen seiner Zwietracht, und weil er die Meeresküsten und den Libanon nach Moses Plan nicht erobert und eingenommen hatte, in den Kriegen neidischer Nachbarn und mächtiger fremder Eroberer Jahrhunderte lang hin- und hergeworfen, darauf unterjocht und zinsbar und endlich bald nach dem Anfange unserer Zeitrechnung gänzlich ausgelöscht worden.

In dieser mosaischen Gesetzgebung war der Stamm der Leviten, zu welchem der Mann Gottes selbst gehörte, ein mit vielen Vorrechten begabter und gleichsam adliger Stamm. Aber das übrige Volk war nicht vergessen. Moses hatte das ganze Land stammweise eingeteilt und jedem freien Obermann in jeder Familie war in jedem Stamm sein Los oder Erbe an Land zugeteilt worden. Dieses Los Land war unveräußerliches Staatslehen und mußte bei der Familie, der [257] es angewiesen war, von Geschlecht zu Geschlecht bleiben. Besonders aber lag das in dem Plane des Gesetzgebers, daß nicht mehrere Lose unter demselben Besitzer zusammenkommen und auf diese Weise eine zu große Ungleichheit des Landbesitzes entstehen sollte. Man kann dies alles in seinen Büchern von den Gesetzen und Ordnungen der verschiedenen Stände weiter nachlesen, vorzüglich aber ist das Buch Ruth darüber ein Kommentar mit stehenden Lettern. Wie sehr Moses Gesetzgebung überhaupt die Freiheit begünstigte, beweist nichts mehr als sein treffliches Gesetz von dem Halljahre, welches je alle fünfzig Jahre alle verpfändeten Grundstücke dem alten Besitzer wiedergab, und jenes andere Gesetz, welches denjenigen, der einem andern seine persönliche Freiheit verpflichtet oder verkauft hatte, in jedem siebenten Jahre wieder zum eigenen Herrn seines Leibes machte.

Die Verfassung von Kreta und die, wie die Alten uns erzählen, nach ihr gemodelte lykurgische Verfassung Spartas waren gleichfalls auf strenger Einteilung der Grundstücke unter eine dem Staate angemessene Zahl freier Bürger gegründet. Und Sparta stand gewaltig in seiner rauhen und freilich nicht liebenswürdigen Tugend, bis Habsucht, Üppigkeit und Gesetzesbruch nach Agesilaus die alte Ordnung ganz durchbrachen. Auch Athen und mehrere Staaten Großgriechenlands hatten Gesetze, die sich diesen annäherten. Die Alten fürchteten überhaupt das Zusammenhäufen großer Güter und Besitzungen in wenigen Familien als der Tugend und Freiheit der Bürger gefährlich: denn wo wenige Männer mit ungeheurem Reichtum sind, findet man gewöhnlich eine Menge blutarmer Menschen nach der Regel: die tiefsten Sümpfe unter den höchsten Bergen. Sie fürchteten mit Recht, es würde aus diesen ein Pöbel werden ohne Gefühl für Vaterland, Freiheit und Tugend, der weder fremden Angreifern noch einheimischen Vergewaltigern widerstehen könnte. Man kann ihnen hierin wohl nicht Unrecht geben. Auch haben mit diesen Gesetzgebern oder vielmehr [258] nach diesen Gesetzgebern die geistreichsten und edelsten Männer des Altertums, welche über Gesetze und Verfassungen geschrieben haben, allgemein den Grundsatz angenommen, daß der Staat, der wohl und gerecht geordnet und sicher gebaut heißen solle, gute Acker-und Feldgesetze haben müsse, d.h. solche, wo nicht zu große Grundstücke von einem einzigen besessen und mäßige Güter nicht in zu kleine Teile unter mehrere zerstückelt werden durften. Wie dieser große Gegenstand bei den Kämpfen zwischen den Patriciern und Plebejern in Rom weiland zur Sprache kam, und wie um die Verteilung der eroberten und dem Staate zinsbaren Ländereien oft blutig gestritten worden, und wie der Geiz der alten römischen Geschlechter, der sich das meiste und beste von diesen Staatsgütern mit eigenmächtiger Willkür zugeteilt hatte, die übrigen freien Bürger gar nicht zum Mitbesitz lassen wollte – darüber haben wir in Niebuhrs Römischer Geschichte durch die gründlichsten und lichtvollesten Untersuchungen zuerst Tag erhalten.

Bei den neueren Völkern finden wir die Verfassungen nirgends als ein fest ineinander greifendes und aus der Idee großartig zusammengebautes und zusammengehängtes Kunstwerk gegründet, wie dies bei Moses, Lykurgus und mehreren großen Gesetzgebern des Altertums offenbar der Fall war. Bei uns ist es eben geworden, wie es hat werden können, viele möchten sagen, wie der Zufall es gewollt hat. Dies letzte sagen wir aber nicht, obgleich wir nicht leugnen können, daß die neueren Völker, auch nachdem sie bessere Einsicht erlangt hatten, ßeh mehr als recht vom Ungefähr haben treiben lassen. In die Gesetze und Verfassungen der letzten fünfzehnhundert Jahre hat eine gewaltige Macht mit hineingewirkt, welche den Alten fehlte, die milde und menschliche Majestät des Christentums, welches vieles ergänzt hat und bis diesen Tag ergänzt, was Unvollständiges und Unzusammenhängendes darin sein mag, und welche die Wüstheit und Grausamkeit aller habsüchtigen Triebe der [259] menschlichen Natur im allgemeinen doch auf eine wundersame Weise gebrochen und gemildert hat. Wie diese himmlische und göttliche Kraft des Worts von der Liebe und Barmherzigkeit gleichsam als ein unmittelbarer Hauch und Atem von dem Herrn die Empfindung der ganzen Welt durchdrungen und alles mit einem zarteren und geistigeren Leben und Streben beseelt und die trotzige und stolze Tugend der Heiden zu Sanftmut und Demut gebeugt und zugleich die meisten Ansichten und Verhältnisse des Lebens und Staates verändert hat – was soll ich hier weitläuftig erzählen, was wir alle wissen, und wovon wir auch ohne Wissen schon innerlich überzeugt sind? Ich wiederhole hier nur, was ich anderswo öfter schon gesagt habe, daß die Staaten des Altertums, wie trefflich auch ihr Grundbau sein mochte, deswegen nicht viele Jahrhunderte überdauern konnten, weil sie von Anfang an einen Todeskeim des Gräuels und Verderbens in sich trugen, die Sklaverei, worauf als auf einem morschen Pfeiler die trotzige und oft grausame Freiheit der Freien mit ruhete. Durch dieses Grundübel gingen die meisten Staaten der Heidenzeit geschwinderen Schrittes zum Untergange, als sie gethan haben würden, wenn sie diese unselige Beimischung nicht gehabt hätten. Das Christentum hat freilich selten einen so stolzen politischen Schein von sich gestrahlt als jenes Heidentum, aber es hat die Völker und Staaten mit sanfterer und fast immer mit sichererer Hand geführt, und, indem es die Leidenschaften und Triebe der Menschen bändigte und zügelte, hat es oft auch die zu reißende Bewegung, ich möchte sagen den zu geschwinden Ablauf der Staatsmaschine auf gehalten.

Wie gesagt, die Verfassungen der neueren Staaten im Gegensatz gegen diejenigen Staaten des Altertums, deren Geschichte uns besonders anziehend und lehrreich ist, haben sich mehr so von selbst gemacht, was man gewöhnlich sich so von selbst machen nennt, als daß sie nach dem festen und in der Zusammensetzung seiner Teile genau abgemessenen [260] Entwurf eines Gesetzgebers gemacht wären. Bei einem solchen Sichselbstmachen zeigen die Völker am besten, was sie wert sind und was von ursprünglicher Anlage zur Freiheit und Gesetzlichkeit in ihnen ist. Unsre Vorfahren, die Germanen, offenbaren sich da von den Anfängen ihrer bekannten Geschichte als ein edles und freies Volk und als ein solches, das sich auch auf Einrichtungen für die Erhaltung der Freiheit verstand. Es geht ein gewisser Grundtypus für die Feld- und Ackerbauverhältnisse durch die Gesetzgebungen und Gebräuche der germanischen Stämme, welcher die freien Männer im Besitz ihrer Güter in einem gewissen Wohlstande zu bewahren mit Weisheit und Gerechtigkeit berechnet schien. Doch wurden allerdings auch unterworfene und leibeigene Leute beim Ackerbau gebraucht. In ruhigen Sitzen bewohnten sie das Land nach einem gewissen Gleichmaße des Ranges und der Bedürfnisse unter sich geteilt; doch so, daß alle den Fürsten und Vornehmsten, welchen sie im Kriege folgten, Ehrengeschenke gaben, und daß die Leibeigenen gegen Abgaben von Vieh und Getreide an die Freien Zinshöfe bewohnten, deren Grund nicht ihnen gehörte. Tacitus sagt uns ausdrücklich im 26. Kapitel seines Büchleins über Germanien, daß sie, wenn sie neue Stücke Land unter den Pflug nahmen, nach der Kopfzahl der Ackersleute und nach der Würde teilten 20. So ward bis zu einem gewissen Grade für eine billige Gleichheit des Besitzes gesorgt.

Auf die Weise, wie sie es daheim im eigenen Lande hielten, wann neues Ackerland unter Dorfschaften oder Gemeinden zu verteilen und anzuweisen war, hielten sie es späterhin auch, als sie im fünften und sechsten Jahrhundert [261] als Eroberer über die Donau und den Rhein gegen Süden und Westen oder auf Schiffen zu den Inseln zogen. Die Eroberer teilten die mit dem Schwert gewonnenen Länder und die Bewohner derselben unter sich, so daß von dem Fürsten bis zu dem untersten Freien, der ihm gefolgt war, jeder nach dem Maße seiner Ansprüche oder Bedürfnisse sein gebührliches Los erhielt. Diese Germanen aber arteten nun bald aus, weil sie in den alten Einwohnern der eroberten Länder zu viele und zu verschmitzte und verdorbene Sklaven bekamen. Wie das Gemüt dadurch verdorben ward, verlor auch die Freiheit ihre Kraft, die ohne Tugend nie besteht, und bald entwickelte sich eine eigentümliche Art eines unfreien Zustandes, wohin allmählich viele der Freien hinabgezogen wurden, und welcher von manchen Knechtschaft genannt worden ist. Dieser in vielen Abstufungen und oft mit den seltsamsten Verschiedenheiten ineinander verzweigte und verflochtene Zustand einer vielfältig gebundenen Unfreiheit hat den Namen Lehnwesen bekommen, auch wohl Vasallenwesen.

In dem eigentlichen Germanien, in dem Lande, welches wir jetzt Deutschland nennen, hatte sich in den Gegenden, wo fremde Völker entweder gar nicht oder doch nur eine gar kurze Zeit gehaust hatten, jene Einrichtung am besten erhalten, welche ursprüngliches Gefühl von Recht und natürliche Billigkeit bei der Verteilung der Ländereien gemacht hatten. Diese glücklichen Gegenden waren die Mitte der deutschen Lande und der Westen zwischen dem Rhein und der Elbe, jener glänzende Schauplatz der gewaltigen Römerkriege, aus welchen unsre Altvordern so siegreich geschieden waren. Was von Germanien jenseits der Elbe nordöstlich und jenseits der Elbe und des Fichtelberges östlich liegt, war von Wenden 21 (Slaven an der Küste) und Slaven sehr angefressen [262] und in seinen früheren Verhältnissen zerrüttet. Was über der Donau, zwischen Donau, Alpen und Adriatischem Meer lag, war zuerst von den Römern, dann von Slaven, Avaren, Magyaren hart mitgenommen und zerrüttet worden. Auch ist in den Ländern, wo die Slaven Jahrhunderte lang gehaust haben, und wo zum Teil noch bedeutende Reste von ihnen sitzen, die Freiheit der kleinen und mittleren Grundbesitzer nimmer wieder geworden, was die frühere germanische gewesen. Wenige kleine Freie sind dort übrig geblieben, oder haben sich dort später wieder erhoben; die meisten Bauern und bäuerlichen Menschen schmachteten da bis auf die letzten Zeiten entweder in einer armseligen Abhängigkeit oder gar in einer traurigen Leibeigenschaft – so sehr hatte der Sinn und die Art eines fremden Volks das Germanische zerstört oder verschlechtert. Die Länder, worauf ich hindeute, sind Krain, ein Teil von Steiermark, Kärnthen und Österreich, Mähren, Böhmen, Schlesien, die Lausitzen, die Marken jenseits der Elbe, Pommern und Mecklenburg.

Aber auch jene glücklicheren Gegenden Deutschlands in der Mitte und in dem Westen des Vaterlandes, welche ich vorher genannt habe, jene, welche nicht von fremdartigen Völkern überschwemmt worden, und welche keine Fremden zu unterjochen gehabt haben, konnten sich des Geistes der Verschlechterung und Verschlimmerung, des Geistes des Übels, nicht erwehren, welcher von den Nachkommen der alten ausgewanderten Germanen aus den südlichen von ihnen eingenommenen und germanisierten Ländern auf sie zurückwirkte. Hier müssen vor allen andern die Franken genannt werden, welche, nachdem sie Gallien erobert, die Westgoten fast ganz über die Pyrenäen getrieben und das Reich der Burgunder zerstört und sich unterworfen hatten, auch die alten Brüdervölker jenseits des Rheins ihre Macht fühlen ließen. Unter dem mächtigsten Frankenkönig aus dem Hause Pipins von Herstall, unter Karl dem Großen, wurde das [263] letzte unabhängige Germanenvolk, das große und mächtige Volk der Sachsen, nach einem dreißigjährigen blutigen Kampf mit dem weiten Frankenreiche verbunden. Zwar lösten sich nach Karls Tode die straffgezogenen und straffgehaltenen Zügel der Herrschaft unter seinen schwachen Nachkommen, die noch ein Jahrhundert nach ihm in Deutschland regierten, auch löste sich Deutschland (das Land diesseits der Alpen, Ardennen und Vogesen) selbst von dem zu weiten Frankenreiche und ward ein eigner Staat für sich; aber seine Schicksale die nächsten anderthalb Jahrhunderte waren unlustig unter schwachen und ohnmächtigen Herrschern und unter Einfällen und Verheerungen wilder und roher Völker, welche von Osten und Norden es zu erschüttern und verwüsten kamen. Und so viel hatten in ein paar Jahrhunderten der Verbindung die Art und Einrichtung des Frankenstaates und Befehl und Beispiel gewirkt, nebst neuen Weltverhältnissen und veränderter Staats- und Kriegsordnung, bei der großen Not der Zeiten und den langen und entfernten Feldzügen, daß die Freiheit der kleinen und mittleren Grundbesitzer, die man, wie man will, freie Bauern oder kleine Edelleute nennen kann, und worauf Germaniens alte Freiheit und Wehrhaftigkeit gegründet gestanden hatte, mehr und mehr unterdrückt und gebunden ward. Es hatte sich das fränkische Lehnwesen eingeschlichen, wenige kleine Männer waren freigeblieben zu einer Zeit, wo so viele Mächtige unfrei werden mußten; eine mehr oder weniger fesselnde und drückende Abhängigkeit oder Hörigkeit, die von der schlimmsten Leibeigenschaft bis zur leidlichen Pflichtigkeit hundert verschiedene Stufen, Arten und Namen hatte, umfaßte die Enkel des Volkes, dessen Sendeboten, wie einige dafür halten, jenem Alexander von Macedonien gesagt hatten, daß es sich nur fürchte, wenn der Himmel einfalle.

Also Beispiel fränkischer Ordnung und romanisierter Gallier, Not und Krieg und auch Brauch und Gewohnheit flochten und nieteten dieses wunderliche Wesen zusammen.

[264] Gewiß sind manche Herrenhöfe oder sogenannte Oberhöfe, wo die Unterworfenen später Dienst leisten, gewisse Abgaben bezahlen und Recht suchen mußten, früher nur Mittelpunkte der Versammlungen freier Männer in ihren Feld- und Gemeindeangelegenheiten gewesen. Die Freien trugen für die Zeit, wo diese Versammlungen bestanden, Lebensmittel (Butter, Käse, Schinken, Würste, Hühner, Eier etc.) dahin zusammen für die gemeinsamen Gelage und Ausrichtungen. Was auf diese Weise ganz freiwillig und willkürlich gewesen, ward durch Gewohnheit im Laufe des Jahrhunderts Schuldigkeit: aus dem Besitzer eines solchen Hofes ist endlich ein Gerichts- und Oberherr geworden. Wir finden die Andeutung, daß es mit manchen Oberhöfen bei den westfälischen Sachsen sich wohl so gemacht haben mag, in dem englischen Worte Landl ord, welches zugleich einen Gutsherrn und einen Gastwirt auf dem Lande bezeichnet. Auch in Schweden sind noch heute in einigen Landschaften dieselben Höfe Landgastwirts- und Postwirts- und Landgerichtshöfe.

Mehrere Jahrhunderte lag der größere Teil der kleinen Landbewohner, die Bauern tief in Abhängigkeit versunken und an manchen Orten des Vaterlandes in unwürdiger und jammervoller Sklaverei. Diese Unterdrückten, diese armen Leute, wie die Rechtlosen genannt wurden, waren nicht bloß Abkömmlinge jener Leibeigenen, die schon zu Cäsars und Tacitus Zeiten in Germanien bestanden, sondern es waren auch die Enkel solcher Männer darunter, die unter Ariovist, Arminius und Wittekind als die Freiesten und Besten gegen die Knechtschaft gefochten hatten. Ihre schlimmste Zeit war die vom neunten bis zum zwölften Jahrhundert. Seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts wirkten viele Weltverhältnisse und Begebenheiten zur Milderung ihres Joches; viele arbeiteten sich in den folgenden Jahrhunderten wieder zu einem leidlichen und menschlicheren Zustand durch; doch hingen die meisten bis ins neunzehnte Jahrhundert, in dieses laufende Jahrhundert, hinein noch von mancherlei [265] Banden des Lehnwesens umstrickt. Die letzten Jahrzehnte haben diese Bande in den meisten Gegenden des Vaterlandes nicht eben sanft aufgelöst, sondern gewaltsam zerrissen; es giebt jetzt nicht viele der Lande mehr, wo das Lehnwesen noch in seiner Fülle blüht.

Man sagt und man liest in hundert Büchern, das wunderliche und vielgestaltige und schwerbeschreibliche Ding, welches man später Lehnwesen nannte, sei eine ganz natürliche Entwickelung gewesen aus den Kennen, die in der ältesten deutschen Verfassung lagen, nichts anderes als eine weitere Ausbildung des Gefolges, wo ein tapferer Fürst oder Edeling sich durch seine Großthaten eine Menge kampflustiger Freien nachzog, welche Schirm, Ehre und Beute bei ihm suchten, und deren Enkel späterhin ganz natürlich seine Vasallen und Mannen wurden. So weit läßt es sich allerdings erklären; aber wie ein solches Verhältnis oder wie nur das Beispiel oder Gleichbild eines solchen Verhältnisses in späteren Zeiten die Menschen, welche weiland frei waren, fast bis zur allgemeinen und schändlichen Knechtschaft herabdrücken und herabwürdigen konnte oder vielmehr durfte, das begreift man daraus wahrlich nicht; und da man es nicht begreift, so hat man recht es nicht zu glauben, bis darüber bessere Beweise beigebracht werden als die sind, welche man gewöhnlich dafür anführt. Denn ein solches Gefolg wie das von Tacitus beschriebene findet sich fast bei allen nicht sklavischen Völkern der Erde, wenn sie ungefähr auf der Stufe der menschlichen und politischen Bildung stehen, worauf unsre Vorfahren der ersten christlichen Jahrhunderte standen. Ich muß hingegen nach meiner geschichtlichen Ansicht durchaus behaupten, daß das Lehnwesen, welches in seinen Anfängen ein arges Unwesen und auch in unserer Zeit eben noch kein liebenswürdiges Wesen gewesen ist, sich aus der Mischung des Germanischen und Romanischen gebildet hat. Frankreich, Italien, Hispanien – das sind die Länder, wo es groß gewiegt worden. Von dorther ist es [266] uns und andern germanischen Völkern als ein Übel eingeimpft worden. Ich führe meinen Beweis.

Schweden und Norwegen sind echte germanische Länder, die Schweden und Normänner sind echte Germanen, wenn man einige hie und da zerstreute Finnen ausnimmt, die aber in der Masse der beiden Völker ein unbedeutendstes Teilchen ausmachen. Die Schweden und Normänner haben in früherer Zeit auch den germanischen Comitatus gehabt zu Wasser und zu Lande: tapfere und freie Männer hatten sich dem Befehle tapferer Führer in allen Gefahren auf Not und Tod untergestellt; große Tugend, Klugheit und Herrscherkraft haben die Menschen hier gezogen, wie sie dieselben in der ganzen Welt ziehen: so weit ist an den nordischen Fjäll und am Mälare und an der gotischen Elbe der Germane seinem Bruder an der Weser und am Rhein gleich gewesen. Aber Schweden und Norwegen haben bis auf diesen Tag nur einzelne dünne, aus der Fremde hergebrachte, Spuren vom Lehnwesen gehabt. Diese Länder sind sehr lange in der echten germanischen Art und Weise geblieben. Die Grundstücke waren unter freie Männer zu gleichem Recht verteilt und von freien Männern bebaut; Leibeigene, sogenannte der Erdscholle Angewachsene und Angefesselte, welche das Land bebauten, hat es dort nicht gegeben, wenn sie gleich in frühesten Zeiten eigentliche Haussklaven auch wohl mitunter bei der Feldbestellung mitgebraucht haben mögen. Bauern, die auf Adels- oder Krongütern wohnten und in Geld oder in Erzeugnissen des Bodens oder in Diensten ihren Zins abtrugen, sind von jeher bis auf diesen Tag als freie Pächter angesehen, die nach aufgekündigtem Vertrage ziehen können, wohin sie wollen. Freilich haben Schwedens Könige seit Magnus Scheunenschloß, der am Ausgange des dreizehnten Jahrhunderts lebte, eine Art Adel zu schaffen angefangen nach dem Muster des deutschen Adels, wovon seit jener Zeit viele als Söldner nach dem Norden kamen, und spätere Herrscher haben diesen Adel weiter ausgestempelt, [267] auch den adligen Hauptgütern oder Herrensitzen zum Nachteile der kleinen Freien gewisse Vorrechte und Steuerfreiheiten bewilligt; aber nimmer hat der schwedische Adel leibeigene Bauern oder abhängige hörige Lehnbauern unter sich gehabt, und ein guter Teil jener Vorrechte und Steuerfreiheiten, die er sich gegen Schwedens Gesetze unter schwachen Regenten erschlichen hatte, hat er in dem letzten halben Jahrhundert durchstreichen lassen müssen. Ich kehre immer mit einer frohen Erinnerung nach dem Norden zurück, wenn ich über die künftigen Schicksale der Völker und über das Glück oder Unglück der Länder nachdenke, welche durch die verschiedenen Verhältnisse der Stände und Klassen zu einander, und, wie mir deucht, recht sehr durch die gehörige Verteilung des Grundes und Bodens bestimmt werden. Schweden und Norwegen gehören in dieser Beziehung zu den glücklichsten Ländern Europas, wo die uralten germanischen Bauern, die freien Männer, welche sich nicht schlechter hielten als die Edlen, und, weil sie frei waren, Edle waren und blieben, noch in zahlreicher Menge in glücklicher und zufriedener Mittelmäßigkeit nebeneinander auf mäßigen Gütern wohnen und die menschlichen Tugenden in ihrer Einfalt und Echtheit pflegen und erhalten. Wenn weise Gesetze, damit Willkür und Habsucht nicht auch hier zu ihrer Zeit wüten und zerstören, einmal befestigen, was Glück und Tugend des Volks Jahrtausende erhalten haben, eine Verteilung des Grundbesitzes in den meisten Landschaften, worauf Familien sich in Rechtschaffenheit und Ehrbarkeit behaupten können, so mögen diese Länder kommenden Zeiten getrost entgegengehen.

Dänemark liegt Deutschland näher. Auch seine stolze Baurenfreiheit war seit dem zwölften, dreizehnten Jahrhundert größtenteils verschwunden; nachher hat es wie Deutschland lange einen fast unterdrückten Baurenstand und eine fast sklavische Leibeigenschaft gehabt. Dieses Unglück hatte es über den Sund getragen in die Landschaften, welche es [268] einst von Schweden abgerissen beherrschte. Noch sind in Schonen Spuren genug, daß der Adel dort einst mehr Herr sein durfte, und der Bauer mehr Knecht sein mußte als dies je in Schweden stattfand. Weil aber der Bauer in Schweden und Norwegen nie als ein von Natur zum Dienen geborner Mensch angesehen, sondern immer als ein freier Mann geehrt worden ist, so wundert sich in den Ländern niemand, wenn eines Bauers Sohn Minister, Feldherr oder Landshauptmann heißt; selbst in der Periode Schwedens, wo der Adel über die übrigen Stände fast alle Gewalt an sich gerissen hatte, von dem Jahre 1720 bis zum Jahre 1772, gab es Reichsräte und Herrlichkeiten, deren Väter Bauern gewesen. Wie viele würden in Deutschland vor Erstaunen außer sich sein und glauben, der jüngste Tag sei da, wenn solches oft erlebt würde!

England ist ein zweiter großer Beweis. Es hielt sich in seiner eigentümlichen deutschen oder sächsischen Freiheit und Unabhängigkeit der kleineren Grundbesitzer und Bauern bis auf die zweite Hälfte des elften Jahrhunderts, bis auf Wilhelm von der Normandie, den Eroberer. Ich lege hierauf ein großes Gewicht. Gewöhnlich behauptet man, mit der Entwickelung der Verfassung und der Verfeinerung des Lebens habe sich das Lehnwesen aus dem alten germanischen Gefolge ohne weiteres Zuthun wie von sich selbst ausbilden müssen. Nun kann man nachweisen, daß Britannien schon im siebenten, achten Jahrhundert in Hinsicht der Verfassung, der Sittenverfeinerung, der Religion und Gelehrsamkeit wenigstens so gebildet war, als Deutschland im neunten und zehnten Jahrhundert, und doch findet sich dort damals noch nichts vom Lehnwesen, sondern wenige adlige Männer wohnten unter dem allgemeinen Volksgesetze, welches König Alfred im neunten Jahrhundert neu sammelte und ordnete, mit einer Menge kleiner und mittlerer Freien zusammen, die auf ihren Ländereien so sehr Herren waren, als jene auf den ihrigen; von einem Lehnbande, welches später häufig [269] ein Lehnstrick ward, ist in der englischen Geschichte vor Wilhelm von der Normandie auch keine Spur, sondern die freien Sachsen und Angeln, die nach der Mitte des fünften Jahrhunderts in Britannien eingedrungen waren, hatten das eroberte Land so verteilt und bewohnten es unter denselben Verhältnissen, unter welchen sie weiland an den jenseitigen Küsten Germaniens und um die Ems, Weser und Elbe gewohnt hatten. Die Normannen, welche aus einem Lande stammten, wo die größtmögliche persönliche Freiheit und Gleichheit herrschte, hatten in der Landschaft, die sie an der Nordküste Frankreichs eingenommen, bald die nordische Freiheit verloren und durch das Beispiel der benachbarten Franken, ihrer Besiegten, verführt, die Knechtschaft des Lehnwesens angenommen. Wilhelm der Normann, als er das große Unternehmen gegen England zurüstete, begriff leicht, daß es den Kräften, die er in seinem Lande aufbieten konnte, weit überlegen war. Er machte es wie alle Eroberer, er lud eine Menge Waghälse und Abenteurer auf die Hoffnung der Beute und der Länder ein, die er ihnen auf der schönen Insel zeigte; und solche Abenteurer strömten in Scharen herbei und schwellten sein Heer, aus Frankreich, Flandern, Brabant und allen Nachbarlanden, zu welchen der Ruf des großen Zuges gelangen konnte. Wilhelm gewann im Jahr 1066 die Schlacht bei Hastings und behandelte England wie ein erobertes Land und die Engländer wie seine Sklaven. Er mußte denen, die ihn zu einem so mächtigen Könige gemacht hatten, sein Versprechen halten und Land und Leute unter sie verteilen. Diese Epoche ist der Anfang einer drückenden Lehnherrschaft in England. Das freigesinnte Volk der Angeln, Sachsen und Friesen verstand wohl, sich in den folgenden Jahrhunderten von dem Druck des königlichen Despotismus zu befreien und auch den aristokratischen Druck der Herren und Ritter euvas zu lüften, aber jener herrliche Zustand der früheren Zeit, wo Dreiviertel aller Grundstücke in England mittelmäßigen Freien gehörten, jener Schweden [270] und Norwegen ähnliche Zustand, ist in England nimmer wieder hergestellt. Der einmal zerstörte freie Bauerstand hat in der Folge seine Zahl und also seine alte Bedeutsamkeit und Wichtigkeit im Staate nie wiedergewonnen. Die Kirche, die Reichen und der hohe Adel besitzen jetzt fast alle Grundstücke in England.

Man könnte hiebei auch an Schottland denken. Der Süden Schottlands bis an das Hochgebirge, so wie ein Teil der nördlichsten gegen Schottlands Grenzen sich streckenden Landschaften Englands ist in den stürmischen Jahrhunderten, wo die nordischen Wikingar, die auch wohl Seeräuber heißen, ihre Züge gegen Westen und Süden machten, nach und nach von Normännern (Männer aus Norwegen, Dänemark und Schweden) besetzt und bevölkert worden, die freilich mit Nachkommen der Sachsen vielfach gemischt wohnten. Dies wissen wir aus der Geschichte, und wenn wir es nicht aus der Geschichte wüßten, so sind davon bis auf den heutigen Tag noch Spuren und Denkmäler genug in Grabhügeln, Sagen, Sitten, Art und Sprache der Einwohner; und das sprechendste und unzerstörbarste Zeugnis und Denkmal dafür finden wir in der Dichtkunst dieser Gegenden, in den Romanzen und Balladen des Mittelalters, worin ein von dem südbritannischen ganz verschiedener hochnordischer Geist weht. Diese Gegend ward, wie die Normandie von Frankreich, von dem nahen England zur Verähnlichung in Sprache, Sitten und Einrichtungen hingezogen; es entstand hier auch durch die Nachbarschaft und das Beispiel und die Stammverwandtschaft fast ganz dasselbe Lehnwesen, welches die französischen Normannen nach England gebracht hatten. In Nordschottland, besonders in dem nordwestlichen Teil, dessen meiste Bewohner gälischen Stammes sind, bestand ein patriarchalisches oberherrliches Wesen der Abhängigkeit, das nicht wie das Lehnwesen durch bestimmte Formen und Gesetze, sondern durch Herkommen und Sitte getragen ward: bei mildem Charakter des Oberherrn vielleicht der Freiheit nahe, bei [271] hartem Gemüte desselben wenig von Knechtschaft verschieden; nur daß der rauhe und strenge Himmel, der die Leiber stählt, die Unterworfenen nicht so elendig und nichtswürdig werden ließ, wie jeder Sklave in weicheren Klimaten notwendig werden muß. Wir werden dieses Verhältnis weiter unten noch berühren.

Uns deucht es also die höchste selbst durch die Geschichte nachgewiesene Wahrscheinlichkeit, daß das Lehnwesen aus den Resten alter Knechtschaft hervorgegangen ist, welche die Franken, Longobarden, Sveven und Westgoten in den von ihnen eroberten und germanisierten Ländern fanden, in welchen sie allmählich neue Staaten ausbildeten. Und nun wollen wir noch etwas aussprechen, was ganz in das Gebiet dieser unserer politischen Fragen und Untersuchungen fällt: die Römer haben in jene Lande nicht bloß die Knechtschaft gebracht, sie haben sie dort schon gefunden. Bei den Galliern wenigstens bestand eine traurige und drückende Lehnknechtschaft, als sie von den Römern bezwungen wurden. Es gab bei ihnen damals nur Fürsten und Adel und Halbfreie und Sklaven; volle Freie, ein starker und unbezwinglicher Kern des Volkes waren nicht mehr da. Auch in Spanien scheint ein ähnlicher Zustand gewesen zu sein, als nach dem zweiten punischen Kriege die Römer anfingen, diejenigen zu Sklaven zu machen, welche sie vorher Bundesgenossen genannt hatten. Fürsten, Adel und Volk waren durch eine Art trauriges Lehnwesen zerspaltet und konnten keine gemeinsame Kraft bilden. Es fehlte jenen Ländern der Kern eines freien Mittelstandes, ohne welchen kein Land wirkliche Stärke hat; darum wurden sie so leicht die Beute der Römer. Sie waren damals ungefähr in dem Zustande, worin die Franzosen und Deutschen im neunten und zehnten Jahrhundert standen, als sie von Slaven, Normännern und Magyaren überritten und geplündert wurden; ihre Mannskraft, ihre große Wehrmannschaft war zerstört oder zerstückelt. Da mußten die Enkel [272] der Männer, die 80000, ja 100000 Mann der kriegsgeübtesten Römerheere aus dem Felde geschlagen hatten, sich von 15000 und 20000 Normännern, ihren Stammgenossen, ungestraft verheeren und ausplündern lassen, weil diese noch das waren, was die Ahnherren weiland von jenen, freie und auf ihre Freiheit stolze und zuversichtliche Männer. Wir hören, wie Cäsar dieses gallische Verhältnis zwischen dem Adel und den sogenannten Freien beschreibt, und wir müßten blind sein, wenn wir darin nicht den Zustand erblicken wollten, wie er sich im sechsten, siebenten Jahrhundert in Frankreich und im achten, neunten Jahrhundert in Deutschland von der alten Freiheit zur Lehnsabhängigkeit entwickelt hat. So lautet es bei ihm Buch 6, Kap. 13 und 15:

»In ganz Gallien sind zwei Menschenklassen, wel che einiges Ansehen und Ehre genießen, nämlich die Druiden und die Ritter (Priester und Adel). Denn das Volk (plebs) wird fast wie Sklaven geachtet; es unternimmt durch sich nichts und wird zu keiner Versammlung gezogen. Sehr viele, wann sie von Schulden oder von der Größe der Auflagen oder von dem Übermut der Mächtigen bedrängt werden, geben sich den Adligen in die Knechtschaft; diesen stehen gegen sie alle dieselben Rechte zu, wie den Herren gegen die Sklaven. – Die Ritter, wann Aufforderung dazu oder irgend ein Krieg eintritt (was vor Cäsars Ankunft fast alljährlich zu geschehen pflegte, daß sie einander in Angr isss- oder Verteidigungskriegen befehdeten), tummeln sich alle im Kriege um. Und wie jeglicher durch Geschlecht und Reichtum der stattlichste ist, hat er die meisten Ambakten (Dienstleute) und Schützlinge um sich.«

In diesen wenigen Worten liest man die Geschichte der Art und der Entstehung der Lehnsabhängigkeit, man liest, durch welche Umstände freie Männer mehr oder weniger Knechte werden. Das kann man bestimmt sagen, hätte Germanien im ersten Jahrhundert der Geburt unsers Erlösers eine Verfassung gehabt, wie es sie später im neunten [273] und zehnten Jahrhundert hatte, Männer wie Drusus, Tiberius und Germanikus würden es von dem Rhein und der Donau bis an die Ostsee und jenseits der Karpathen leicht besiegt haben; wir würden eine andre europäische Geschichte haben.

Das fällt einem bei diesem Hinundherschweifen auf dem unendlichen und unergründlichen Meere der Völker und Jahrhunderte und ihrer Begebenheiten und Schicksale gleichsam von selbst in die Hände, daß von allen germanischen Volksstämmen die Sachsen und die den Sachsen verwandtesten am festesten und hartnäckigsten an der Freiheit gehalten und diese Freiheit in verständigen und weisen Einrichtungen entwickelt und ausgebaut haben. Ich nenne nur die Kriege gegen Augustus und Tiberius im Anfange unserer Zeitrechnung, welche größtenteils von den Völkern geführt wurden, die sich später Sachsen nannten; ich nenne nur solche, die durch wirkliche Abstammung und durch die Sprachähnlichkeit sich als ihre Blutsfreunde beurkunden: die Niederländer, die Friesen, die Engländer, Schweden, Norweger, Ditmarsen, Siebenbürgen – welche alle sich von jeher durch Streben zu Freiheit und Gesetzlichkeit ausgezeichnet haben. Ich bemerke bei dieser einfachen Angabe jedoch, daß ich hier ununtersucht lassen will, wie viel Landesbeschaffenheit, Örtlichkeit und Himmelstrich zur Hervorbringung dieser merkwürdigen und großartigen Erscheinung bei diesem Stamme und bei seinen verwandten Stämmen mitgewirkt haben können. Auch das muß ich schließlich noch andeuten, daß sich in wenigen Landschaften des Vaterlandes so viele und so große Bauerschaften erhalten haben als in dem rechten Kern des Sachsenlandes, in Westphalen, welche zugleich in ihrer Bauart und in ihrem Wesen uns oft jenes älteste Bild vorzustellen scheinen, welches Tacitus vor siebzehnhundert Jahren von unsern Vorfahren aufgestellt hat.

Wir sind auf diesem Gebiete auf manchen Nebenwegen und Fußpfaden bisher hin und her geirrt, ehe wir zu der breiten großen Straße gelangten, wohin wir eigentlich wollten. [274] Jetzt sind wir darauf und nun können wir kurz und grade darauf fortgehen.

Ich weiß, es wird nicht an solchen fehlen, die mit einer gewissen Erbitterung sagen werden, ich sei ein Feind des Adels und des Lehnwesens insgemein und habe es durch diese Darstellung von neuem bewiesen. Ich muß mir das gefallen lassen. Ich will klar bekennen, daß mir das Lehnwesen kein erfreulicher Zustand der Menschen deucht, daß ich mir viel bessere Zustände der bürgerlichen Gesellschaft denken kann, daß ich selbst bei unsern Stammverwandten, den Schweden und Normännern, in Epochen der Entwickelung, die den unsrigen ähnlich waren, mit Freuden diesen Zustand nicht gefunden habe. Aber persönliche Erbitterung spricht hierin gar nicht, sondern bloß das natürliche Menschengefühl, daß ein Zustand, der durch Gesetze verteidigt wird, glücklicher ist als der jenige, den fremde Willkür verschlimmern oder verbessern darf. Wie könnte ich auch ergrimmen über etwas, das sich in der Geschichte der meisten Völker findet, vorzüglich in den Zeiten, wo die politische Gesellschaft und die verschiedenen Klassen des Volks zwischen alter Rohheit und neuer Bildung und Entwickelung hin- und herschwanken? Aber wie sollte ich loben, was tausend Mißbräuche und Frevel in sich getragen hat und in sich trägt, und was in einer Zeit, wo jeder von dem Gesetze sein billiges und gleiches Recht verlangt, nicht mehr bestehen kann? Wir dürfen nie behaupten, daß dieses wunderliche Staatsverhältnis an sich je ein gutes und gerechtes Verhältnis gewesen sei – die Geschichte stellt gegen solche Behauptung zu viele Zeugen auf – wir können nur sagen, daß es bei gutmütigen und rechtlichen Völkern, wie z.B. die Deutschen sind, die Hilflosigkeit und Rechtlosigkeit der Abhängigen und Unterdrückten nie so schreiend gezeigt hat, als bei vielen andern; und doch oft schreiend genug.

Wenn ich mich so erkläre gegen einen Zustand, der zur Zeit seiner Entstehung vielleicht unvermeidlich und notwendig [275] war, der alle Klassen und alle Stände des Volks, die Hohen wie die Niedrigen umfaßte und band, der aber am schwersten auf die Untersten drückte und sie in den meisten Ländern bis zu leibeigenen und hörigen Knechten erniedrigte, so will ich ehrlich gestehen, daß mir das neue und neueste Wesen auch nicht gefällt, wo man nicht allein die Personen frei läßt und von ungebührlichen Zwängen und Banden löset – was recht ist – sondern wo man Land und Häuser und Güter und Gewerbe, gleichsam als wäre die ganze Welt ein liederliches Spielhaus, dem Würfelspiele des Zufalls preisgiebt; was dumm ist. Dieses neue Wesen, weil die Franzosen mit ihrer großen Umwälzung die Anfänger und fast die Urheber desselben sind, könnte man das französische Wesen oder Unwesen nennen. Es deucht mir ein Unwesen, und ich will es denn ein Unwesen nennen, weil es durch die Leichtigkeit des Wechsels der Besitze den größten irdischen Schwerpunkt im Staate aufhebt, der ihm als Ballast so notwendig ist, damit er in Gefahren nicht von jedem kleinsten Winde umgeworfen werde, und weil es eben durch diese ewigen Wechsel den Menschen nichts Festes und Bleibendes zeigt, ihre Liebe und Treue an nichts Festes bindet und sie selbst auf diese Weise leichtfertig und wankelmütig macht. Also, daß mir diese neue Freiheit, wie sie einigen deucht, eben nicht besser gefällt als die alte Gebundenheit.

Hören wir einmal, wie einige, welche das Alte preisen, das Neue, was wir eben mit dem Namen das französische Neue getauft haben, tadeln und das Alte loben. Sie sagen:

Gott selbst, der Weise und Fromme, trägt die Natur nur durch ein Gesetz der Abhängigkeit; die höchsten Zwecke und Ziele derselben werden nur dadurch erreicht, daß eines dem andern untergestellt ist. Nur durch Dienst wird das All erhalten, der Gehorsam ist die höchste Idee der Freiheit, d.h. der Gottähnlichkeit und der Gottgefälligkeit. Dieses Gesetz der ganzen Natur geht auch auf die menschliche Gesellschaft über; denn der Mensch ist gleichsam der geistige [276] Abdruck, das geistige Bild der Natur: er stellt in sich alle Triebe, Neigungen, Verschiedenheiten, Ähnlichkeiten und Ordnungen derselben mit Bewußtsein dar, er macht das große und allgemeine Naturgesetz gleichsam zu einem sich selbst erkennenden und wissenden Gesetze. Daher die verschiedenen Ordnungen der Gesellschaft, und daher der Staat der naturgemäßeste, sittlichste und vollkommenste Staat, in welchem die verschiedenen Stände nicht nebeneinander, sondern untereinander gestellt sind. Das Lehnsverhältnis war ein solches von der Natur selbst gegebenes und gebotenes Verhältnis, es war ursprünglich nicht ein Verhältnis der Abhängigkeit, sondern des Schutzes. Auf dem Lande, wo dieses Verhältnis am meisten gefühlt wird, wohnen, wie auch in der Stadt, zwei Arten Menschen: Reiche und Arme, Vornehme und Geringe, Gebildete und Ungebildete, Adel und Bauern – die einen zum Befehlen und Regieren, die andern zum Gehorchen und Dienen bequem. Schon ihr Zustand bildet von selbst, man möchte sagen von Natur, ein wechselseitiges Verhältnis der Herrschaft und der Abhängigkeit. Der Reichere, Vornehmere, Gebildetere ist der geborne Helfer, Schützer und Rater des Ärmeren, Geringeren und Ungebildeteren. Aus Dankbarkeit leistet dieser ihm Dienst für Dienst, gesteht ihm freiwillig gewisse Leistungen, Abgaben und Huldigungen zu, kurz er erkennt seine Abhängigkeit als ein Glück und eine Wohlthat. Daß seine Person an einen gewissen festen Ort gebunden ist, macht ihn still und sittlich, und beschränkt Wünsche und Begierden, welche ihn, einen ungeschickten und ungebildeten Menschen, nur wüst und unglücklich machen würden. Daß er auf der einen Seite seine Kräfte nicht, wie ihm gefällt oder einfällt, für sich gebrauchen und für sich nicht immer die möglich größten Zinsen tragen lassen kann, daß ein Teil seiner Kräfte und seines Vermögens sogar von dem Schirmherrn abhängt, der den freiesten Gebrauch derselben einschränken darf, hält ihn auf der andern Seite von vielen thörichten Unternehmungen ab, wobei sein [277] Wohlstand und seine Sittlichkeit gleich große Gefahr laufen würden. Und laß diesen Zwang der Abhängigkeit zuweilen sogar drückend sein, in wie vielen Fällen ist er des beschränkten Mannes Glück! Er hat einen politischen Halt und Schirm, er hat in Not und Verlegenheit einen treuen und zuverlässigen Hort, den lange und liebe Gewohnheit durch viele Geschlechter mit ihm und seinem Schicksal verbindet und dessen eigener Vorteil ihn auffordert, seinen Mann nicht verderben zu lassen. Auf diese Weise ist dieses Verhältnis zwar ein herrliches und oberherrliches, auf der andern aber mehr ein patriarchalisches und verwandtschaftliches Verhältnis. Sie fühlen in so vielen Fällen und durch so viele Erinnerungen und innige Verflechtungen, welche sie verbinden, durch gemeinschaftliche Nöten, die ihre Vorfahren miteinander bestanden, durch gegenseitige Dienste und Wohlthaten, die sie einander gethan, häufig etwas, was weit über das Gefühl des Herrn und des Knechts hinaus liegt: sie fühlen etwas Menschlicheres und Höheres, das man gleichsam eine edlere Blutsfreundschaft nennen möchte. Und wenn gleich einige Lehnherren und Schirmherren gegen ihre Unterworfenen und Hörigen hie und da härter und strenger als recht gewesen sind und das natürlichste und freundlichste Verhältnis in ein unmenschliches und despotisches verwandelt haben, so soll man einzelne Frevel und Gräuel, welche von der menschlichen Gebrechlichkeit überhaupt unzertrennlich sind, nicht als eine notwendige Folge des Lehnsverhältnisses hinstellen. Kurz, dieses Verhältnis hat für die Sitten und den Wohlstand der niedrigeren Klassen und für die Ruhe und das Wohlsein des Staats die wohlthätigsten Folgen gehabt. – Nun aber die beliebte und belobte französische Freilassung?!

Es klingt so lustig das Wort für den kleinen Besitzer und für den Bauer: »Juchhe! jetzt sind wir des Edelmanns Gleiche! keine Patrimonialgerichte, keine Leistungen, keine Frohnen, keine Zehnden mehr, [278] jeder in seine ursprünglichen Menschenrechte eingesetzt, alle künftig mit einem Maße gemessen und über einem Kamm geschoren.« Wie sollte eine so lustige, wohllautende und schmeichelhafte Lehre der leicht bethörlichen und verblendlichen Menge nicht gefallen, welcher Advokaten und Schwindler so leicht einbilden können, jede noch so billige Abhängigkeit sei eine Unterdrückung und jedes wohlbegründete Recht auf sie eine hinterlistige Beschleichung und Überdrängung? Und was erfolgt bei der völligen Freilassung der Personen und bei der Befreiung der Güter? Wir wollen nicht in Abrede stellen, daß einige dieselbe zur Verbesserung ihres Wohlstandes zu gebrauchen verstehen; aber die Menge geht offenbar in Sittlichkeit und Wohlstand zurück, wie sehr der äußere Schein auch das Gegenteil zu bezeugen scheint. Wir haben es ja an mehr als einem Orte gesehen, wo alle höhere Aufsicht über diese unmündigen Menschen, alle Beschränkung ihrer sogenannten Freiheit von ihnen genommen ist, wohin es sie getrieben hat. Zwar mehr Thätigkeit und Gerührigkeit hat sich bald gezeigt, auch wohl mehr Gewandtheit und Geschicklichkeit hin und wieder entwickelt, aber wo ist der stille und fromme deutsche Bauersinn und endlich auch, wo ist der alte Wohlstand geblieben? die alte unstörbare Sicherheit des Besitzes? Denn hat das unruhig und gescheit gemachte Geschlecht durch größere Gerührigkeit und Umsicht auch in manchen Gegenden gegen das Frühere das Doppelte hervorbringen und gewinnen gelernt, so hat es noch häufiger das Dreifache verthun gelernt, und der gepriesene erhöhete Wohlstand, der aus dem neuen glücklicheren Zustand hervorgegangen sein soll, ist nur ein barer blanker Schein und nichts weiter. Denn sehr wenige aus diesen unteren Klassen der Staatsgesellschaft sind so mäßig oder gescheit, daß sie ihr Glück selbst zu verwalten und zu erhalten verstehen. Das schon ist sehr schlimm für die Sitten und für den Charakter des Landmanns, daß die Güter nun ungehindert von einer Hand in die andere gehen [279] können; schlimmer ist das, daß kein Aufseher, Hüter und Schirmer da ist. Juden und Judengenossen geben Anleihen darauf und setzen sich in den ganzen oder halben Besitz. Stirbt ein Besitzer auch im Wohlstande und hinterlässet mehrere Kinder, so teilen sich diese in das Gütchen oder die Hufe, oder sie bleiben auch in Gesamtwirtschaft dar auf sitzen und wirtschaften sich auf einem Grundstücke an den Bettelstab, auf welchem vor zehn oder zwanzig Jahren ein durch Unterthänigkeit und Lehnbeschränkungen gebundener Hufner in sicherer geborgener Mittelmäßigkeit lebte. So verschwindet endlich ganz die alte Einfalt, Frömmigkeit, Treue und Ruhe des deutschen Bauers; er wird klug, schlau, thätig, auf geschwinden Gewinn grübelnd und diesen Gewinn geschwind wieder verthuend, bei der Wandelbarkeit des Besitzes an keinen festen Ort, an keine festen Gewohnheiten und Sitten geknüpft, endlich ein Mensch ohne Heimat, unstet an Trieben, unstet in Gesinnung, leichtfertig und vagabundisch.

Ein solcher ist euer deutscher Bauer vom jüngsten Gepräge, euer französisch erlöster und gelöster Bauer. Das Einzige, was bei dieser ganzen vornehmen Bauerfreiheit, bei dieser sogenannten Wiedereinsetzung der Unterdrückten in die ihnen entrissenen Menschenrechte, bei der Wandelbarkeit der Güter und bei ihrer Zerteilung und Zerstückelung herauskommt, ist vielleicht, daß mehr Menschen gezeugt werden – eine Plusmacherei, welcher verständige Staatsverwalter lange die gebührliche Schätzung gegeben haben. Wer einen Staat nicht gleich einem Taubenschlag oder Hühnerstall schätzt, weiß, daß wenige gute und wohlhabende Menschen ihm mehr wert sind als viele schlechte und bettelische. Ein ordentlicher Staatsrechner sollte bei der Volkszählung die Bettler nicht nur von der ganzen Summe der Volksmenge abziehen, sondern am jeden Bettler wenigstens noch ein Drittel Seelen Deficit rechnen; sodaß, wenn ein Staat z.B. eine halbe Million Bettler hätte, diese 500000 Seelen nicht nur nicht mitgezählt, sondern außer [280] ihnen noch 1666662/3 Seelen abgezogen werden müßten; welches von dem Ganzen einen Abzug von 6666662/3 Seelen geben würde. Die Bettlerzahl selbst würde sich ergeben durch Zusammenrechnung der Bettlerbrüche zu ganzen Zahlen oder zu vollen Bettlerseelen, und man würde bei dieser seinen Staatsrechnung die Bettlerwürde nach Sechzehntel-, Achtel-, Viertel-, Drittel-Bettlern bestimmen, so daß der Mensch, der ein Viertel weniger hervorbringt, als er verzehrt, ein Viertelbettler, der aber die Hälfte weniger, ein Halbbettler genannt werden würde. In Staaten, wo ungeheure und unmäßige Reichtümer einzelner und die Zerstörung der kleinen Grundbesitzer die Menge des Pöbels und der Bettler auf eine erschreckende Weise vermehren, wie z.B. in Großbritannien, wird bei einer Bettlertaxe, welche Summen beträgt, wovon ein ganzes Reich getragen werden könnte, 22 wohl so gerechnet werden müssen. Darum soll jeder Staat bei allem, was er thut, wohl zusehen. Nichts ist leichter als ein Volk von Bettlern und Streunern machen, aber nichts ist schwerer als diese wieder in ordentliche und fleißige Menschen zu verwandeln. Wir könnten uns durch unweise Einrichtungen gleich den Briten mit Bettlern überladen, aber sie zu füttern möchte uns so leicht nicht werden als ihnen, und totschlagen dürfen wir sie nun einmal doch nicht.

Auf diese Gründe, die nicht ganz ohne Grund sind, und auf diese Darstellungen, die teils ihre gute Wahrheit und auch teils ihren guten Schein haben, und die man ungefähr auf diese oder doch auf ähnliche Weise in Gesprächen und Büchern herumtragen hört, muß ich einiges zur Antwort sagen, indem ich mich zuerst gegen den Lobredner des Lehnwesens überhaupt äußere, dann zweitens mich über die sogenannte neue oder französische Bauernfreiheit erkläre. So zwischen zwei entgegengesetzte einander feindselige Punkte [281] gestellt möchte man vielleicht am ersten eine Mitte finden, die von der Wahrheit nicht zu fern läge.

Natürlich, ja der natürlichste soll der Zustand und das Verhältnis der Lehnsabhängigkeit sein, allen Frieden, alle Sitte, allen Wohlstand, alle Treue und Rechtlichkeit in sich haltend; wie der Weise zu dem Unweisen, der Starke zu dem Schwachen, der Mündige zu dem Unmündigen, ja wie der Vater zu dem Kinde – so in Rat, That, Fürsorge, Liebe und Freundlichkeit steht der Schirmherr zu dem Vasallen, der Herr zu seinem Hörigen; es ist das natürlichste, menschlichste, patriarchalischeste Verhältnis, dessen Zwang und Schranke für den Gezwungenen und Beschränkten nur wohlthätig. Also stellt man es uns auf.

Wenn das Verhältnis immer ein solches wäre und sein könnte, so würden wir es allerdings für das größte Unglück der Gesellschaft erklären müssen, wenn es jemals anfgehoben würde. Aber man kann gegen diese Schilderung ein Gegenbild halten, wo sie etwas anders ausfallen muß. Wir wollen zur Ehre der menschlichen Natur glauben, ja wir wissen es zur Ehre der menschlichen Natur, daß es Lehnherren und Schirmherren, ja Leibherren gegeben hat, welche wahre Väter ihrer untergebenen und hörigen Leute gewesen sind, tapfere, fromme und gerechte Patriarchen, welche die unter ihrem Schirm Stehenden wie eine Familie Gottes verwalteten und gebrauchten. Aber wenn wir die Geschichte und Erfahrung fragen, so werden uns der Frevel und Gräuel, welche die Willkür sich gegen die hörigen und leibeigenen Leute erlaubt hat, leider zu viele erzählt: Frevel und Gräuel der Gewalt, der Habsucht, Wollust und Grausamkeit, daß uns schaudern würde, wenn ich sie hier aufzählen sollte. Die Urkunden und Chroniken des Mittelalters wimmeln davon, und selbst in jüngeren fehlt es davon an Belegen nicht. Zwar war das Lehnsverhältnis in seinen Arten und Stufen das mannigfaltigste und verschiedenste; [282] von der drückendsten Leibeigenschaft bis zur leidlichen Zinspflichtigkeit und Hörigkeit war ein unendlicher Weg – aber wir wissen aus uns selbst und aus dem täglichen Gefühle unsrer sündlichen Natur, daß die Herrschsucht der süßeste Trieb ist, daß die meisten unsers Geschlechts die Willkür schlimm gebrauchen, wenn sie von der Gewalt des Gesetzes nicht zurückgehalten werden; und wir wissen auch, daß alle unklare und unbestimmte Verhältnisse von der Willkür gemißbraucht werden.

Der Mensch, wenn Leidenschaften und Habsucht ihn nicht aus der Ruhe der Besonnenheit herausreißen, wenn er still und heiter ist, strahlt in seinen Gefühlen und Gedanken immer noch den Spiegel der Freundlichkeit, Frömmigkeit und Gerechtigkeit von sich; es ist ihm so natürlich, an das Gute und Gerechte zu glauben, auch wenn er selbst nicht immer gut und gerecht ist. Daher glauben wir so gern mit einer menschlichen Täuschung, der Mensch und die Erde waren nicht bloß in jener frühesten Zeit, sondern auch zu den Zeiten unserer Urgroßväter und Großväter viel glücklicher und besser als jetzt. Wenn wir jetzt auch sehen, wie wilde Leidenschaften und Gelüste das Recht durchbrechen und das Glück zerstören, so nehmen wir so gern an, daß es vor fünfzig oder hundertfünfzig Jahren so ganz anders war, daß die Menschen einfältiger und frommer und bei geringeren Bedürfnissen und schwächeren Reizen zum Bösen und Ungerechten als jetzt da sind, freundlicher und barmherziger waren. O der schöne Glaube! aber leider ist es wahr: von hundert Menschen, welche Willkür haben, werden fünfundneunzig sie immer mißbrauchen. So ist es schon zu den Zeiten unserer Bäter gewesen, was wir aus Geschichten und Gesetzen jener vergangenen Jahrhunderte darthun können. Freilich ist das Verhältnis unbestimmter Herrschaft und Dienstbarkeit in dem Maße schlimmer geworden, wie mit der wachsenden Entwickelung der Gesellschaft auch die Bedürfnisse der Menschen vermehrt und ihre Leidenschaften mehr[283] gereizt und gestachelt sind. – Ich habe früher oft reizende Schilderungen gelesen von den Verhältnissen der schottischen Schirmherren und ihres Gebietes; sie sind mir wie rechte Patriarchen erschienen und ihre Untergebenen wie ebensoviele Kinder und Kindeskinder, die gern unter dem freundlichen Vater und Großvater standen. Der schottische Laird ist der Herr, der Richter, Beschützer und Vater des Klans, er ist das Haupt einer großen Familie, deren Kleinster und Ärmster doch sein Kind ist und nimmer von ihm gemißhandelt, verstoßen und verlassen werden kann; denn er führt ja seinen Namen, und niemand entehrt doch gern sein Geschlecht. Wenn der geborne Herr, wie die Verteidiger des Lehnwesens uns sagen, seine Unterthanen lieben lernt durch eine Verbindung, welche schon seit undenklichen Zeiten zwischen den beiderseitigen Vorfahren bestand, wenn die Gewohnheit dieser Verbindung endlich eine Art Verwandtschaft und Rücksichten dieser Verwandtschaft erzeugt, so muß er, dessen Namen seine Leute und Mannen führen, mit ihnen in ein wahrhaft väterliches Verhältnis kommen: es muß das Gefühl einer Blutsfreundschaft entstehen, wo der eine sich als Vater und die andern sich als Kinder fühlen. So meinen wir gern, weil wir Gerechtigkeit und Tugend von Natur lieben. Aber gar anders steht auch hier die Wirklichkeit. Die schottischen Lairds waren vor ein paar Jahrhunderten bei roherer und genügsamerer Einfalt der Sitten vielleicht freundlichere und mildere Herren als ihre jetzigen Urenkel. Jetzt muß man die Klagen der edleren Britten und die Berichte der Reisenden hören, welche in dem letzten Halbjahrhundert Nordschottland und die westlichen und nördlichen Inseln besucht und sich um das Schicksal ihrer Bewohner bekümmert haben. Die Herren bringen in London, in den Bädern, bei den Wettrennen, in den schönen Südländern jenseits des Meers ihre Zeit und ihr Vermögen in Üppigkeit durch, und Rentmeister und Verwalter sind die herzlosen Stellvertreter des Patriarchen des Klans; jedes Jahrzehend bringt [284] neue Plackereien und erhöheten Pachtzins der Ländereien, die als des Lairds Eigentum betrachtet werden; ja die Inhaber werden auch wohl von den kleinen Höfen abgetrieben, um spanischen Schafherden, deren Wolle mehr einbringt, Platz zu machen, und dem Druck und der bittern Armut zu entfliehen segeln jährlich Tausende in einen andern Weltteil, wo sie wenigstens keine solche patriarchalische Schutzherrschaft zu fürchten haben.

So bist du, o Mensch, und so bin ich Mensch, so sind die meisten unsers Geschlechts, daß es im Staate nimmer wohl bestellt steht, wenn das mit Beilen und Ruten bewaffnete und um das Scepter des Herrschers geflochtene Gesetz das ungeschriebene Gesetz in unsrer Brust, welches uns von selbst alle Pflichten der Menschlichkeit zu üben befiehlt, nicht ergänzt und verstärkt. Ich habe eben gesagt, daß es was Schönes und Erhebendes ist um den poetischen Glauben, der immer unwillkürlich aus unserm Innersten hervordringt, als sei in den Zeiten vor uns alles glücklicher, besser und gerechter gewesen. Außer diesem poetischen Glauben, der in der Brust des Königs wie des Tagelöhners wohnt und ein mattes Bild des hellen Urbildes der Gottheit ist, giebt es einen andern poetischen Glauben, den poetischen Glauben der Poeten selbst, den Glauben der Dichter, der uns ebenso heilig ist als jener erste.

Wir haben das hohe und heilige Bild einer europäischen Ritterschaft, von welcher uns das Mittelalter so schöne Muster zeigt. Die Dichter, deren Leben in der Vergangenheit und in der Zukunft ist, und die sich die Gegenwart, selbst wenn sie schlecht und armselig ist, gern mit einem verhüllenden, ja mit einem verschönernden Schleier bedecken, haben recht, wenn sie die edelsten und hehrsten Gestalten der Vorzeit vor die Augen der Mit- und Nachwelt stellen, ja sie würden eine Sünde begehen, wenn sie anders thäten. Was Wunder nun, wenn sie uns einen rechten frommen, tapfern, [285] milden und christlichen Ritter malen, wenn sie uns ihn auch in seinem Verhältnisse zu seinen Leuten und Hörigen als einen über das Gewöhnliche und Gemeine weit hinausschreitenden, mit christlichem Ernst und christlicher Liebe alles umfassenden und haltenden Mann zeigen? was Wunder, wenn wir uns daraus ein noch reizenderes Ideal im Hintergrunde unsers Herzens bilden und meinen, es könne für das Glück und den Frieden der Gesellschaft und für die Sittlichkeit und das Glück des kleinen Volkes unmöglich eine trefflichere Einrichtung geben als diejenige, welche die Bauern und die kleineren auf dem Lande wohnenden und gewerbenden Menschen unter eine solche beschützende und bewahrende Schirmherrschaft und Obhut stellte? Daß wir uns ein so herrliches und menschliches Bild jener Vergangenheit, wo die Ritter ohne Furcht und Tadel lebten, entwerfen können, ist schön; auch das ist verzeihlich, daß viele die gedichtete Herrlichkeit in allen ihren Teilen sich zu einer geschichtlichen Herrlichkeit machen und fest überzeugt sind, es sei das Lehnverhältnis im Mittelalter wirklich ein so hoch menschliches und ritterliches Verhältnis gewesen. Aber die Dritten, welche trocken den Beweis führen wollen, es sei wenigstens diesem Bilde ein ähnliches, es sei beinahe ein solches Verhältnis gewesen, müssen wir, weil sie sich den Schein geben, aus der Geschichte zu sprechen, mit der Geschichte selbst widerlegen. Es hat solche Ritter gegeben, wie die hohen Bilder, welche die Dichter uns aufstellen, und ich bekenne mit Freuden, es giebt noch solche; aber sie sind immer selten gewesen, und sind auch heute noch sehr ungewöhnliche Vögel. Frevel gegen die Abhängigkeit und Dienstbarkeit habe ih mehr gesehen als Wohlthaten derselben, obgleich mir auch einzelne solche Schirmherren und Lehnherren begegnet sind, weichen ich ohne alles Gesetz die Seelen und Leiber von Hunderttausenden ganz hörig übergeben würde mit der festen Zuversicht, sie würden unter solcher Pflege und Hut nur glücklicher und besser werden. Ich nenne dich hier, ehrwürdiger[286] Greis, General von Dyke 23 auf Rügen, Priester, Vater, Patriarch der Deinigen, ohne daß ich weiß, ob diese Worte je zu dir kommen werden; ich nenne dich, trefflichsten aller schwedischen Bürger, Freiherr Friedrich Maclean, Vater und Schöpfer von 200 Bauerhöfen und von 2000 glücklichen Menschen. Aber weil die weisen, frommen und christlichen Ritter nimmer die Mehrzahl der Herren ausgemacht haben, so wollen wir lieber das allgemeine Gesetz haben als die einzelne Willkür.

Die Art, wie die neue Baurenfreiheit, die einige auch die französische Baurenfreiheit zu nennen belieben, sich in vielen Gegenden, wo man Frankreichs Beispiele vielleicht zu nahe gefolgt ist, gemacht hat, kann demjenigen unmöglich gefallen, der einen Begriff vom Recht hat und der den geschichtlichen Weg kennt, auf welchem viele Rechte und Verbindlichkeiten entstanden sind. Mochten immerhin manche Verhältnisse der Herrschaft und des Dienstes entweder der Idee des Staates überhaupt oder der Entwickelung der Staatsgesellschaft, wie sie nun ist, widersprechend und nicht mehr angemessen sein, immer mußte eine Ausgleichung der Rechte, eine billige Ablösung und Abfindung stattfinden; man durfte den Knoten nicht so zerhauen, der doch nicht allenthalben ein gordischer Knoten war und der sich meistens sanfter hätte lösen lassen. Man hat bei der Heftigkeit und Geschwindigkeit, womit man zugegriffen hat, dem einen Teile wahrlich nicht immer gegeben, was man dem andern Teile genommen hat: oft haben beide Teile dabei verloren. Und das ist der größte und schlimmste Verlust, wenn man das Volk gewöhnt, daß ohne Form Rechtens Recht gestiftet werden kann. Welche Folgen für Sittlichkeit und Glück der kleinen Landbesitzer[287] und des Staates überhaupt die Leichtigkeit des Wechsels des Besitzes, die Veräußerlichkeit und Wandelbarkeit aller Grundstücke und die Erlaubnis, mit ihnen zu schalten und zu walten, wie jedem gefällt, haben müssen, ist oben angedeutet und wahrlich nicht mit Übertreibung; so daß wir darin ganz der Meinung der Verteidiger des alten Lehn-. systems, ja selbst einer drückenden Hörigkeit sein müssen und mit ihnen bekennen, daß es das Gefährlichste ist, wenn der Staat den Landbesitz und seinen Wechsel so ganz dem Zufall und der Willkür überläßt. Die Personen müssen frei sein, aber wenn Stöcke und Steine und Wälder und Berge aus einer Hand in die andere hin-und herfliegen wie Federn im Winde, wenn selbst das Festeste beweglich und flüchtig wird, dann bleibt bei dem Menschen auch in dem nichts mehr fest, was die Gesetze unerschütterlich machen sollten, wie die ewigen alten Berge Gottes, in der Gesinnung und in der Liebe. Die beiden Stände aber, welche diese Kernkraft eines Volkes am einfältigsten und innigsten bewahren, sind auf dem Lande die Bauern und in der Stadt die Handwerker. Diese aber verlieren alle festhaltende Gediegenheit und alle sittliche Haltung, wenn man auf dem Lande die Hufen und Höfe des Bauers leicht veräußerlich, wechslich und teilbar macht, und wenn man durch die Auflösung der Zünfte und die Einführung der belobten allgemeinen Gewerbefreiheit die letzte alte Strenge und Zucht der Handwerke durchbricht. Man kann einem im verblendeten Freiheitsschwindel hintaumelnden Zeitalter nicht genug sagen, daß nicht alles Freiheit ist, was den Schein und Namen davon hat.

Aber um das Rechte einzurichten und zu erschaffen, dazu bedarf es weder Hörigkeit noch Leibeigenschaft, welche der Willkür und Ungerechtigkeit häufig Thür und Thor geöffnet und einen Teil der Landbewohner in Spartaner, den andern in Heloten verwandelt haben, sondern der Staat kann einen Weg gehen, den die Zeit ihm sehr gebahnt hat, er [288] kann durch ihr angemessene Einrichtungen den Zufall und die Willkür einschränken, welche, wenn man sie frei schalten läßt, zuletzt Natur, Land und Menschen verderben – er kann sich zum Oberlehnsherrn und ein festes Gesetz zum Lehnrichter machen; denn dem Gesetze sollen alle hörig und leibeigen sein. Ich sage mit vielen andern, die es mit dem Vaterlande redlich meinen: Gott gebe uns bald die Männer, welche diesen höchstwichtigen Gegenstand einmal mosaisch und lykurgisch ins Auge fassen und dann festhalten!

Wir haben oben ungefähr gesehen, was die Gesetzgeber des Altertums mit ihren Ackergesetzen wollten. Sie wollten die zu große Wandelbarkeit des Landbesitzes hemmen; sie wollten auch hindern, daß nicht zu große und zu kleine Güter und Höfe entstünden; sie wollten die zu große Zerstückelung und Zerschlagung der Grundstücke hindern: weil in beiden für die unteren Volksklassen das Verderben der Armut und Sittenlosigkeit liegt, welche der besitzlosen und heimatlosen Armut immer auf dem Fuße folgen. Das bezweckten sie damit, daß sie durch ihre Gesetzgebung viele Landbewohner mit mittelmäßigem Vermögen schufen, und daß Tugend und Wehrhaftigkeit bei dem Volke nicht ausstürben. Solche Einrichtungen als diese durch Gesetze befestigten machen sich in den Anfängen der Gesellschaft bei freien Völkern oft von selbst, gleichsam durch einen Instinkt der Vernunft und der Tugend, welcher Instinkt ein Instinkt angeborner Billigkeit und Gerechtigkeit ist. Auch unsere Altvordern hatten das Land so unter sich geteilt, wie oben erwähnt ist, und hatten dabei recht sehr an die Wehrlichkeit der Menschen gedacht und an die Verteidigung des Vaterlandes. Die Hufe eines freien Mannes und der Mann selbst trugen deswegen mit der Waffe einerlei Namen; die hieß die Wehr, weil ein bewehrter Mann von ihr ausziehen sollte. Dieses Wort ist in den westlichen und nordwestlichen Landschaften Deutschlands bis auf den heutigen Tag geblieben. Man fragt nach dem Tode eines Bauers:[289] Wer von den Kindern hat die Wehr bekommen? man fragt: Ist das Gut wohl in der Wehr? d.h. ist Vieh, Saat, Feldgerät, Feldbestellung, wie sie sein sollen? Und wer weiß nicht aus Erfahrung, ja wer fühlt nicht, wenn er an seine eigne Brust klopft, daß in Nöten und Gefahren das Vaterland am sichersten auf diejenigen rechnet, welche Besitz haben, seien sie Edelleute, Bauern oder Bürger? Wen aber Häuser und Äcker nicht festhalten, der mag seine leichte Habe und sein leichtes Herz wohl anderswohin tragen und sich bald einbilden, es sei auch da ein Vaterland. Vor allen aber sind viele freie Bauern die rechte Stütze, ja der rechte Eckpfeiler eines Staats, nicht nur weil sie auf das innigste an die Erhaltung des Vaterlandes geknüpft sind, sondern auch weil ihre Arbeiten und Geschäfte Leibesstärke und frischen Naturmut nähren, wodurch der rechte tüchtige Kriegsmann wird.

Ich habe Länder gelobt und werde sie je und je loben, wo über die Hälfte, ja wo oft Zweidrittel aller Grundstücke unter mittelmäßige Besitzer verteilt sind, wo viele freie Bauern wohnen. Wer Schweden, Norwegen, Ditmarsen, Ostfriesland, die Grafschaft Mark, das Havelland und das Herzogtum Magdeburg gesehen hat, fühlt und weiß, warum ich sie lobe. Der Mensch, welcher weiß, was die Herrlichkeit eines Staates ist, fährt mit einem unbehaglichen Gefühle durch die schimmernden adligen Herrensitze hin, die aus zerstörten Bauerdörfern 24 aufgeführt sind, und auf welchen Haufen wandernder Tagelöhner und Lohnknechte in kümmerlichen Katen zusammengepreßt wohnen. Auch wird er nicht geblendet durch den vergänglichen Glanz und Reichtum, welchen Fabriken geben, die auf gewisse Weise immer einen Teil des Menschengeschlechts leiblich und geistig verderben.[290] Ihn kann allein das Bleibende freuen, das durch die Zeiten dauert: die bleibende Tugend und das bleibende Glück. Diese sieht er nirgends so befestigt als bei dem freien Bauer, der mit mittelmäßigem Vermögen seinen eignen Acker pflügt. Die Länder, wo wenige Menschen im Besitz ungeheurer Reichtümer endlich fast alle Grundstücke ihr Eigentum und fast alle Landbewohner ihre Pächter, Tagelöhner und Knechte nennen, und auch die, wo eine übertriebene Verteilung und Zerstückelung der Hufen herrscht, mangeln des tapfern gediegenen Kerns eines Volks und werden auf die Länge nicht würdig und glorreich bestehen können.

Wir wollen einmal England betrachten. Dieses große Land schimmert durch seine Macht, seine Freiheit und seine Reichtümer über ganz Europa, ja über die ganze weite Erde hin als eine bewunderte Erscheinung, aber wahrlich es steht drinnen nicht so glücklich als sein Glanz nach außen fällt. Fast aller kleine und mittlere Landbesitz (die Yeomanry) ist in den meisten Landschaften verschwunden, und die Großen und Reichen besitzen das Land und ihre Pächter bebauen es. Auch offenbart sich hier, welche Folgen die zu große Ungleichheit des Vermögens, besonders in so fern sie die kleinen Besitzer verschlingt, und ein die Welt umfassendes Fabrikwesen hat. Wie viele Strecken Land in England, worauf glückliche Bauern wohnen, und wovon reiche Ernten in die Scheunen gebracht werden könnten, hat die durch kein Gesetz eingeschränkte Laune der Großen in Wildbahnen und Tiergärten verwandelt! welch' eine Überschwemmung von Bettlern aus dieser Verdrängung der geringen Leute vom Grundbesitz, aus diesem mächtigen Fabrikwesen! Jetzt trägt sich dies alles noch einigermaßen, weil England über den Handel und über die Schätze der Welt gebietet; aber Weltumwälzungen und vorzüglich Handelsumwälzungen können kommen – und sie sind vielleicht nicht so fern, als manche glauben – wodurch die Engländer mehr auf sich selbst zurückgeworfen und zurückgewiesen werden: dann werben sie [291] die Verwirrung und Regellosigkeit der Verhältnisse und die Furchtbarkeit des Übels, das sie jetzt verkleistern und versalben, aber nicht heilen können 25, in ihrer ganzen Häßlichkeit erblicken.

In unserm Vaterlande, in Deutschland, sind wir so weit noch nicht, am wenigsten ist uns jetzt der Reichtum gefährlich. Doch sind Landschaften, wo das alte Verhältnis der Hörigkeit und Leibeigenschaft, über dem und über dessen Mißbräuchen die Regenten nicht immer die gehörige Hut und Wache hielten, die Bauern zu sehr zerstört hat. In andern Landschaften möchte sie durch die sogenannte französische Freiheit untergehen, kraft welcher sie – was früher durch mancherlei Bande gebunden war – verkaufen, vertauschen, verpfänden, versetzen, ja zersetzen und zerstückeln dürfen, wie ihnen beliebt; so daß jetzt Krämer und Juden und Judengenossen zum Besitz von Hufen und Höfen gelangen oder diese Höfe auch unter drei oder sechs Teilhaber und Erben zerteilt und zerstückelt werden können. Also daß durch eine übel verstandene Freiheit das Verhältnis des Grundbesitzes, welches ein festes und ehrbares Verhältnis sein sollte, ein krämerliches und jüdisches und fast vagabundisches Verhältnis wird.

Solche Übel nun, welche die Staatsgesellschaft in ihren edelsten Teilen angreifen und verletzen, müssen abgewendet werden und können abgewendet werden durch eine weise Gesetzgebung, welche den Staat nicht wie ein kolleriges Pferd von dem lieben Ungefähr und Zufall, die oft auch den Koller haben, zu Tode reiten läßt, sondern welche ohne Rücksichten auf die Bedürfnisse und Vorteile des Augenblicks allein das Bleibende und Notwendige sucht.

Das Land und der Landbesitz dürfen nicht freigelassen [292] werden wie die Personen. Das haben alle Gesetzgeber gefühlt, die sich auf ihr großes Werk verstanden. Der Mensch, der in sehr entwickelten und verwickelten Zuständen der politischen Gesellschaft die Ordnung der Natur und also auch die Ordnung der Gesellschaft verkehrt, muß der zu großen Willkür, die endlich einem baren Zufall gleich wird, ein Maß und ein Ziel setzen. Er muß Ackergesetze geben; der Bauer und kleine Grundbesitzer muß ein unmittelbarer Lehnmaun, er muß der Hörige des Staats werden.

Das haben wir genug angedeutet und bewiesen, daß es auf die Länge nur in solchen Ländern wohl stehen kann, in welchen die Hälfte, wo nicht Zweidrittel der Grundstücke von Bauern oder kleinen bauerähnlichen Besitzern besessen und bewohnt werden. Wo dieses Verhältnis ungefähr noch besteht, da hat der Staat nichts weiter zu thun, als es durch verständige Gesetze zu befestigen und zu erhalten; wo es aber durch Sorglosigkeit der Regierungen oder durch Mißbräuche einer zügellosen Freiheit verrückt oder gar zerstört ist, da muß man es wiederherstellen. Zu dieser Wiederherstellung könnten in den Ländern, wo das ordentliche Verhältnis aufgehoben ist, die öffentlichen Staatsgüter angewandt werden, die man Krongüter oder Domänen nennt. Ich will sagen, wie. Ich kann die Sache durch ein wirkliches Beispiel erklären.

In dem ehemaligen Schwedischen Pommern und Rügen, welches jetzt mit dem preußischen Staat verbunden ist, waren durch einen Mißbrauch der adligen oder städtischen Herrenrechte die meisten Bauerdörfer zerstört und in große Güter von 600 bis 2000 Scheffel (Berliner Maß) jährlicher Aussaat verwandelt. Gustav der Vierte Adolf König von Schweden, damals Oberherr jenes Landes, ein Herr, dessen wechselvollen und verhängnisvollen Schicksalen meine Augen immer mit Mitleid folgen werden, weil er die Gerechtigkeit [293] und das kleine Volk liebte, hatte in seinem Vaterlande zu viel Baurenglück und Baurenfreiheit gesehen, als daß er den Unterschied zwischen diesseits und jenseits des Wassers nicht hätte fühlen sollen. Diese Landschaft, vorzüglich Pommern, hatte viele und große Krongüter, zum Teil von dem eben angegebenen Maße Aussaat. Diese beschloß der König, welcher sah, wie wenig Bauern hier noch übrig waren, nach und nach in mehrere kleine Teile zu zerschneiden und auf längern Jahrespacht oder auf Erbpacht an einzelne Landbauern auszuthun. Dieser Entwurf war nun freilich unvollkommen, weil er keine vollkommenen Landbesitzer, sonoern nur Landgenießer machte, aber es war doch ein Entwurf, der aus dem Gefühle entsprang, daß neben den großen Besitzern auch kleine und mittelmäßige Landbesitzer wohnen sollten.

Auf eine ähnliche Art würde ich, wenn ich die Macht hätte ein Macher zu sein, es mit den Krongütern machen, wo solche noch sind. Ich würde sie nämlich nach den Örtlichkeiten und nach ihrer verschiedenen Lage und Fruchtbarkeit zu Gütchen von einer, zwei bis drei Hufen Land einteilen; aber ich würde sie nicht auf Zeitpacht oder Erbpacht weggeben, sondern sie ordentlich verkaufen, aber unter folgenden Bedingungen:

1) Diese Güter würden gleichsam Lehen des Staats. Sie gehörten freilich dem Käufer und seinen Erben eigentümlich, aber folgende Bedingungen und Verpflichtungen hafteten darauf:

2) Sie gingen für alle künftige Zeiten zu Bauernrecht. Bauern und Bauerngenossen könnten sie nur besitzen und bewohnen, kein Edelmann, kein Kaufmann, kein Fabrikant u.s.w.; auch könnte kein Pächter oder Zinsgeber darauf wohnen oder gehalten werden (es sei denn während einer Minderjährigkeit), sondern der Eigner müßte selbst darauf sitzen, oder sonst, wann er ein anderes Geschäft ergreifen wollte, sie an seine Verwandten oder Bauerngenossen überlassen.

[294] 3) In der Nachfolge gingen die Söhne den Töchtern vor. Damit das Gut in Wehr bliebe, und der Besitzer nicht durch Schulden an tüchtiger Wirtschaft gehindert würde, hätte der Antreter, wenn das Gut schuldenfrei wäre, seine Geschwister und Miterben nur mit einem Sechstel des Wertes der Grundstücke abzufinden; die bewegliche Habe aber, außer dem durch das Gesetz bestimmten notwendigen Gerät und Vieh, würde unter alle gleich geteilt. – Ein einziger Sohn wäre immer der Erbe; unter mehreren Söhnen bestimmte vielleicht das Los über die Nachfolge; hinterließe der Lehnbauer nur Töchter, loseten diese ebenfalls. Unmündige Geschwister hätte der Nachfolger bis zum achtzehnten Jahre zu verpflegen und zu erziehen, Mütter und Großmütter ehrlich zu erhalten und zu verpflegen bis an ihren Tod. Die Art und das Maß würde das Gesetz bestimmen.

4) Die bewegliche Habe, welche Ehegatten zusammenbrächten, würde, wenn Kinder geboren würden, gemeinschaftliches Vermögen. Wären keine Kinder da, und der Lehnbauer stürbe vor der Frau, so nähme sie ihr Eingebrachtes wieder und räumte dem Erben das Gut. Hätte sie Kinder gehabt, die vor ihr gestorben wären, so erbte der überlebende Teil die ganze bewegliche Habe des verstorbenen.

5) Solche Güter möchten auch, z.B. wenn eine Familie durch schlechte Wirtschaft oder Unglück sie so heruntergewohnt oder verschuldet hätte, daß sie sie nicht behaupten könnte, auf andre Art immer veräußert werden, aber nur mit Einstimmung der Berechtigten und mit der Bedingung, daß sie wieder an Bauerngenossen kämen. Ein Besitzer ohne Kinder und Lehnsverwandte, die da Ansprüche auf ein solches Gut hätten, möchte es veräußern bei seinem Leben und darüber verfügen nach seinem Tode, versteht sich innerhalb der Genossenschaft.

6) Wie ein Bauer nicht mehrere solcher Güter besitzen dürfte, so dürften auch die Felder mehrerer solcher Güter [295] nicht zu einem Gute zusammengezogen werden. Ebensowenig wäre ein solches auergut in mehrere kleinere teilbar.

Unter eben dieses Gesetz, das ich über meine gemachten Bauerlehne walten lasse, stelle ich die Bauergüter, die sich in meinem Staate noch finden, damit sie dem Bauernstande in ordentlicher Wehr bewahrt werden, und damit der so wichtige Bauerstand dem Vaterlande erhalten werde.

Wie groß ein Bauergut sein müsse, damit eine Familie in bescheidener Mittelmäßigkeit des Daseins davon leben könne, läßt sich nicht von vornher bestimmen. Das hängt von dem Himmelstriche, von der Fruchtbarkeit des Bodens und von den Gewerben der Gegend ab, wo die Güter liegen. Aber da die zu kleine Ackerwirtschaft durchaus nichts taugt, da die zu große Zerstückelung der Grundstücke den Bauerstand in allerlei treibendes, lustiges und vagabundisches Gesindel verwandelt, so muß ein Kleinstes gesetzt werden, bis zu welchem man hinabsteigen darf. Dies hat man auch in Ländern gethan, wo man die wahren Begriffe von Freiheit hat, z.B. in Schweden, wo die zu sehr verkleinernde Zerstückelung der Höfe in mehreren Landschaften durch Gesetze verboten ist.

Diese meine Bauerordnung würde vorzüglich für das eigentliche Bauerland, für die Ebenen, gelten. Wo Waldbau, Weinbau, Obstbau, Bergbau das Hauptgeschäft der Menschen sind, da sind die Verhältnisse anders und die Geschäfte beschränken sie selbst auf einen kleineren Raum. Auf den weiten Feldern und Ebenen aber, wo das Sichabründen so bequem ist, werden, wenn der Staat gar keine Beschränkung setzt, die einzelnen Höfe und Hufen entweder von den Reichen verschlungen, welche sie in große Hauptgüter und Herrensitze verwandeln, wie wir dies in vielen Gegenden des Vaterlandes sehen, oder der Bauerstand verarmt und verdirbt auch durch die zu große Zersplitterung der Ländereien. Und überdies benutzt der Reiche diese Zersplitterung, um die einzelnen verarmten zersplitterten Besitzer [296] allmählich auszukaufen und ihre kleinen Lose zu großen Gütern abzurunden; wie z.B. in England und Italien täglich der Fall ist, was man aber auch schon bei uns sehen kann.

Wenn der Staat auf diese Weise den Bauerstand an seiner Erdscholle befestigt hat, bleibt, je nachdem jedes Land eingerichtet und gelegen ist, noch die Hälfte oder wenigstens ein Drittel aller Ländereien für jeden anderen beliebigen Besitz frei. Ich sage beliebig, obgleich ich wünschte, daß der Adel ebenso wie der Bauer allein auf Landbesitz gegründet und an seinem Lande festgebunden würde, daß es allein einen Majoratsadel gäbe nach dem Erstgeburtsrecht.

Ich weiß, sowohl gegen die angedeutete Art Nachfolge in meinen Bauerlehen als auch gegen diese adligen Majorate werden sich viele entrüsten, die einen, weil es ihnen eine Unfreiheit, die andern, weil es ihnen eine Grausamkeit deucht. Diese letzten sprechen aus einem einzelnen Familiengefühl; der Staat aber muß aus einem allgemeinen Familiengefühle handeln. Er hat Millionen Kinder; er hat sie nicht bloß heute und morgen oder dreißig Jahre und fünfzig Jahre, sondern auf dreißig und fünfzig Jahrhunderte muß er seine Rechnung machen, ja auf alle Zeiten ohne Grenze und Ziel, wie der Gedanke, wenn er wahr und richtig ist, als Kind der Ewigkeit geboren wird. Wenigstens müssen die Gesetze des Staats die allgemeine Liebe und Gerechtigkeit in sich tragen, daß sie durch ihre Gesinnung und Weisheit würdig wären, ewig zu dauern. Das einzelne Familiengefühl spricht: »Es ist doch unrecht, daß des Bauern und des Edelmanns Kinder bei seinem Tode sich in die hinterlassene feste und liegende Habe nicht gleich teilen; warum soll einer allein so viel haben und alle die an dern so wenig?« Der Staat antwortet ihm: »Ich handle aus einem höheren Rechte und einer höheren Pflicht: ich muß das bessern, was eure unzeitige Thorheit, ja eure thörichte Liebe zu eurer eignen Zerstörung immer thun will. Ihr mit euren Gefühlen würdet aus dem Bauer und Edelmann Bettler und Streuner [297] machen; ich muß sorgen, daß die beiden Stände in Wohlhabenheit, Rechtlichkeit und Ehre erhalten werden; ich muß auch durch meine Gesetze und Ordnungen vor allen Dingen den Grundsatz zu dem lebendigsten machen, daß Silber und Gold und was ihr Vermögen nennt, von mir nicht als das erste hingestellt und gesucht werde, sondern festes Glück und bleibende Tugend.«

Ja, es ist meine feste Überzeugung, daß, wenn der Adel in alter Ehre, Würde und Unabhängigkeit und ohne den Neid der andern Stände bestehen soll, er auf festem bleibenden Besitz und auf Majoraten gegründet sein muß. Es müßte auch überhaupt kein Edelmann gemacht werden, der nicht entweder schon durch Reichtum bedeutend wäre oder die Würdigkeit hätte, daß der Herrscher oder das Volk ihn so mit liegenden Gründen begabten, daß die Unabhängigkeit seiner Familie nach ihm gesichert wäre. Arme Familien adeln, wie leider täglich in Deutschland geschieht, deucht mir ein großes Unwesen. Wenn ich gesagt habe, daß arme hungrige Bauern ein Unglück und Verderben des Staats sind, so meine ich dies noch weit mehr von einem armen hungrigen Adel. Ein Land kann viel zu vielen Adel haben; und es ließe sich nach der Volksmenge und den Verhältnissen und Hilfsmitteln enes jeden Landes wohl die Zahl bestimmen, die es tragen könnte. Es ließe sich für jedes Land ein goldenes Buch machen, wie weiland in Venedig, und zwar ein geschlossenes Buch, und es sollte gemacht werden – auf die Weise, daß nur beim Erlöschen eines Stammes ein neuer adliger Stamm gepflanzt werden könnte, und daß selbst die Kinder und Enkel der größten Helden der That, Wissenschaft, Kunst und Erfindung (welchen allein so Hohes vorbehalten sein müßte: denn wenn man den Adel hoch hielte, wäre er etwas Hohes), die eines Blücher, Leibnitz, Goethe, Dürer, auf der Warte stehen bleiben müßten, bis Gott eine leere Stelle gemacht hätte. Doch werden diese seltensten großen Männer nicht [298] so dicht ansgesäet, daß es bei solchem gewissenhaften Verfahren jemals viele Wurtende geben würde. Daß den Kindern solcher Sehrmänner von dem Volke, das von ihnen mit Glück, Macht und Ruhm bekränzt worden, für die würdige Tragung und Erhaltung ihres Adels nach englischer Sitte eine angemessene Begabung und Begründung gemacht werden müßte, folgt durchaus aus unserm Bilde vom Adel. Wir kennen Polens Geschichte und kennen seinen wimmelnden hungrigen Adel; auch Schweden ist mit zu vielem und armem Adel überschwemmt; und in manchen deutschen Landschaften ist es nicht viel besser, und immer fährt man fort, auf die alte traurige Weise leicht und leichtsinnig durch Adelsbriefe alljährlich arme Junkerfamilien zu stiften. Es ist lange ein trauriger Haß gewesen zwischen dem Mittelstande und dem Adel, und er ist leider noch nicht ausgestorben und hat seine bösen Folgen auf das Ganze, da durch diesen unseligen Neid so manches Gute gehindert und durchkreuzt wird. Dieser Haß und Neid stammt zum Teil aus dem alten Soldatenwesen, wie es vor zwanzig, dreißig Jahren noch bestand; er stammt wohl mehr aus der Herabwürdigung und wirklich unanständigen und fast schimpflichen Vermehrung des Adels durch die Reichskanzeleien, wodurch der alte Adel, worunter diese Neugestempelten sich allmählich doch mischten, sein glänzendes Gepräge verlor. Krämer, Roßtauscher, Lieferanten u.s.w., ohne ein anderes Verdienst als das einer gefüllten Tasche, kauften des heiligen Römischen Reichs adlige Wappenehre oft um 80 und 100 Dukoten in der Kanzlei zu Wien; ja während der Ledigkeit des Kaiserstuhls wie wohlfeil und wie schmutzig verschacherten die Beamten in den Kanzleien der Reichsverweser oft die Würden von Freiherren und Grafen!

Soll also Adel sein, so muß er reich und unabhängig sein, damit er in freier Ehre und Würde im Staate stehen und durch seine selbständige Haltung wohlthätig auf das Ganze wirken könne. Ein armer Adel löscht bei dem Volke [299] die Idee des ganzen Standes aus. Er hat durch seine Geburt Ansprüche, die er ohne Vermögen schwerlich erfüllen kann. Er muß also dienstbar, glücksuchend, ja oft glückjagend sein wie Menschen aus den untersten Klassen; er muß für sein Fortkommen Künste gebrauchen, die wenigstens solche nicht zieren. Darum lobe ich mir die englische Art, wo der Älteste des Hauses das Haupt und der Vertreter aller Mitglieder desselben und der Besitzer der Güter ist, wo aber die Jüngeren und die Seitenverwandten meistens zum ganzen übrigen Volke gerechnet werden und ohne Erniedrigung und Befleckung ihres edlen Bluts meistens allen Gewerben und Geschäften der andern Klossen ihre Thätigkeit zuwenden mögen. Und darum ist der Adel auch nirgends so wirklich vornehm und geachtet als in England. Auch in Schweden hat man in den letzten Jahrzehnten die Einsicht gewonnen, daß zu zahlreicher Adel den Stand verkleinert und dem Staate schadet. Auf dem Reichstage zu Stockholm im Sommer 1809 ist ein Gesetz gegeben, daß bei neugeadelten oder um eine Stufe erhöheten Familien der Älteste dem Vater oder Erblasser immer in Besitz und Rang folgen soll, die jüngeren Brüder aber zu der unter dem Range des Erblassers stehenden Klasse gerechnet werden sollen.

Wir leben in einer Zeit des Streites der Gefühle, Ansichten und Meinungen, und auch der Redlichste wird durch die allgemeine Bewegung, welcher er sich nicht wohl entziehen mag, oft wider Willen von dem ruhigen Standpunkte der Betrachtung weggetrieben. Auf der Höhe des wilden Meers gründen die Anker nicht, und am Strande braust die Wellenbrandung zu gewaltig, als daß die Gedanken sich vor Anker legen könnten. So viel indessen haben wir alle begriffen, daß der Ruf nach Freiheit und Gesetzlichkeit dieser Zeit sehr natürlich war und ist, daß aber von vielen eine Freiheit begehrt worden, welche auf Erden nimmer sein kann noch sein darf. Das haben wenige bedacht, daß, wenn man alles frei läßt, nichts frei bleibt, sondern die verschiedenen [300] Lebenskreise sich ineinander verlaufen und verwirren, wodurch notwendig ein Zustand der Auflösung und Ausschweifung entstehen muß, der die Freiheit in ihren Keimen tötet. Denn das ist das Geheimnis der wahren Freiheit, daß, der Mensch durch viele sächliche Bande, durch Einrichtungen, die sich zunächst auf Dinge außer ihm und erst in der dritten, vierten Instanz auf ihn beziehen, gehalten, getragen und zur Zucht und Ordnung und zu dem heiligen Gefühle des Stätigen und Bleibenden, ohne welches keine guten Bürger sein können, angehalten werde. In dieser Hinsicht wünsche ich meine vorgeschlagene Bauerordnung oder wenigstens eine ähnliche, ich wünsche den Adel auf Majoraten gegründet und bei den Handwerken die Erhaltung oder Wiederherstellung der Zünfte und Innungen, von welchen man die Mißbräuche wegthun, und welchen man eine der Zeit angemessene weniger sklavische Einrichtung geben muß.

Unser Zeitalter ist ein Saturnus, der seine eignen Kinder auffrißt und sich dann im Taumel seines blutigen Rausches an den dicken Bauch schlägt und den Leuten zuruft: Seht hier die Folgen der Freiheit! seht hier das von Wahn und Knechtschaft erlöste Menschengeschlecht! Die Franzosen haben damit angefangen, sie haben das Kapital von Jahrhunderten in einem Vierteljahrhundert aufgefressen; andere Regierungen haben es ihnen in manchen Ländern aus Not nachmachen müssen; hie und da haben sie es ihnen in verblendeter Thorheit nachgemacht. Alle Verhältnisse wurden aufgehoben, alle Bande zersprengt, gute und böse, nützliche und schädliche; die Sachen wurden so freigegeben wie die Personen, und die Stürme und Vulkane der Zeit weheten und spritzten beide wie Funken und Asche umher. Und das ist noch das Schlimmste – was freilich vor fünfzig und sechzig Jahren schon in einigen Ländern galt, daß diese ungebührliche Freilassung die verwünschte Fabriksüchtigkeit und Fabrikflüchtigkeit in die Menschen und in ihre Einrichtungen gebracht hat, und daß die ganze Erde und der Staat [301] selbst von vielen Staatsverwaltern und Staatseinrichtern fast nur wie eine Fabrikanstalt gewürdigt und verwaltet wird. Was man heute bedarf, was ein Mensch und ein Ding morgen einträgt, das fragt man mit hungriger Gier, und deswegen kann man mit den kurzen Augen nicht sehen, was die künftige Zeit bedürfen wird und was die künftigen Menschen sein und tragen werden, ja was sie in aller ewigen Zeit sein und tragen sollen. Es giebt gewisse natürliche Verhältnisse in der Verwaltung und Einrichtung der Erde und des Staates und unter den verschiedenen Klassen der Staatsgesellschaft, welche nimmer hätten gestört und gebrochen werden sollen, und für deren Erhaltung und Wiederbelebung der Staat sorgen muß, wenn er selbst sicher und lebendig bleiben will. Wir wollen die Fertigkeit und Geschicklichkeit der Menschen immer loben, welche durch künstliche Geräte und Maschinen einem Menschenarm die Kraft von hundert Armen und ein er Hand die Verrichtung von fünfzig Händen geben können; aber wir sagen es gradezu: lieber wollen wir keine einzige Maschine als die Gefahr, daß dieses Maschinenwesen uns die ganze gesunde Ansicht vom Staate und die alle Tugend, Kraft und Redlichkeit erhaltenden einfachen und natürlichen Klassen und Geschäfte der Gesellschaft zerrütte. Wenn alle Handwerker Fabrikanten werden, wenn der Ackerbau selbst endlich wie eine Fabrik angesehen und betrieben wird, kurz, wenn das Einfältige, Stätige und Feste aus den menschlichen Einrichtungen weicht, dann steht es schlecht um das Glück und die Herrlichkeit unsers Geschlechts. Wenn wir dahin kämen, daß Axt, Säge und Senkblei von selbst Häuser zuschnitten und aufrichteten, daß der Pflug und die Sense von selbst den Acker pflügten und abernteten, wenn wir endlich auf Dampfmaschinen über Berg und Thal fahren und auf Luftbällen in die Schlacht reiten könnten, kurz, wenn wir neben unsern künstlichen Maschinen, die alle Arbeit für uns thäten, nur so hinzuschlendern brauchten – dann würden wir ein so entartetes, nichtiges und elendiges Geschlecht [302] werden, daß die Geschichte ihre Bücher auf ewig von uns schließen würde.


Ende.


Diese Betrachtungen und Ansichten aus den Jahren 1815 und 1820 wie sind sie bestätigt worden, und wie werden sie jeden Tag mehr und mehr bestätigt durch die Begebenheiten und Entwickelungen der letzten zwanzig Jahre! Es wälzen sich, ja es dampfen die ungeheuersten und unberechuenbarsten neuen Kräfte und Lebensreize und Lebenstriebe über die Welt hin. Und dies ist nur der Anfang des Neuen; denn da der menschliche Geist sich selbst und die Entdeckungen und Erfindungen der Wissenschaft mit dem größten Ernst und Eifer auf das Praktische gewendet und gerichtet hat, so werden nach dieser Seite hin durch Chemie, Physik und Statik in den nächsten Menschenaltern noch ganz andere Veränderungen und Umwälzungen erfolgen. Der Dampf und das Feuer, die leichten und flüchtigen, beflügeln und verflüchtigen das Menschengeschlecht schon jetzt beinahe zu sehr, so daß es mit seinen Sohlen immer mehr von dem Boden der alten mütterlichen Erde in die Region der Wolken und Nebel hinaufgeschnellt wird. Um so notwendiger also wird es werden, einen guten Teil der Bürger wenigstens durch verständige und haltende Bande in einer gewissen bleibenden Stätigkeit an den Boden der Erde zu binden.

Fichte, dessen ganzes Wesen ethische Strenge, ja ethische Begeisterung war, und der eben dadurch auf so viele Tausende von Männern und Jünglingen den mächtigsten und schönsten Einfluß hatte, sieht in seinem geschlossenen Handelsstaat, dessen Idee er in sein sogenanntes Staatsrecht aufgenommen und etwas anders verarbeitet hat, Fichte sieht den Ackerbau vorzüglich von der sittlichen Seite an. Wer wollte und wer könnte sich dieser Ansicht abkehren, auch wenn er ihn mehr von der politischen Seite ansieht? Denn wenn der Staat als solcher freilich fast immer nur mit der [303] Errichtung und Schirmung des Rechtszustandes zu thun hat, so muß die sittliche Idee doch von oben herab seine Einrichtungen und Gesetze beleuchten und durchleuchten. Wir können und dürfen ja nicht schlechter sein als die Heiden, deren weisere Gesetzgeber immer unumwunden aussprechen, daß alle Staatseinrichtungen dahin streben sollen, daß die besten, rechtschaffensten und sittlichsten Bürger dadurch geschaffen werden. Fichte, indem er einen strenge geschlossenen Rechtsstaat stiften wollte, war doch immer von der Idee begeistert, jedem seiner Bürger, eben durch die genau geschlossenen Grenzen und bestimmten Kreise seiner verschiedenen Stände, nach vollendetem Tagewerk den Genuß einer höheren geistigen zur Veredelung und Versittlichung hinstrebenden Muße zu verschaffen. Es entging ihm nicht, daß die Idealität seines Staatsbaues für die gegenwärtige Weltlage und für den Stand des gegenwärtigen europäischen Staatssystems in den meisten Punkten wohl nicht passe, ja daß er allenthalben scharfe Stöße und Gegenstöße veranlassen werde. Seine Gesellschaft wäre, wie er sie dachte, höchstens kaum in dem engen Umfange von fünf bis zehn Meilen möglich gewesen; aber woher die Ungestörtheit seiner Anstalten und den Frieden nehmen, daß die andern mächtigen Umgeber ein solches wundersames Werk nicht alsbald umstießen? Er verhehlt sich selbst in vielen aufgeworfenen Fragen die Zweifel nicht, ob und wie sein Entwurf ein Werk werden könne; aber der Philosoph kann der Folgerichtigkeit seiner Ideen nichts abdingen lassen. Das war überhaupt das Tragische dieses edlen Menschen, daß er selbst in die gemeinsten und gewöhnlichsten Verhältnisse und Entwickelungen des Lebens und Staates immer mit den Sonnenstrahlen seines Olymps hineinschauen und sie nach dieser Beleuchtung nicht allein beurteilen, sondern auch ordnen wollte. So stand er zum Erstaunen der Alltäglichen und Undenkenden nicht nur, sondern auch zum Erstaunen und Erschrecken seiner Schüler oft wie vor einem Berge still, wo ein Strohhalm im Wege [304] lag, worüber er mit seinem philosophischen Rosse nicht meinte hinsetzen zu können. Bei jedem aus der guten gewöhnlichen Ansicht, wornach auch gar nicht verlehrt noch unsittlich gelebt und gehandelt wird, ausgesprochenen Darum hatte er sein gewaltigesWarum? bereit mit dem Ausspruche: »Was soll ich mit allen euren Darum, ich muß ein bestimmtes Warum haben.« Doch ist es wahr, sein überfliegender Geist, welcher anfangs das Nichtich der irdischen Dinge mit zu dicken und häßlichen Nebeln verschleiert gefunden hatte, fand sih durch das religiöse Gefühl der Liebe und Freundschaft und vorzüglich des Vaterlandes in seinen späteren Jahren so mächtig in die untere Welt und ihr Treiben hinabgezogen, daß er auch eben durch die religiöse Vermittelung sich darin viel sicherer und behaglicher als früher empfand und wiederfand.

Wir müssen nun aber eben mit diesem Großmeister der sittlichen Ansicht und Würdigung aller Dinge vor allem auf dem sittlichen Boden stehen bleiben und alle jene Gründe, welche man solcher Würdigung der Staatseinrichtungen entgegenzustellen pflegt, ohne Umstände totzuschlagen suchen. Die Liberalen des Tages, welche der Welt den weiten fliegenden, von allen Winden und Lüften durchwehten Freiheitsmantel umwerfen, sagen: Lasset nur frei, hemmet nur keine Kräfte! Wenn ihr sie frei walten lasset, wird sich nach den Bedürfnissen und Entwickelungen jedes Zeitalters alles von selbst in Ordnung und ins Gleichgewicht setzen. Deine Ansichten sind im Grunde doch nur mittelalterige Ansichten der Unfreiheit. Der Finanzminister vollends wird sagen: Ei! ei! wie soll der Staat sich tragen, wenn wir wieder Zünfte haben, wenn wir den Acker und Besitz fesseln? wenn wir die Vermehrung der Menschen und der Kräfte hemmen? Auch wäre es höchst verkehrt, auf die Hälfte oder gar auf Zweidrittel der Oberfläche eines Landes kleine Bauergüter hinzusäen. Die großen Güter geben mehr Ertrag und können, da der Ackerbau sich immer mehr an die Fabriken [305] lehnen, ja fabrikartig betrieben werden muß, allein zweckmäßig und so eingerichtet und bewirtschaftet werden, daß man alle Vorbereitungen und Vorarbeiten gehörig benutzt, alle Kräfte und Geschäfte nach fest bestimmter Regel ineinander eingreifen läßt. Spanische Schafzucht, Brauerei, Brennerei u.s.w., welche den Staat so mächtig tragen helfen, wo willst du damit bei deinen Bauren hin?

Solche und ähnliche Gründe und Ansichten, die gegen jegliche sittliche Einsicht und Erkenntnis sprechen, hört man alle Tage. Ich muß aber auch den politischen Punkt berühren, und der deucht mir so gewaltig, daß selbst der Herr Finanzminister sich vor ihm wird neigen müssen. Wir sehen die Proben von der allgemeinen Fabrikation der Dinge und von der Schätzung des Staats bloß nach blind fortschießenden und blind wirkenden Kräften und Massen, welchen gar kein politischer Zügel angelegt wird. Daß bei Fabriken, daß in den großen Städten und Hauptstädten eine Menge elender, unruhiger, hungriger Menschen, daß diese gefährliche Brut, die Pöbel heißen muß, da entsteht, läßt sich nicht wenden. Das sind die unvermeidlichen Krebsschäden und Auswüchse der wachsenden Bildung und Verfeinerung des Menschengeschlechts, welche selbst ein Fichte auf einem Königstuhl nicht würde wegschaffen können. Aber, aber – wenn wir auch auf dem Lande mit der allgemeinen zerstückelnden Freiheit so fortgehen, wie es sich jetzt anläßt, so wird bei der durch die Zerstückelung in Gütchen und Höschen bis auf zwei, ja bis auf einen Morgen Land und noch tiefer vermehrten Zeugung und bei der Unmöglichkeit, den Menschen Arbeit und Gewinn zu verschaffen, in einigen Menschenaltern auch der Landpöbel vollendet dastehen: ein hungriges, unruhiges, sittenloses Gesindel. Wann wir auf solche Weise den gedoppelten und verdoppelten Pöbel fertig haben werden, wird von einem Rechtsstaate kaum noch die Rede sein können: China wird fertig sein, Despotismus und Knechtschaft an den beiden Spitzen der Gesellschaft, der Schrecken [306] drohende Stock des Schergen für das Milde und Gnade winkende Scepter des Königs. Solche Menschen können nicht mehr durch die Liebe und die Gerechtigkeit regiert werden, sondern Furcht und Schrecken allein können die reißenden Tiere bändigen. Seht euch einmal um, ihr Posaunenbläser einer tollen Freiheit, seht euch einmal um nach dem Pöbel von Paris, Manchester, Birmingham und Irland. Muß nicht König Ludwig Philipp, obgleich Paris eine Besatzung von 40000 bis 50000 Mann hat, täglich vor einzelnen Scharen solcher reißenden Wölfe zittern? Und Irland? ich sage noch einmal Irland?

Das irländische Elend kann kaum ein Gott mehr bessern, auch nicht einmal eine Auswanderung. Das Geschrei, Irland sei so elend durch fanatische Unterdrückung der Katholiken durch die Englische Hochkirche gilt nur für einzelne Zweige der Verwaltung und für einzelne Stände. Das Hauptübel sind ein paar Millionen Menschen zu viel. Wie ist dieses Plus oder vielmehr Nimium entstanden? Grade auf demselben Wege, worauf wir in Deutschland auch immer weiter vorwärts schreiten, nämlich durch die Zerstückelung größerer Landgüter in viele zu kleine. Diese Zerstückelung, in der letzten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts vollbracht, hatte einen örtlichen politischen Grund, der in den Erfolgen, die heute zu Tage liegen, für alle Staaten warnend sein sollte. Es ging diese Zerstückelung nämlich von den großen Landherren aus, welche aus großen Gütern von tausend und fünftausend Morgen Land eine Unendlichkeit kleiner Gütchen von fünf, zehn bis fünfzehn Morgen schnitten. Und warum? Um in ihren kleinen Pächtern abhängige Wähler zu gewinnen, die ihnen bei der Bewerbung um eine irländische Parlamentsstelle ihre Stimmen geben mußten. Dies Unglück hat die Einwohnerzahl Irlands in sechzig, siebzig Jahren mit unglaublicher Geschwindigkeit über alles Maß vermehrt und zeigt sich nicht bloß als ein irländischer Jammer, sondern drückt durch die nach England und Schottland [307] überwandernden irländischen Arbeiter an vielen Stellen auch die englischen bis zur verzweifelnden Hilflosigkeit herab.

Dies ist in Irland die tiefe Krankheit der Zeit; dies wächst von Tage zu Tage immer mehr in der Schweiz und in Frankreich. In dem unglücklichen durch Gott so paradiesisch gestalteten und geschaffenen Italien ist es schon lange gewesen; dort giebt es fast gar keine kleinen Grundbesitzer und Bauern mehr, sondern nur große Herren und Pächter und Tagelöhner: daher die Kraft und Tugend des einst so großen und kühnen Volkes längst gebrochen und erloschen.

Also was meine ich zum Schluß? Ich meine die Notwendigkeit der Erhaltung und, wo sie nicht erhalten sondern zerstört sind, der Wiederherstellung der ordentlichen Bauerschaften so gewaltig, daß ich behaupte, die Regierungen müssen ihre letzten Kräfte anwenden, um wieder welche zu schaffen. In Mecklenburg z.B. und in meiner Heimat müßten, wenn die Staats- oder Krongüter nicht hinreichen, um Bauern zu schaffen, die Regierungen einen Geldstock stiften – wie sie ja oft für andere viel kleinere Zwecke thun – um gelegentlich große Güter zu kaufen, und diese Güter in angemessene Größen zerlegen und Bauerlehen daraus machen und auf diese Weise allmählich ein Gegengewicht und ein Gegenmittel gegen die allgemein drohende Pöbelei zu erschaffen, deren Getümmel an dieser im Staate stehenden Felsenfeste sich zerschellen würden. Beiläufig gesagt, würde durch die mäßig großen Bauerngüter auch die übertriebene Zeugung von Hungerleidern gehemmt; sodaß diese dem Anscheine nach rein politische Anordnung und Wiederherstellung auch die tiefste sittliche Grundlegung würde.

Ich habe auch des Adels und seiner Majorate erwähnt, obgleich ich nur für die Bauern zu sprechen hatte; denn die Edelleute und Großherren werden sich schon wehren und in der Welt nicht vergehen, wenn auch alle freie Bauern in Europa verschwinden sollten. Aber auch die Edelleute werden in demselben Maße schlechter, verdorbener, übermütiger [308] werden, als alle Landbewohner neben ihnen mehr und mehr zu Tagelöhnern und Knechten erniedrigt werden. Man schaue nur in den Spiegel des italienischen Adels. Ich habe aber bei dem Wörtlein Adel nach meiner Ansicht ungefähr nur dasselbe in demselben Sinn denken können, wie bei dem Wörtlein Bauer. Ich würde es vielleicht für hart halten, so vielen guten Häusern, die vor ihren Namen das Von und das Zu führen, mit diesen Wörtchen Erinnerungen zu rauben, die ihnen von dem höchsten Wert sind, aber, indem ich von Majoraten geredet habe, hat mir doch etwas der englischenNobility Ähnliches vorgeschwebt. Des unbegüterten kleinen Adels, dessen nach den gegenwärtigen Weltverhältnissen und Weltansichten bei uns schon viel zu viel ist, sollte kein König und Fürst künftig mehr stempeln. Bei meinem Adel nun, oder was ich eigentlich allein als Adel von Gewicht im Staate ansehe, bei dem reichen hohen Adel würde ich die englische Weise nun auch nicht loben, nach welcher der König deren schaffen kann, wie viele ihm gefällt; nur daß er stillschweigend an die Bedingung des Reichtums gebunden ist: denn einen armen Mann zum Pair machen, würde in England beide unrecht und lächerlich dünken. Es wäre nämlich wohl eine Berechnung möglich, wornach sich die Zahl großbegüterten Adels, welche jeglichem Lande angemessen wäre, ungefähr bestimmen ließe. Auch müßte nach den Verhältnissen eines jeden Landes das Minimum und das Maximum von dem Güterumschluß eines Majorats gesetzt werden. Denn es ist wohl kein Zweifel, daß zu große und mächtige Majorate selbst der Regierung als etwas Mißliches und Gefährliches dastehen könnten, zu geschweigen, daß bei großem Reichtum auf der einen und großer Armut auf der andern Seite die Großgüterei die schlimmsten Mißverhältnisse und Übelstände mit sich führen könnte.

Wenn ich hier darauf hinzuweisen scheine, daß mir nur der hohe Adel ein wirklicher Adel deucht, und daß ich die leichten Schöpfungen des kleinen güterlosen Adels nicht billige, [309] so bin ih doch weit entfernt in das Gedankengebiet derjenigen hinüberzuschweifen, welche den Adel gleichsam als die einzige sicherste Stütze der Monarchie, ja als teilweise Mitträger und Mitinhaber der Majestät darstellen und ihn also in hohe sonnenscheinige Regionen mit hinaufrücken, wo den Blicken und den Begriffen zu schwindeln anfängt. Denn wie groß, glänzend und mächtig der Adel auch sei, er bleib, nur ein Stand im Staate, und der Kreis seiner Wirksamkeit und Unterthanschaft muß so genau und leicht abzugrenzen und zu bestimmen sein als die Kreise, innerhalb deren der Bauer und Bürger steht. Die Majestät des Regierers und Herrschers ist ein so hoher und unermeßlicher Glanz, daß der ärmste Bauer und der erste Baron des Reichs als gleich tief unter ihrem Himmel stehend gedacht werden müssen. Denn wenn auch einige Gebiete und Verhältnisse des Herrschers in Beziehung auf die Unterthanen abgegrenzt sein mögen, so reicht diese Hoheit und Größe in tausend andern Beziehungen, wo Welt- und Lebens-, Bildungs- und Staatenverhältnisse frei wie Luft und Licht schweben und innerhalb keiner Rechtsgrenzen eingepfählt werden können, vorzüglich aber in Beziehung auf fremde Nationen, gleichsam in ein ewig flutendes, schwebendes und werdendes Planeten- und Sonnenleben hinauf, wo das gewöhnliche Maß und Richtscheit fehlt und wo nur mit ungefähren und bildlichen Zahlen und Größen gerechnet werden kann. Dieses Bild der Majestät deute ich hier nur an.

Von diesem meinem so wichtigen Staatslehnbauern komme ich nun endlich einmal wieder auf meine eigne bäuerliche Wenigkeit zurück. Ich habe den ganzen Sommer und Herbst 1815 und den Winter 1816 in Köln gelebt, die politischen Schmerzen und Wehen abgerechnet wohl gelebt. Ich fand die alte Reichsstadt und ihre Bewohner ganz anders als sie mir in früherer Jugend, vor beinahe zwanzig Jahren gedeucht hatte, wo sie (nämlich im Sommer 1799) freilich durchaus ein totes und wüstes Ansehen hatte und [310] finstere und trübselige Eindrücke machte. Köln war weiland die erste Reichsstadt am Rhein und lebte das ganze Mittelalter hindurch, fast in sich geschlossen, ja verschlossen und versperrt, im eigentlichen Sinn fast ganz innerhalb ihrer Türme und Mauern beschränkt, häufig im Kriege, immer im Argwohn und auf der Warte gegen den Geistlichen Kurfürsten, der sich nach ihr nannte, und ringsum von kriegerischen und mächtigen Fürsten umgeben, die ihr nur die Herrschaft und Schiffahrt auf dem Rhein lassen mußten. Dies hat in ihr eine Erscheinung hervorgebracht, wie ich oben schon bei Stralsund erwähnt habe, nämlich eine Eigentümlichkeit in Sitte, Charakter und Sprache, welche die Stadt auch von der nächsten Umgegend unterscheidet. Der Charakter hat im ganzen das Niederdeutsche, Ruhigkeit und satirisch-ironische Selbstbespiegelung, und in dieser Spiegelung ein gar heiterer und lustiger Widerschein der Personen und Sachen, jedoch viel lebendiger als bei dem westlicheren Holländer; eine große Gutmütigkeit bei tüchtiger Derbheit und Gradheit; vieles, was in den Menschen von dem alten freien Reichsbürger noch übrig ist, ein gewisses sicheres Selbstgefühl bürgerlicher Ehre und Gleichheit, das ja selbst der Bürger von Straßburg unter dem leichten und spielenden Franzosen nicht verloren hat: alles dies mit einem eigentümlichen Witz und Humor übergossen, den man nicht beschreiben kann, sondern der schlechtweg der kölnische heißen muß. Hier ging es mir denn inmitten deutscher Gastlichkeit und Freundlichkeit sehr wohl, und ich konnte mir auch die kölnischen Witze und Späße über mich schon gefallen lassen. Denn im Karneval bekam ich meinen Teil ab. Es war von einer andern Seite her schon ziemlich ernsthaft gegen mich geplänkelt. Ein zurückwehender Sturm, welchen der Geheime Rat Schmalz und der Geheime Staatsrat von Bülow in Berlin A77. ein Vetter des Staatskanzlers Fürsten Hardenberg, gegen die Verderber und Verführer der Zeit brausen ließen, blies mit rücktreibender Kraft auch in meine [311] Federn. Indessen es kam mir als nichts neues; ich war darauf vorbereitet und ließ es mich also nicht anfechten; nur daß ich es aus diesem Quartier nicht erwartet hatte. Doch als ich mich im Winter 1816 mit meinem Freunde Schenkendorf einige Tage in der Kölner Karnevalslust umhertummelte, wurden mir meine demagogischen Konterfeie, wie jene Herren die Farben dazu gemischt hatten, lustig parodisch in allerlei Gestalten vorgeführt.

Im Frühling des traurigen Hungerjahres 1816 brachte ich meinen Sohn auf das Gymnasium nach Düsseldorf und wanderte dann den Rhein hinauf über Koblenz, Mainz, Frankfurt und Kassel nach Berlin und von da in die Heimat. Ein Teil des Sommers ward in Dänemark verlebt, um einige notwendige nordische Anschauungen zu ergänzen. Darauf ordnete ich im Herbst und Winter meine Sachen in der Heimat und packte für den Rhein ein, für welchen ich bestimmtere Versprechungen hatte. Im Frühling des Jahrs 1817 ward in Berlin, im Sommer am Rhein gelebt, an dessen Gestaden ich mich im Herbst 1817 in Bonn ansiedelte, der künftigen Universität wartend, an welcher ich lehren sollte.

Ich stand nun nur noch einige Jahre vor dem fünfzigsten Lebensjahre und sollte in mir den alten Spruch der Weisen bestätigen, welcher aussagt, daß das Glück mit der Jugend ist, und daß das Alter auf sein Geleit nicht mehr zählen darf. Bis hierher hatte mich das Glück auch durch mißliche Lagen und Verhältnisse meistens leidlich durchgeleitet und mich ohne mein Zuthun in Verhältnisse hineingestellt, die ich sehr glückliche nennen durfte. Hier erwies es mir nun, eben in diesem Jahre 1817 noch eine letzte große Gunst und nahm dann gleichsam Abschied, oder lief höchstens zuweilen noch ein wenig nebenher, da es sonst vorangelaufen und Bahn und Quartier gemacht hatte. Diese Gunst war ein tapferes treues Weib, das ich gewann, und die mich bis hieher, mich selbst und meine Geschicke, redlich hat durchtragen geholfen: Nanna Maria Schleiermacher aus Oberschlesien,[312] Schwester des Professors Doktor Friedrich Schleiermacher 26 in Berlin, deren Vater an den Gestaden des Rheins geboren war, wohin sie als zu ihrem Ursprunge zurückkehrte. Hierauf schlug mich der erste Schlag:

Ich verlor gute Zweidrittel meiner Büchersammlung, welche von Stralsund zur See auf Köln geschickt waren. Ich hatte mir eine hübsche Auswahl der alten Klassiker und eine nordische Sammlung zugelegt. Diese waren von Seewasser durchnäßt fast alle unterwegs verfault nebst manchem, was ich in den letzten zwanzig Jahren für mich gesammelt und aufs Papier gebracht hatte. Durch einen Zufall, indem bei der Versicherung dieser Bücher ein Versehen begangen war, bekam ich für diesen schweren, guten Teils nicht einmal durch Geld ersetzlichen Verlust auch nicht die geringste Entschädigung; ja, da man sonst wohl mit Abgebrannten und Schiffbrüchigen Mitleid zu haben pflegt, mir ist bei dieser Gelegenheit auch nicht ein einziges Buch zur Wiederherstellung geschenkt worden. Auch ein Zeichen des beginnenden Alters, welches, mit meinem lieben Doktor Martin Luther zu reden, kein Wohlgefallen mehr bei den Leuten hat. Doch war ein Glück bei diesem Unglück, nämlich, daß mit manchen wertvollen Papieren auch dicke Stöße von abenteuerlichen [313] Schnurrigkeiten verloren gingen, die ich mir zur Ergötzung gesammelt und aufgehoben hatte von jenen obenerwähnten Entwürfen, Ratschlägen und Vorschlägen von Vaterlandsrettern, welche bei dem Minister vom Stein einzulaufen und dann oft in meine Hände zu gelangen pflegten. Wären diese erhalten worden, sie hätten bei den später erfolgenden Untersuchungen mich in manche schwere Not stellen und um noch manche gute Stunde bringen können. Denn natürlich das tollste und abenteuerlichste Zeug hatte ich aufbewahrt, und da hätte es allerdings den Schein geben können – zumal da ich bei manchen Papieren Zeit, Ort und Verfasser nicht mehr anzugeben gewußt, – als sei ich mit düstersten Abenteurern und Tollhäuslern jeweilig verbunden gewesen.

Im Jahr 1818 ward Bonn zur künftigen rheinischen Universitätsstadt erklärt, und ich an dieser Anstalt zum Professor der neueren Geschichte ernannt.

Im Frühling 1819 hatte Sand den Herrn von Kotzebue ermordet. Dies hätte hier in Bonn oder in der Nähe geschehen können; was für die neugeborne Universität wohl ein schlimmstes Zeichen gewesen wäre. Er hatte nämlich nicht übel Lust gehabt, sich in Mannheim, in Bonn oder Godesberg anzusiedeln und hatte mit einem namhaften Gelehrten für diesen Zweck hieher gebriefwechselt. Ich wie guter Dinge getrost baute mir eben ein Haus am heiligen Rhein, welches die Schönheit des herrlichen Siebengebirges grade aufs Korn nahm. Meine Frau hatte mir an dem großen deutschen Siegestage, den 18. Junius, meinen ersten Sohn geboren A78; der Tag war hier von Lehrern und Schülern noch mit großer öffentlicher Luft gefeiert worden, wie denn in jener noch warmen Zeit auch die Feuer des 18. Oktober noch hell und mächtig auf den deutschen Bergen zu lodern pflegten. Wenige Tage später erschienen die Männer, welche Haussuchung bei mir hielten und meine Papiere zusammenpackten und versiegelten. Im Herbste des folgenden Jahrs [314] 1820 bin ich in meiner amtlichen Wirksamkeit still gestellt und einer langen gerichtlichen Untersuchung unterworfen worden A79. Ich habe durch sie und ihre Folgen mehrere schöne Jahre verloren, wohl die letzten, wo mir noch einige Kraft übrig blieb. In meiner Wirksamkeit gehemmt bin ich geblieben, Wiederherstellung in meine Amtsthätigkeit habe ich nicht erlangen können, bin endlich mit Beibehaltung meines vollen Gehalts in den Ruhestand gesetzt worden. In dieser schweren und jeden menschlichen Stolz demütigenden Prüfungszeit habe ich Gott und meine Freunde kennen gelernt; und das war freilich eine große Freude im Leide. Aber es sind auch gewesen, die mich unter dem Titel, ich sei in diesen Gegenden ein gefährlicher Mann, wohl gern irgend wohin wie ins Elend geschickt hätten. Doch habe ich die Gnade und Gerechtigkeit meines Königs dafür zu preisen, daß ich in meinem Gärtchen am Rhein habe wohnen bleiben dürfen.

Die Geschichte dieser Untersuchung darf und kann ich, wie der Tag steht, nicht schreiben. Die allgemeine Anklage lautete auf Teilnahme an geheimen Gesellschaften und bösen Umtrieben, die dem deutschen Vaterlande gefährlich werden könnten. Ich bin davon freigesprochen. Aber meine trotzige und harte Natur durch wie viele Demütigungen hat sie lernen müssen, daß ich für das liebe Vaterland auch noch meinen Marterweg von Leiden zu laufen, daß ich auch noch meine Wunden zu holen hatte, da ih mich auf Schlachtfeldern nicht unter Kugeln und Schwertern umgetummelt hatte. Ich habe es, nachdem ich mich über die ersten Plagen besonnen und gefaßt hatte, wirklich so hingenommen als ein Verhängnis des ausgleichenden und gerechten Gottes, der mich für manche trotzige und kühne Worte hat bezahlen lassen wollen; und dies hat mich – wofür ich Gott noch mehr danke – vor jener Erbitterung und Verfinsterung behütet, wodurch die meisten in solche Geschichten verflochtene Männer traurig untergehen. Doch habe ich in den langen [315] in Ungewißheit und Schweben zwischen Furcht und Hoffnung hingeschleppten und verlornen Jahren den Vers sprechen und singen können:


Wem vom Kanonenmund sein letztes Schicksal blitzt,

Den nimmt ein sel'ger Tod im frischen Mut der Stunden;

Doch auf wem Lilliput mit tausend Nadeln sitzt,

Stirbt Millionentod mit Millionen Wunden.


Zwar schien ich während dieser Untersuchung und während der Folgen und Nachfolgen derselben mich nach dem Urteile meiner Freunde mit leidlicher Gleichmütigkeit und Besonnenheit zu benehmen; aber doch habe ich die langsame Zerreibung und Zermürsung meiner besten Kräfte bis ins Mark hinein nur zu tief gefühlt. Man sieht dem Turm, so lange er steht, nicht an, wie Sturm, Schnee und Regen seine Fugen und Bänder allmählich gelockert und gelöst haben. Das Schlimmste aber ist es gewesen, daß ich schöne Jahre, welche ich tapferer und besser hätte anwenden können und sollen, in einer Art von nebelndem und spielendem Traum unter Kindern, Bäumen und Blumen verloren habe. Ich erkenne und bereue es jetzt wohl, aber es ist zu spät; diese Zeit, und überhaupt meine Zeit, ist vergangen und verloren. Ja, ich bin ein geborner Träumer, ein Fortschweber und Fortspieler, wenn nicht irgend ein festes Ziel, irgend eine Arbeit oder Gefahr, die plötzlich kommt und plötzlich reizt und treibt, mich aus der nebelnden Träumerei herausreißt. Ich kann auch nach dieser meiner Natur, wenn ich mich als Gelehrten 27 oder Schriftsteller betrachte, zu fast gar nichts kommen, wenn mir nicht gegeben wird, durch irgend ein bestimmtes Handeln, Reden und Vortragen einige helle und klare Funken des Erkenntnisses und Verständnisses hervorzulocken. Ich bin so geboren, daß ich sprechen und reden muß, damit meine Gefühle und Gedanken sich ordnen; [316] ich bedarf der umrollenden und gegeneinander Funken schlagenden Kieselsteine des Gesprächs und der Rede, damit mein bißchen Geist aus mir herauskomme. Die Sperrung meines Katheders war für die Universität wohl kein Verlust, aber für mich ein Unglück: für mich, für einen Menschen, der in persönlicher Eigentümlichkeit stecken blieb und es nimmer bis zur vollen Gegenständlichkeit brachte; d.h. zu dem ruhigen sicheren bewußten Stande den Sachen gegenüber und zur immer heiteren und sonnenhellen Beschauung des Allgemeinen, sondern der nur in dem Besonderen, Eigenen seine einseitige Stärke hat.

Ich muß hier nun doch einige Worte sagen über die Beschuldigungen, die damals gegen mich und manche andere deutsche Männer gemacht worden sind: Ge heime Gesellschaft und Bündelei, Verführung der Jünglinge, Träume von republikanischer Aufbauung und Wiederherstellung des Vaterlandes – diese Überschriften hat man auch über mein kleines Haupt gesetzt.

Geheime Gesellschaften und Bündeleien. Napoleon, damals von Gottes Gnaden – ich habe immer gesagt von Gottes Zorn – war gleichsam Kaiser Europas. Auch Deutschland war nicht mehr da, es war von 1806 bis 1813 völlig dienstbar und zinsbar. Alles war gelöst und aufgelöst, auch die Strebungen und Gedanken der meisten Menschen; alle Gefühle und Gedanken der Sterblichen flogen unstät wie Vögel umher, welchen die Wälder abgehauen und die Nester zerstört sind, und die neue Sitze suchen, wo sie sich niederlassen können. Die Zeit war losgelassen, die Menschen ließen sich los, und vor allen Dingen auch Narren und Abenteurer genug glaubten ihren Wind zu haben und setzten ihrem Narrenschiffe alle Segel bei. Wie sollte es wohl gefehlt haben, daß solche leichte Windvögel mit ihren Albernheiten, Gaukeleien und Tollheiten, besonders mit ihrer Geheimniskrämerei in dem damaligen Gewirr und Strudel der Dinge nicht auch mich zuweilen angeflogen hätten? Aber [317] doch haben sie mich wenig geplagt. Vielleicht mochte der Instinkt, der als ein seiner geistiger Atem zuischen den Menschen hinweht, ihnen sagen, daß ihre Irrlichtfeuerchen an meinem Eise erlöschen würden. Ich kann und darf hier sagen, daß auch kein einziger solcher Thoren oder Gauche mich nur eine Stunde getäuscht hätte. Denn wie neblicht und träumerisch es auch oft in meiner inneren Welt aussah, für die äußeren Dinge hat mir Gott den klaren Blick und leichten Verstand verliehen, und ich habe nimmer schwer gehabt, Schwarz und Weiß und schwarze und weiße Menschen zu unterscheiden. Der Geheimnisse und geheimen Gesellschaften aber bin ich selbst in der Jugend nicht lüstern gewesen, wo doch die Geelschnäbel so leicht von blanken Dünsten und Schimmern gelockt werden, und habe sie in den männlichen Jahren aus Überzeugung und Gewissenhaftigkeit fern von mir gehalten. In Orden bin ich freilich gewesen: zuerst als Knabe in dem oben erzählten Grobbrodesserorden; zweitens als Student in Greifswald in einer Verbindung, welche auch bloß auf Tugend lautete und wirklich keine andere Mysterien haben wollte als sittliche Reinheit und unbescholtene Tapferkeit. Es war eine Gesellschaft von zehn bis zwölf Jünglingen, zu welchen ich, mein Bruder Fritz, der Dichter Karl Lappe A80 u.s.w. uns gesellten; sie nannten sich die Verbündeten Brüder, Fratres Conjuncti. Leider kühlte sich bei mir die Begeisterung für diese Verbrüderung bald ab, indem ich bald bemerkte, daß ein paar Jünglinge, welche darin fast obenan standen, schon in andern geheimen Verbindungen mit verbuhlten Dirnen standen. Doch deklamierte ich ihnen bei meinem Abgange zur Universität Jena über einer Bowle Punsch noch ein bombastisches Abschiedslied vor, aus welchem folgender Vers noch in mir haftet:


Brüder, fester als der Brocken

Sollt ihr stehen und bestehen,

Bis des Alters weiße Flocken

Schnee euch in die Locken wehen.


[318] Dies war auch meines Ordenswesens Ende; denn dieser Tugendbund war in Jahr und Tag in sich selbst erloschen. Von allen andern landsmannschaftlichen und Ordensverbindungen, wie sie genug auf den Universitäten lebten, habe ich mich frei erhalten, sogar mit Gefahr, diese meine Freiheit gelegentlich verfechten zu müssen. Späterhin, als in Deutschland der Tugendbund A81, der ja edelste vaterländische Zwecke gehabt haben soll, als ein gefürchtetes Gespenst vor Napoleon und den Franzosen stand, ist auch mir, wie wohl vielen andern Biedermännern, die Ehre angethan worden, daß man mich für ein Mitglied desselben gehalten hat. Ich erinnere mich noch meines herrlichen Grafen Geßler, wie er einmal des Morgens, gleichsam wie mich überraschen wollend, mit freundlich schelmischer Miene mich aufs Korn faßte, sprechend: »Und Sie sitzen hier und sind nicht nach Schweidnitz? Der Stein ist ja heute früh dahin gefahren; der Tugendbund wählt sich einen Obermeister für den verstorbenen Scharnhorst.« So war die Meinung und der Glaube der Menschen davon verbreitet. Ich aber habe so wenig um diesen Tugendbund gewußt und mich so wenig um ihn gekümmert, daß ich nicht einmal seine späterhin gedruckten Gesetze gelesen habe. Aber freilich das kann und will ich nicht leugnen, in einem sogenannten formlosen Männerbund – denn so hat die Anklage später gelautet, als man keinen wirklichen Männerbund entdecken konnte – in einem formlosen Männerbund bin ich gewesen und bin wohl, wie mir deucht, noch darin. Solcher Bund schloß sich damals in der schweren, gefährlichen Zeit ohne alles Zuthun der einzelnen von selbst; ein solcher Bund ist in allen Zeiten dagewesen, schließt sich aber in böser Zeit durch einen Instinkt der wirklichen Tugend enger und wärmer aneinander; solcher Bund wird ja gottlob, auch wann ich und meine Kurzlebigkeit lange vergessen sein wird, noch unter den Menschen bestehen. Was edel, wahr und tapfer ist und mit Knechtschaft, Weichlichkeit und Lüge keinen Vertrag [319] eingehen will, was die Kraft hat aus sich und andern Funken herauszuschlagen, findet sich im sicheren aber unbeschwornen Bunde zusammen. Dieser Bund hat damals lebendiger bestanden, weil alle Geister durch ungeheure Sorgen und Hoffnungen erweckt waren. Man hat damals grade das Gemeinsame, das Tapfre und Vaterländische in Art und Gesinnung, was einer für seinen Teil vielleicht haben mochte, durch jenen Instinkt leicht herausgefühlt. Diese Gemeinsamkeit hat damals die allerverschiedensten, in Meinungen nämlich und Ansichten verschiedensten Männer, miteinander verbunden. Durch solche Gemeinsamkeit der Gesinnung, welche damals die einzige Tugend war, welche man verlangte, bin auch ich mit vielen würdigsten Männern, denen ich nicht wert bin die Schuhriemen aufzulösen, in Verbindung gekommen; sie haben mich redlich und tapfer für das Gute geglaubt. Drei dieser mich weit überragenden Männer muß ich mit Dankbarkeit hier als solche nennen, welche durch Bezeugung und Bekennung, daß sie mich einen redlichen Mann glaubten, mein Schicksal, das mich sonst vielleicht tiefer hinabgestürzt hätte, im bösen Laufe gehemmt und an höherer und höchster Stelle eine bessere Meinung von meiner Persönlichkeit gestärkt haben. Sie waren: der Freiherr vom Stein, Niebuhr und Friedrich Albert Eichhorn.

Ich habe hier nicht zu untersuchen, wann und ob es erlaubt ist sich zu verschwören und zu verbündeln; ich spreche nur meine ehrliche Meinung aus, daß ich nach meiner Kenntnis von dem deutschen Charakter selbst in der bösesten Zeit, wo wir von dem schändlichen welschen Joche unter allen verschiedensten Titeln der Knechtschaft belastet waren, von geheimen Verbindungen nichts Großes erwartet habe, sondern allein von der allgemeinen in alles Volk durchdringenden Gesinnung. Ja, ich bin aus Grundsätzen so sehr ein Feind alles Geheimen, daß ich in der Zeit meiner Jugend zwischen den Zwanzigen und Dreißigen, wo die Freimaurer in meiner Heimat alles für sich mauerten und zumauerten und oft [320] über Würden und Stellen verfügen konnten, wo nahe Verwandte, die in diesem geheimen Orden mächtig waren, viel in mich drangen, allen Lockungen und Zumutungen der Art tapfer widerstanden bin. Ich weiß nicht, was ich thun würde, wenn ich König oder Fürst wäre: ich glaube, ich würde gegen die armen Freimaurer nicht mit Feuer und Schwert wüten, wie die Jesuiten in Spanien und Portugal, weil sie fühlten, daß jene in ihren verbotenen, verborgenen Kram hineinpfuschen könnten, mit blutiger Grausamkeit gethan haben; aber das weiß ich, daß eine Gesellschaft, die auf Geheimlehren und Geheimweihen beruht, der Idee des Staates und vollends der Idee des protestantisch christlichen Staates widerspricht, welche auch im Christentum alle geheimen Gesellschaften und vornehm geheimen Lehren verabscheuen muß: denn nach unsrer heiligen aus der Bibel geschöpften Lehre gehört alles Überschwängliche und Geheimste des Göttlichen und Himmlischen dem Schuster ebenso wie dem Bischofe; wir dürfen nichts Esoterisches dulden, das einzelne Geweihte und Geheimnisträger vor den kleinen gemeinen Leuten gleichsam vornehm voraus oder für sich haben wollen.

Aber dein Gedächtnis ist hier zu kurz, wird mir einer einwenden, du hast ja oben erzählt, wie du mit fremden Namen sogar auf Pässen gereist bist, unter fremden Namen in Berlin und Breslau gelebt hast – und das wäre nicht Geheimniskrämerei? Freilich. Aber ich frage jeden Billigen und Verständigen, ob solches in der Zeit der Unterjochung und Gefahr oder des Kriegs nicht eine ganz natürliche und unschuldige und deswegen auch bei Großen und Kleinen gewöhnliche Not ist, versteht sich, wenn diese Not nicht für Verbrechen, sondern gegen Erbrechen und Verbrechen gebraucht wird. Denn den Mann will ich noch sehen, der sein Leben so um Nichts hinwirft. Ich wäre bei all meiner deutschen Unschuld und Redlichkeit, welcher ich mir heute im Jahre des Heils 1840 bewußt bin, wie ich mir ihrer in den Jahren 1809 und 1812 und 1819 bewußt war, wohl [321] ein prächtiger Gimpel gewesen, wenn ich gemeint hätte mit meinen auf E. M. Arndt lautenden Pässen durch Franzosen und Franzosengenossen und ihre an allen Orten laurenden Späher reisen und neben ihnen weilen zu können. So habe ich mehrere Namen mit A geführt (denn in diesem Buchstaben bin ich stets geblieben), als da sind Allmann, Amsberg, vielleicht andere, deren es mich nicht mehr erinnert. Auch in der Zeit des Kriegs habe ich in Briefen, welche mit der Post liefen, nur die alleralltäglichsten Dinge mit meinem wirklichen Namen unterschrieben. Da man weiß, daß unter solchen Verhältnissen Freund und Feind die Briefe erbricht, daß viele derselben nimmer an die rechte Stelle, sondern in wildfremde Hände kommen, hütet man sich, auch selbst durch ganz unschuldige und gleichgültige Nachrichten, die doch einer falschen oder bösen Ausdeutung unterliegen können, sich selbst oder seine Freunde und Briefwechsler bloßzustellen. Auch wenn man aus dem Herzen oder Hause ganz unschuldige Dinge zu melden hat, wozu man keine Fremde als Beiständer und Mithorcher wünscht, ist es wohl begreiflich, daß man durch echte Namensunterschrift sie nicht in Persönlichkeiten, die sie nichts angehen, einführen will. Ich meine, hierhinter stecke kein dolus malus, sondern es sei ein erzwungenerdolus bonus, der dem fremden dolus malus, der verbotenen bösen Luft der Neugierigen oder Späher, ausweichen will.

Und Jünglinge hätte ich verführt? Ich will vor Gott und vor allen Redlichen verloren sein, wenn man mir einen einzigen nennt, den ich zu böser Bündelei oder nur zu dummer Narrheit verleitet hätte. Habe ich in ungestümer wilder Zeit, wo alles aus seinen gewohnten Ufern trat und daraus treten mußte, auch mitunter ungestüme und uudhiusliegende Worte gebraucht, wie sie der ordentliche oder matte Friedenszustand nicht hören mag, so waren sie an Männer gerichtet und nicht an unbärtige Jünglinge, auf das Ziel der Abschüttelung und Zerbrechung fremder [322] Tyrannei gerichtet. Jünglinge, wo sie in meinen Kreis geraten sind, habe ich immer in ihre gebührlichen Grenzen des Wartens und Hoffens gewiesen und auf eine Zukunft hin, wo ihnen der Bart der Kraft und des Verstandes gewachsen sein würde. Keiner ist auch weniger gemacht als ich, breite Kreise um sich herum zu ziehen oder sich in solche Kreise hineinziehen zu lassen, vollends Genossenschaften oder große Verbündungen und Verbrüderungen zu stiften. Ich bin nimmer ein Mensch der öffentlichen großen Gesellschaften und Gelage, des Schaugepränges und der Schanrednerei noch irgend einer Prangerei, Schauerei und Rednerei gewesen, wie viele tausend Namen ihre Arten tragen mögen, und wie viele unbescholtene Männer an solchen Lärm- und Schaugerichten auch ihr Behagen stillen mögen. Ich bin von Natur ein einsamer Vogel, eine fringilla caelebs, dem am liebsten in der Einsamkeit ist oder dem in Gesellschaft von Zweien oder Dreien zu fliegen und sein kurzes eintöniges Finkenlied zu pfeifen immer am fröhlichsten gedeucht hat; bin nimmer ein Mensch der rauschenden und schimmernden Gesellschaften, der Klubs, Kasinos und Ballhäuser gewesen, sondern lieber die stillen Fußpfade des verborgenen Lebens gewandelt, wo das bißchen kurze Menschenglück sich am sichersten und fröhlichsten ergehen mag.

Doch es bedarf hier keiner breiten Erörterungen. Wie sehr ich die Achtung und Ehrfurcht, welche jeder Gewissenhafte der Jugend schuldig ist, immer anerkannt habe, wie fern ich von der Narrheit gewesen bin, sie vor der Zeit aus ihrem dunkeln und schönen Blütentraumdasein auf die gewöhnliche kalte und oft kahle Landstraße des Lebens hinauszutreiben, la gar für ein politisches Streben und Wirken, wofür sie noch keine Reise haben, sie zu fanatisieren, darüber habe ich mich schon vor fünfunddreißig Jahren unverhohlen ausgesprochen, und die Ansichten, welche ich im Jahr 1805 darüber hatte, hatten die Jahre 1813 und 1815 nicht verändern können, und sind noch jetzt, im laufenden Jahre 1840, [323] die meinigen. Ich rücke darüber folgende Stelle hier ein, die sich in einem damals von mir ausgegebenen Buche findet 28:

»Aber die Staatsverfassung – sollte sie nicht ein wichtiger Teil der Musik (der Herzens- und Geistesbildung) sein? und nicht einmal hast du sie genannt. Welche sonderbare Vernachlässigung! – Das ist es keinesweges. Sie gehört noch gar nicht hieher und wird künftig für jeden, dem sie etwas Ernstes dünkt, ein eignes ernstes Studium ausmachen müssen. Was ein Staat ist und nicht ist, was er war und sein kann, das haben meine Jünglinge durch die Kunde der alten Sprachen, Geschichte und Erdkunde, kurz durch die vollständigste Archäologie, schon gewissermaßen abgesehen. Wer sich damals durch diese allerdings großen menschlichen Gegenstände angezogen fühlte, der ward, ohne daß ich es hindern konnte, ein Politiker und hatte den reichsten Stoff zu verarbeiten. Übrigens will ich nicht gern, daß meine Jünglinge Politiker sein sollen, zufrieden, daß sie die höchsten Begriffe von menschlicher Kraft, von kosmischer und politischer Größe, vom poetischen und heroischen Leben mit allem Größten und Schönsten des Altertums empfangen. Sie sollen die Blüte noch nicht verlieren, die Wahrheit der Dichtung und des Mythus soll ihnen noch die höchste bleiben. Wer politisch wird, nimmt eine bestimmte Richtung wie der Falke, der auf den Raub schießt, und bindet sich irdisch an die Erde fest, um so unseliger, je weniger das Leben ihn noch bindet. Ich breche damit nicht den Stab über die politischen Männer; sie wissen, wo sie stehen und was sie sollen; auch kann ihr Wollen überirdisch oft über alle Formeln und Schranken fliegen, selbst in der gebundenen aber edlen Wirksamkeit kann ihr Leben frei bleiben. Was soll aber aus dem Jünglinge werden, dessen Leben noch nirgends eingreift, und der seinen Geist fesselt, [324] ehe der Leib es ist? Ich sage daher gradeaus: Alle politische Erziehungen taugen nichts und machen halbe Barbaren. Die Sparter, die Kreter, die Römer hatten eine solche. Wann und wo haben sie liebenswürdige und menschliche Tugenden gezeigt? wann und wo sind sie über die Gerechtigkeit des Gesetzes in Milde hinausgegangen? Waren sie glücklich und machten sie Glückliche? Wie kann dies ein Volk, das nur Disciplin hat?«

(Nun folgt ein nicht ganz unrichtiges, doch zu hartes Urteil über England und die Engländer; dann heißt es weiter:)

»Es ist schön, sein Vaterland lieben und alles für dasselbe thun, aber schöner doch, unendlich schöner, ein Mensch sein und alles Menschliche höher achten als das Vaterländische. Der edelste Bürger kann auch der edelste und unbefangenste Mensch sein; aber um dies sein zu können, muß man keinen zum Bürger machen, ehe denn er Mann ist. Wohl aber werden meine Jünglinge so gebildet in das politische Leben eintreten, daß sie des besten Staates und der einfachsten Gesetze am würdigsten sind; daß sie nicht gern etwas thun noch dulden an sich und andern, was eines freien Mannes unwürdig ist; daß ihnen als Beamten und Bürgern keiner mit unreinen Absichten und Händen nahen darf, ohne sie blutig zu erzürnen. Sie werden den Mut haben, lieber edel zu entbehren als schändlich zu haben, und ihr kühner und unschuldiger Sinn wird sie immer mit den besten Bürgern und Herrschern verbinden, das Beste zu thun.«

Und republikanische, demagogische Aufbauung und Wiederherstellung des Vaterlandes? Es war, als alles niedergerissen und zertreten lag, als alle die blutigen aber losen und schlechtverbundenen Arbeiten und Anstrengungen der Jahre 1805,1806 und 1809 uns nur noch tiefer in Schmach und Jammer hinabgedrückt hatten, wohl jedem deutschen Herzen erlaubt, indem es aus dem bittern [325] Elend flehend zum Himmel emporblickte, in weite unbestimmte Fernen der Hoffnung zu schauen, ob sie nicht irgendwo den Schimmer einer Rettung durchblicken ließe. Wie die Hoffnung selbst ja eben dadurch nur Hoffnung ist, daß sie uns ungewisse und schwebende Bilder, Geßalten und Güter vormalt, die wir kaum mit den Augen, geschweige mit den Händen, ergreifen können, so war es in jenen Tagen des Jammers und der Schmach wohl natürlich, daß auch die Besonnensten und Verständigsten viel mit Phantasien spielten. Ich habe auch die meinigen gehabt, auch meine schimmernden Flatterbilder der das arme Leben vergoldenden Hoffnungen; doch glaube ich nicht, daß sie zu den närrischesten und abenteuerlichsten gehört haben, blutdürstig und mordsüchtig, wie man manche der späteren Jünglingsverbrüderungen gescholten hat, sind sie nicht gewesen. –Aber ich habe eine gefährliche Einheit des deutschen Volks gepredigt. Ich bin da aber nur ein kümmerlicher Spätling, ein armseliger Nuchprediger, wenn ich an so viele berühmte Vorprediger denke, die aus ganz anderem Herzen und Munde geredet haben; ich meine, diese Predigt ist so alt als die Geschichte unsers Volks. Bei der Zerspaltung der Stämme und Herrlichkeiten desselben ist sie auch fast immer nötig gewesen; und wie sollte sie selbst heute noch nicht nötig sein? heute, wenn wir der Evangelisten gedenken, welche die Russen und Franzosen uns immer ungebeten über die Weichsel und den Rhein zuzusenden belieben? Ich habe allerdings, indem ich nur im Herzen und im Auge hatte, wie die Mächtigsten in Deutschland, damit sie den fürchterlich hinterlistigen und habsüchtigen Nachbarn besser widerstehen und unsern deutschen Namen beschirmen und erhalten könnten, noch mächtiger und stärker gemacht werden müßten, den Wunsch und die Hoffnung ausgesprochen, es möchten bei der Zerbrechung der fremden Bande und der Wiederherstellung der deutschen Freiheit, wie es ja bei den letzten Friedensschlüssen genug geschehen war, noch mehrere kleine [326] Fürstentümer in den mächtigsten deutschen Staaten verschwinden. Da habe ich ungefähr so empfunden und gedacht, wie der Reichsfreiherr vom Stein, als seine Reichsherrlichkeit zerbrochen und dem Fürstentum Nassau unterworfen ward, welcher damals, sich gegen solche Gewalt sträubend, öffentlich erklärte: er sehe weder Not noch Nutzen für das liebe deutsche Vaterland darin, daß der Fürst von Nassau durch Verschlingung seiner Reichsherrlichkeit um ein paar Quadratmeilen wachse, habe aber nichts einzuwenden, sondern werde es mit Freuden erleben, wenn sein Ländchen nebst Nassau und vielen andern kleinen Fürstentümern zur Mehrung deutscher Stärke und Wehrhaftigkeit in den mächtigen Staaten des Vaterlandes untergehe. Es ist des Breiteren und Weiteren in meinen Büchern zu lesen, wie ich es empfunden und gemeint habe. Wir hatten die Beispiele und Vorgänge schon vor zwei Jahrhunderten in und nach dem dreißigjährigen Kriege, wir hatten sie in den Jahren, wo unsre Schmach begann, in den Jahren 1802 und 1803 zu Luneville und Regensburg und von 1805 bis 1812, wo Napoleon und seine Länderschneider und Ehrenverkäufer Talleyrand und Bassano die Einziehung und Unterstellung und Unterschiebung – denn man stellte nicht, sondern man schob – der kleineren deutschen Reichsherren oft mit der verhöhnendsten und ausgerechnetsten Hinterlist und Grausamkeit machten. So waren Erzfürstentümer, Fürstentümer, Reichsstädte, und wie viele Grafschaften und Ritterschaften, wie viele prächtige und reiche Abteien und Stifter plötzlich durch einige Federstriche wie durch einen alles wegfegenden bösen Wettersturm weggeblasen. Ich hatte diese Beispiele ganz jung vor mir, sie waren ja endlich sogar durch deutsche und europäische Verträge bestätigt und besiegelt – wehe meinem deutschen Herzen und meiner deutschen Ehre, wenn ich auch mitten in der Aufregung der schlimmsten Stunden jener Jammerzeit, mitten in der Erbitterung und Empörung über manches Gelittene und Gethane so Ungerechtes und [327] Grausames hätte denken und entwerfen können als jene Fremden, die über die uralten Herrlichkeiten des verwitterten deutschen Reichs die schrecklichen Lose warfen! Ich meinte keine Ehren zu schänden und keine Höhen zu erniedrigen, sondern hoffte, indem ich sie mit größerer Ehre und Hoheit auf das innigste zusammenband, mit dem also gestärkten und vergrößerten Deutschland alle vergrößern und erheben zu können. Mögen ihnen nur künftig keine schwereren und gefährlicheren Vereiniger kommen! Denn nach den europäischen Entwickelungen wird ihr Tag einmal kommen, wie der Tag für die stille Hinlegung des Scepters und Schwerts Karls des Großen gekommen ist.

Und endlich mein demagogischer Republikanismus für das wieder herzustellende Deutschland? Wahrlich solche Tollheit als der Gedanke einer deutschen Republik oder gar mehrerer deutscher Republiken ist auch nicht einen Augenblick in meinem Leben nur über mein Gehirn hin, geschweige in mein Gehirn hineingelaufen. Ich hatte mich von Kind auf (ich glaube, durch meine historische Leserei, auch wohl durch den politischen Sinn und Glauben meiner Familie) an das Königtum und die Monarchie so gewöhnt, ja in dasselbe hineingelebt, daß ich auch der besten Republik in ihrer besten Zeit kaum mit Gerechtigkeit gewogen war, und daß ich namentlich für die Engländer gegen die Amerikaner, für die Könige und Fürsten gegen die französische Republik schon in frühester Jugend immer Partei nahm. Später, als ich über die Dinge und Einrichtungen dieser Welt auch denken lernte, war mein Facit: daß große Freistaaten ein Unding sind, das von Erschütterungen zu Erschütterungen fortzitternd bald seinen glücklichen und listigen Einfänger und Vogelsteller finden wird, der damit durchgeht wie Cäsar mit Rom und Napoleon mit Frankreich; daß kleine Republiken jetzt zwischen den großen Monarchien sich kaum selbständig behaupten können; daß aber ein wohlgeordnetes, gesetzliches und in der Majestät [328] seines Herrscherstammes verehrtes Königtum alle möglichen Vorteile eines Freistaates darbietet und aller seiner Erschütterungen und Ge fahren durch einzelne ungeheure Männer oder wilde Rotten glücklicher und stiller ermangelt. Ich bete in dem Bilde meines Königs vorzüglich die schöne Vorstellung der altnordischen Sprache an, worin er der Still er heißt. Es ist in der Monarchie, die allerdings oft in zu tiefen Schlaf und Schlummer fallen kann, doch leichter die nötige Lebensbewegung hervorzubringen als es in der Republik ist, die zu stürmische Bewegung zu hemmen.

Ich habe denn, wie ich bekannt habe, seit jenem Unglück, das mich aus meiner akademischen Wirksamkeit setzte, Jahre durch mehr geträumt und gespielt als recht ist, habe auch bei einer zahlreichen Familie und bei manchen andern Verlusten, welche die Zeit mit sich gebracht hatte, da mir nun jährlich eine Einnahme von Vorlesungsgeldern von 500 bis 700 Thalern abgeschnitten war, mich nach meiner Decke strecken und zusammenziehen lernen müssen; wodurch auch wohl eine gewisse Bäuerlichkeit und bäuerliche Einfalt und Einfachheit, welche gewisse Gönner allein meiner Luft und meinem Geschmack daran beigelegt haben, noch mehr in mein äußeres Leben gekommen sein mag. Das hat manche Klemmen gegeben und giebt es ja noch; aber ein braves Weib, gesunde wohl geborne Kinder und viele herzige treue Freunde haben mich aufrecht erhalten und meine Schwächen und Gebrechen durch Freundlichkeit und Liebe getragen und übergetragen. An den großen oder fürchterlichen Erscheinungen und Entwickelungen der Zeit, dem griechischen und spanischen Aufruhr, dem Deutschen Zollverein, den drei großen Pariser Tagen, wie die Franzosen sie nennen, dem belgischen Aufstand, den traurigen hannöverschen Händeln, den preußischen Zerwürfnissen mit seinen katholischen Erzbischöfen und mit Rom habe ich mit doch noch nicht ganz stumpfen Sinnen teilnehmen und über einzelnes auch meine Papierschnitzel ausstreuen müssen A82. Aber mitten unter diesen großen [329] Weltbegebenheiten hat auch mich in jenen Jahren aus heitrer Luft ein Schlag getroffen, wie ich noch keinen auf Erden gefühlt hatte. In dem schönsten Sommer 1834 an einem schönen hellen Nachmittage, den 26. Junius, nahm der Rhein mir meinen jüngsten sechsten Sohn, ein Kind von neun Jahren, unter so grausen Umständen und Zeichen, daß sie nicht erzählt werden können. O wir arme Sterbliche! Gott hatte gewinkt und gewarnt; aber was hilft uns Blinden Warnung und Wink? Wir müssen seine Verhängnisse erfüllen. O es war ein so schöner und feuergeistiger Knabe, auf welchen ich große Hoffnungen gebaut, über welchem ich am meisten gedankt und gebetet hatte! Warum dieses Opfer dem Rhein, und dieses Opfer grade von mir? War meine Wonne über die Wiedergewinnung desselben zu irdisch, mein Dank zu wenig himmlisch gewesen? hatte ich das süße Kind zu sehr geliebt? Kindische Fragen! Gott weiß es allein, der uns liebt und uns richtet. Ich aber muß diese Wunde nun fühlen, so lange ich hier unter den Schatten umherwandle; der alte Stamm, der bis dahin noch ziemlich grad in allen Stürmen gestanden war, fühlt sich erschüttert und neigt seine gesenkten Äste und Zweige dem Grabe zu; der Geist aber, der noch unter seiner Rinde zuckt, muß für die irdischen Freuden immer tiefer in das Spiel mit den Geistern der oberen und der unteren Welt hinein. Ich kann mir nun das alte Liedchen des alten Äsopus, das ich mir vor vierzig Jahren übersetzte, zum Morgen- und Abendrot der untergehenden Tage vorsingen:


Ohne den Tod wie entflöh' einer dir, o Leben? Zehntausend

Sind deiner Plagen, nicht leicht weder zu tragen noch fliehn:

Süß und hold ist, was die Natur trägt, Land und Gewässer

Und die Gestirne, die Lichtkreise der Sonn' und des Monds;

Alles andere aber sind Schrecken und Schmerzen, vergeltend

Schreitet dem Glück, was du hast, eilend die Nemesis nach.


Doch verleiht der gnädige Gott zwischen diesen Tönen und Gesichten des alten frommen Heiden dem Greise zuweilen auch christliche Klänge und Gesichte.

[330] Hier ist eigentlich schon das Ende des Endes. Denn über alle die großen Erscheinungen und Entwickelungen der letzten zwanzig Jahre hier auch noch meinen Senf auszuschütten wäre an dieser Stelle teils etwas ganz Unangemessenes, teils auch nach meiner Weise etwas Unmögliches. Auch das Verschwiegene hat seine Anmut 29 (oder seine Gunst) singt schon Pindar. Wer mag auch immer auf Dornen spazieren oder Dornspitzen auf die Köpfe der Leute säen? Doch dringt mich mein Herz, hier zuguterletzt in wenigen kurzen Strichen anzudeuten, wie die Zukunft und die Not meines deutschen Vaterlandes den andern großen Mächten Europas gegenüberzustehen scheint, und welche Ergebnisse, Entwickelungen und Bereitungen der Dinge in den nächsten Menschenaltern wahrscheinlich eintreten werden oder eintreten sollten.

Schon oben habe ich an vielen Stellen geklagt, daß man auf den Kongressen zu Wien und Paris und bei den Verhandlungen über die Einrichtung, Wiederherstellung und Befriedigung Europas auf das Herz des Weltteils, auf Deutschland, zu wenig Rücksicht genommen habe; daß ihm mehrere seiner notwendigsten und natürlichsten Vorteile damals nicht bloß verweigert, sondern wieder aus den Händen gewunden seien, und daß man diesen Bundesstaat mit mehr als dreißig verschiedenen Herrschaften recht absichtlich (wenigstens die drei fremden Hauptmithändler und Mitentscheider, wie es scheint, absichtlich) ohne seine ihm von Gottes und Rechts wegen gebührenden Grenzen und gebührende Macht habe so liegen lassen, damit er bei nächst ausbrechenden Kriegen für alle Völker wieder der blutige Tummelplatz werden könne. Denn o je! wie tüchtig, fleißig, tapfer unser Volk auch sei, wie vieles fehlt uns, als ein Ganzes betrachtet, um ein ordentlicher, wehrhafter Staat zu sein? Ich winke nur auf einiges hin:

[331] 1) Unsre ganze Westküste ist flankiert oder abgeschnitten und in fremder Gewalt, und im Fall eines Krieges sind wir an jener Seite sehr gelähmt. Belgien und Holland haben unsre Küsten besetzt und können unsern Hauptfluß, den Rhein, mit allen seinen größeren und kleineren Zweigen sperren. Ebenso steht es auf der Nordwestküste: Elbe, Weser, Ems sperrt uns der Engländer, wann er will, zu jeder Stunde. Sein Leopard hat sich in Helgoland auf die Lauer hingelegt und kann von dort leicht von dem einen Fluß zu dem andern hinspringen. Es ist in Wien, während man mit unzeitiger Gelindigkeit und Sorglosigkeit den Engländern für sich und für Hannover alles, was sie begehrten, nur zu leicht hingab, von der Zurückgabe Helgolands an Deutschland nicht einmal die Rede gewesen. Helgoland aber hat die Elbe und Weser unter seinen Augen liegen.

2) Unsre lange Nordküste längs der Ostsee ist leider in jedem Kriege ebenso bloßgestellt: denn wir haben auch nicht ein einziges Orlogschiff. O du altes kriegerisches Germanien, dem einst die Völker sich verneigten! wohin? – –

3) Und doch wenn wir die erste beste Landkarte auflegen und betrachten, finden wir, daß Deutschland so viel Küsten bat als Frankreich, wenn wir längs der Nordsee von Dünkerken bis zur Eider und an der Ostsee von Kiel bis Tilsit messen. Die Bucht der Adria, die wir in unserm Südwesten berühren, will ich gar nicht einmal mit einrechnen. Was fällt uns dabei ein? Vieles fällt uns ein, woran diejenigen nicht gedacht haben, die vor einem Vierteljahrhundert das Los über die Länder warfen, woran aber unsre Enkel und Urenkel denken müssen, damit wir nicht wieder in welthistorische Jämmerlichkeit und Ohnmacht und in die Verachtung der Völker zurücksinken. Denn:

4) erschrecken wir nicht und schämen wir uns nicht im Angesichte Europas, selbst im Angesichte des kleineren Skandinaviens und Neapels, daß wir nicht ein einziges deutsches Kriegsschiff haben? Wie stand es vor vierhundert Jahren? [332] Damals beherrschten die Ostseestädte mit ihren Kriegsschiffen die ganze Ostsee, die Städte des Niederlandes und der Nordküste die ganze Nordsee. An skandinavische und russische Kriegsflotten war damals kaum gedacht; die damalige französische und englische Seemacht hätte sich mit der Hälfte der deutschen nicht messen können. Ist also das Gegenwärtige nicht ein tiefes Weh? Wir haben noch die kühnsten und besten Schiffer und Matrosen von der Welt – jeder Germane ist auch ein geborner Seemann – welche die englischen und amerikanischen Flotten für alle ihre Siege stärken helfen; wir haben die besten, reichsten Eichenwälder – und wir haben kein Kriegsschiff.

5) Will ich denn etwa, daß Preußen auch eine Kriegsflotte bauen soll? – denn es beherrscht ja die längste Strecke der deutschen Ostsee – daß Preußen, welches schon seiner Lage nach für so viele andre deutsche Fürstentümer stehen und einstehen soll, seine Kräfte durch einen Flottenbau noch mehr zersplittern soll? Nein, das will ich nicht – denn was sollte uns selbst eine Flotte von zehn bis fünfzehn Orlogschiffen und zwanzig, dreißig Fregatten dort Großes frommen, schon den skandinavischen und russischen Flotten gegenüber, geschweige den Flotten der westlichen Mächte? – sondern ich drücke auf diese unsre Blöße nur so sehr, um auch den Einfältigsten klar zu machen, was Deutschland seit Jahrhunderten und in unsern Tagen alles verloren, versäumt und vergessen hat, und was von den Fremden mit wohl berechneter listiger Absichtlichkeit für Deutschland alles versäumt und vergessen worden ist.

6) Fichte in seinen Grundzügen des Staatsrechts hat idealisch wundersame Ansichten von dem Handel und Verkehr der Völker. Auf der einen Seite fürchtet er das Gefährliche und Verderbliche, was in zu großer Ausdehnung und in zu großem Reiz des Handels liegen kann; auf der andern Seite aber begegnet ihm auch die Notwendigkeit, daß ein Volk, welches nicht ganz in Barbarei und in erstarrender [333] und verstockender Absonderung stecken bleiben will, durchaus Handel und Verkehr mit Fremden, und also auch die Macht haben muß, diese zu behaupten und zu verteidigen. Er trifft da auf seltsame Resultate, da er allen Verkehr mit Fremden und alle Verteilung der überflüssigen Luxusartikel, ja gleichsam die ganze Führung und Leitung des Handels, unmittelbar in die Hände von Staatsbeamten überliefern will; aber er winkt bei allem dem doch, zum Teil im Widerspruch mit seinem System, auf jene eben angedeutete Notwendigkeit hin.

7) Es entsteht denn das notwendige unvermeidliche Unglück für unsre mächtigen deutschen Staaten und für ganz Deutschland bei dem Ausbruche eines Krieges:

a) daß unsre Küsten und unser Handel schutzlos und von Freund und Feind verletzlich und angreiflich sind;

b) daß, wann wir selbst in Krieg verwickelt werden, wir der Gunst von Seemächten bedürfen, deren Mitwirkung wir, wann wir selbst seemächtig wären, aus andern Gründen nimmer suchen noch annehmen würden; und daß wir

c) bei Beendigung solcher unserer Kriege bei den sogenannten Friedensschlüssen die Bundesgenossenschaft solcher Seemächte meistens sehr teuer bezahlen müssen: Bedenkt nur ein bißchen die Friedensverhandlungen und Friedensschlüsse von Ryswik, Utrecht, Luneville, Paris etc. etc.

Was soll man hieraus lernen?

8) Das soll man daraus lernen und soll es immer und ewig in nnsre Geschichtstafeln, ja in die zu leicht verlöschlichen Erinnerungstafeln unserer Herzen schreiben, wenn das Gedächtnis unserer besseren Vorzeit, als Deutschland wirklich noch glücklich, glorreich und mächtig war, jemals wieder in dumpfe gefühllose Dämmerung versinken will, daß die Küsten Hollands und Belgiens und der Wachposten, den England sich auf Helgoland angelegt hat, einst so wahrhaftig unser sein müssen, als ihre Ströme das Herzblut unseres Fleißes und unserer Bildung, Kunst und Macht dem Ocean und den Weltteilen zuführen. Wir hatten Holland und [334] Belgien mit unserm besten Blute wieder befreit und erobert. Niemand erinnerte sich der Vergangenheit; kaum einzelne bedachten die Notwendigkeiten der Gegenwart. Für einen kleinen deutschen Fürsten blieb ein Stückchen Land im Ardennerwald und an der Maas mit dem deutschen Bunde verknüpft; das übrige ließen wir uns durch den Neid und die Dummheit der Engländer zur Freude der Welschen alles wieder wegnehmen. Was mußte damals geschehen?

9) Ganz Belgien und der ganze Inhalt der hinzugethanen deutschen Lande mußten den früheren Bünden gemäß als Anschluß unserer Küsten (keine welschealluvion oder allusion, wie Napoleon anspielte, sondern eine deutsche), deutsches Bundesland bleiben und Bundespflicht leisten. Ferner mußte

10) durch den natürlichen Notzwang der Dinge Schritt vor Schritt auch Holland von Jahrzehnt zu Jahrzehnt auch näher an uns heran. Es wird doch einmal wieder zu Deutschland heran müssen; es kann sich zwischen den mächtigen Westreichen England, Frankreich und Spanien, wie jetzt die Weltlage ist und besonders wie die Welthandels- und Kolonieenverhältnisse sind, ohne Deutschland, wenn wir gegen dasselbe nicht immer die Uneigennützigen und Dienstfertigen spielen, auf die Länge nicht behaupten. Hatten wir nun

11) auf diese Weise durch das Gewicht von Belgien und durch andre Züge und Gewichte, welche politische Weisheit gegen Holland anwenden konnte, dieses Holland, eine alte deutsche, von friesischen und sächsischen Stämmen bewohnte, jetzt noch die sächsische leider wunderlich latinisierte Mundart sprechen de Landschaft zu uns herangezogen, bis zu dem Gefühl der Gemeinsamkeit herangezogen, daß Sieg oder Niederlage am Rhein oder auf dem Meere Deutschland und Holland gleiche Macht und gleiche Gefahr bedeute, dann konnten wir an unserer Westnordwestküste, die Kräfte der Küsten von der Ems bis zur Eider mit eingerechnet, eine Flotte von 40 Linienschiffen und ebenso vielen Fregatten [335] halten. Und dann erst verlohnte es sich der Mühe und verlangte es die Politik, daß wir auch unsre Ostsee mit der gleichen Zahl von Orlogschiffen und Fregatten bewehrten. Holstein, Mecklenburg, Pommern, Preußen, bauten diese Schiffe aus deutschen Eichen. Unsre Ostseematrosen und die von Norwegen sind anerkannt die ersten europäischen Seeleute. Was diese deutsche Ostseeflotte an Bau, Unterhaltung und Rüstung kostete, ward jenen benannten Staaten der Ostseeküste in den Bundesleistungen an Mannschaft und Geld angerechnet und vergütet.

Aber wie? wenn du nun auch endlich eine Ostseeflotte hast, woher nimmst du die Häfen für Orlogschiffe? die südliche Ostseeküste hat deren bekanntlich eben nicht sehr gute. Ei! ich will mir in dem Kieler Busen schon etwas zurecht machen, und einen vortrefflichsten Kriegshafen bei Wismar hinter seiner Insel Pöl, der mir hunderte von Schiffen halten soll, – aber freilich Arbeit, Kunst und Geld wird zu solchen Bereitungen und Bauten gehören. – Auch sind Stellen an der Rügenschen Küste zwischen Rügen und Pommern, Greifswald und Wolgast gegenüber, wo sich ein Schiffshalt machen läßt.

Mit diesen beiden Flotten stünden wir ganz auf gleicher Höhe mit Frankreich, in Hinsicht des Bauholzes und der Schiffsmannschaft wären wir den Franzosen vielfach überlegen, noch mehr überlegen wären wir ihnen in Hinsicht der Winde und geographischen Lage: denn das ist Frankreichs Mißlichkeit in Hinsicht seiner beiden Flottenstationen zu Brest und Rochefort am großen Ocean und zu Toulon am Mittelmeer, daß die pyrenäische Halbinsel mit einem gewaltigen Buckel zwischen jene beiden Stationen ins Westmeer ausläuft. Es bedarf seiner weiten Umsegelung wegen beinahe zweimal soviel Zeit zur Vereinigung seiner beiden Flotten, als wir im Falle eines Krieges für die unsrigen bedürfen würden.

12) Die Einrichtungen und Bestimmungen für unsre [336] Heers- und Kriegsordnung bedürfen notwendig bis in alles Kleinste hinein einer größeren Gleichmachung. Aus mancherlei kleinlichen Rücksichten und einer übel angebrachten Zartheit gegeneinander scheint man in so vielen Friedensjahren manche hieher gehörige Fragen gar noch nicht einmal berührt oder absichtlich umgangen zu haben. Im Frieden muß aber alles bereitet und geordnet werden, was der Krieg auf den ersten Glockenschlag der Not erfordert. Wir könnten uns dabei in Napoleon spiegeln, der das Kriegshandwerk verstand. Darin duldete dieser gewaltige Uniformist keine Mannigfaltigkeit. Wie geschwind hatte er in dem Heere des Rheinbundes Bewaffnung, Rüstung, Kleidung – alles, alles seinen Welschen ähnlich gemacht! Solche Gleichmachung ist um so notwendiger, weil Bundesheere im Fall eines Kriegsausbruchs doch nimmer so geschwind auf den ersten Wink der Not beisammen sind als Heere, welche der Gebieter und Lenker einer vollständigen Einheit der Herrschaft mit einem einzigen Wink zusammenschnellen kann.

13) Ein anderes großes Gebrechen, das man wohl ein großes Unglück nennen kann, darf hier durchaus nicht verschwiegen werden. Wir haben es die verflossenen Jahrhunderte mehrmals blutig und mordbrennerisch fühlen müssen und könnten es in dem gegenwärtigen und in den künftigen nur zu bald wieder fühlen. Wir deutsches Volk entbehren jeglichen pragmatischen Staatsgesetzes, welches die Einheit der deutschen Länder im Zusammenhalt und Zusammenband deutscher Fürsten, namentlich bei Vermählungen deutscher Fürsten und Fürstinnen in mächtige fremde Herrscherhäuser sicherte und böse und verderbliche Ansprüche der fremden Herrscher oder der fremdgewordenen Fürsten aus unsern Stämmen zurückwiese. Fast alle europäische Reiche sind.durch dergleichen Grundgesetze gegen Zersplitterung ihrer Lande und gegen verderbliche Einmischung fremder Mächte geschützt. Ein solches Gesetz müßte auch für Deutschland da sein, ein Gesetz, welches besagte, daß in dem Falle, wo dem Fürsten eines fremden Staates durch Vermählung mit [337] einer deutschen Prinzessin das Erbe eines deutschen Landes zufiele, oder wo ein deutscher Fürst durch Vermählung oder Wahl auf einen fremden Thron erhoben würde, deutsche Lande durch solche Verbindungen und Ergebnisse nimmer als Provinzen oder als von fremden Thronen her regierte Landschaften an fremde Herrschaften fallen könnten, sondern daß sie dann dem nächstgebornen Vetter oder Sohn so vermählter oder entfremdeter Häuser zufallen müßten. Wir wollen hier nicht an den Jammer zurückdenken, welchen die Verbürgung der deutschen Freiheit von Frankreich und Schweden über unsere Urgroßväter gebracht hat. Wir wollen nur an die Auguste, Könige von Polen, an die George, Könige von Großbritannien, und an Kriege und Verheerungen denken, welche dergleichen Verbindungen deutscher Lande mit fremder Herrschaft und fremden uns oft feindseligsten Vorteilen und Strebungen über unser Vaterland zusammengezogen haben. Wahrscheinlich wäre z.B. der siebenjährige Krieg nicht als ein vorzüglich deutscher Krieg in unsere Jahrbücher eingeschrieben, wenn Georg der Zweite, König von Großbritannien nicht auch Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg gewesen wäre. Erinnern wir uns auch an die Ansprüche und Vorwände, welche Ludwig der Vierzehnte weiland in Deutschland gräulichsten Gedächtnisses für die unmenschlichen Gräuel, Scheußlichkeiten und Mordbrennereien in der Rheinpfalz und am Oberrhein vorhielt, weil eine pfälzische Prinzessin mit seinem Bruder, dem Herzog von Orleans, vermählt gewesen war. Wir können bei allem diesem unsern ungeschützten Zustande immer noch Gottes Glücke danken, daß die Bourbons mit ihren vielen Seitenlinien in früheren Jahrhunderten nicht mehr in unsre Fürstenhäuser hineingeheiratet haben; aber ein Hüls eng 30! dürfen wir uns wohl zurufen, zumal [338] wenn von möglichen oder wirklichen Verbindungen mit den treulosen Welschen die Rede ist. Was würden zum Beispiel in der jetzigen Weltstellung Frankreich und Rußland darum geben, wenn sie auch unter dem Titel irgend eines deutschen Fürstentums unter den deutschen Bundesgliedern mitsitzen, stimmen und mischen könntenl Darum rufe ich noch einmal Hütet euch!

14) Obgleich wir als Bundesstaat ein Friedensstaat sind, der keinen Reiz haben kann, aus Kriegslust und Eroberungssucht Krieg anzufangen, so können wir uns doch darauf gefaßt machen, daß die unruhigen und eroberungslustigen Nachbarn westlich und östlich uns nimmer als einen Friedensstaat achten, sondern mit List und Gewalt an uns bohren und brechen werden. Da ist die Gefahr denn allerdings eine viel größere und die Arbeit eine viel schwerere als die der beiden Großstaaten im Westen und Osten, welche als eine gewaltige Einheit durch einen Wink in einer gleichen fortdrückenden Bewegung fortgeschnellt werden können, die auch durch den Geist der volkstümlichen Einheit viel mächtiger erregt und zusammengehalten werden als wir Verteilte. Nur in dieser Beziehung, nur im Hinblick auf unsre Wehrhaftigkeit hat mir die größere politische Einigung Deutschlands in den Jahren 1813 und 1815 so wichtig gedeucht. Denn das will ich nicht leugnen, daß die Vielherrschaft neben manchen anderen Vorteilen, die ich hier verschweige, schon den Vorteil hat, daß sie durch die vielen Mittelpunkte, welche zwanzig, dreißig Hauptstädte und Fürstensitze bilden, für Bildung, Kunst, Wissenschaft und Mannigfaltigkeit der Entwickelungen und Gestaltungen eines großen Volkes einen glücklichen und belebenden und das Verderbnis zu großer Massenanhäufungen verteilenden Einfluß übt.Aber vor allen Dingen, daß ein Volk sich wehren und verteidigen könne, daß es nicht jeden Schimpf und Jammer geduldig auf sich sitzen lassen müsse, das ist und bleibt das erste Gebot. Ich springe von dieser [339] großen Wahrheit, die uns Deutschen endlich wohl genug eingebläut sein sollte, wieder auf das Wort und den Begriff Friedensstaat zurück.

15) Dieses fromme Wörtlein Friedensstaat und dieser politische Ausspruch Friedensstaat soll der Bundesstaat sein und kann er seiner Idee nach nur sein, macht eine sehr ernste Mahnung an die deutschen Fürsten. Da eben ihre Vielherrschaft allerdings eine große politische Schwäche mit sich führt und die Verteidigung und Erhaltung der Lande viel schwerer macht als bei konzentrierter Einheit des Befehls, so müssen sie die Ersetzung und Vergütung der Geschwindigkeit und Beweglichkeit der Macht, welche die Einheit des Befehls mit sich führt, durch die alleredelsten und göttlichen Herrschertugenden, durch Mildigkeit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit zu gewinnen und durch solche fürstliche Herrlichkeit und Mächtigkeit die Fremden zu überbieten und zu überwältigen suchen; sie müssen sich bestreben, im wahren Sinn des Wortes Könige der Gerechtigkeit und des Friedens zu sein, wie Melchisedek von Salem in seinen Tagen, und durch solche erhabene deutsche Fürstlichkeit ein so hehres Bild der Majestät in dem Volke erschaffen, daß dies für jedermänniglich ein Mittelpunkt der Kraft, Stärke und Liebe wird. Denn dadurch allein wird die Erhaltung der Fürstenhäuser möglich sein bei den Stürmen, die in dem Zeitalter drohen, und deren immer näheres dumpfes Heranbrausen allen feineren Ohren vernehmlich genug ist; dadurch allein wird es möglich sein, daß eine gemeinsame deutsche Liebe, eine gemeinsame, feste und stolze Liebe des Vaterlandes, eine innige Liebe und Achtung der erhabenen Güter unserer Art, Sitte, Kunst und Wissenschaft erzeugt werde, welche dem, was Russen, Franzosen und Engländer in so reichem Maße besitzen, einen meinethalben dummen und verkehrten, aber doch wirksamsten Nationalstolz, mit einer noch edleren und mächtigeren Kraft begegnen können.

Mit goldenen Buchstaben möchte ich es in alle deutsche [340] Fürstenherzen schreiben, ja mit Gold einbrennen, damit die Farben ewig leuchtend blieben, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, ein offener fröhlicher Mut und Sinn – diese hohen deutschen Tugenden sind bei der gegenwärtigen Weltlage und Weltentwickelung, bei dem ernsten Aufschauen und Auflauschen aller Völker, viel notwendiger, als in früheren Menschenaltern; in diesen muß ein Fürst dem andern vorleuchten, der eine den andern, wenn Gewalt, Übermut und Rechtzertretung irgendwo und irgendwie aus der Bahn übergleiten und überschreiten wollten, durch das erhabene Beispiel und die schöne Selbstüberwindung zn warnen suchen. Woher anders sollte uns das tapfre stolze Gesamtgefühl kommen, das die Herrscher und das Volk unverletzt den kommenden Zeiten entgegenführen könnte? Denn auch das muß ich sagen, durch Erscheinungen aufgeschreckt, die nun schon einige Jahre wie schwarze Donnerwolken durch uns hingrollen dürfen, ohne daß die rechten Blitzleiter gebraucht würden, wir Deutsche können weniger als andre Völker Gewalt und Ungerechtigkeit ertragen, ohne tiefer in unser altes Unheil der Gleichgültigkeit und Zwietracht hinabgerissen zu werden. Die Freudenlächter und Hohnlächter darüber fehlen an der Seine und Neva nicht; gebe Gott, daß sie ewig unter den Eigenen fehlen! Völker aber, die seit vielen Jahrhunderten einer zusammenbindenden, ja zusammentreibenden Einheit gewohnt sind, mögen allenfalls Tyrannen verdauen und viele Erschütterungen, ja selbst schreiende Ungerechtigkeiten und Gräuel überdauern, welche unsern weniger gebundenen Zustand unheilbar zerrütten würden.

16) Und ich spreche hier Mahnungen, Wünsche und Gelübde aus, welche jeder dentsche Mann, der seinem Vaterlande noch bei den Enkeln und Urenkeln einen guten Klang wünscht, gewiß warm im Herzen trägt, für Einigung, Belebung, Begeisterung deutschen Mutes und deutscher Gesinnung – und eben lodert, wie einige meinen, eine neue Flamme auf, welche nicht bloß mit Dampf und Gestank [341] sondern mit Brand und Verwüstung das Vaterland bedrohen könnte A83. Ich meine nicht so, ich fürchte diese Flamme nicht, wenn man sich durch den Dampf, den sie verbreitet, nur die Augen nicht trüben läßt, sondern ihr grad und besonnen in das funkensprühende Gesicht schaut. Das arme verkommene Volk in Italien und Rom will im neunzehnten Jahrhundert die gutmütigen Deutschen wieder wie die Dummen und Albernen hänseln, als welche es sie immer ausgelacht hat. Unter dem gleißenden Mißbrauch des herrlichen Verses:Man muß Gott mehr gehorchen denn den Menschen, fangen selbst einige deutsche Nachtraben und Eulen an mit ihren heiseren Kehlen durch diesen Dampf zu schreien, und hätten gar nicht ungern, daß Aufruhr und Empörung um einiger fanatischen Plattlinge willen, die den alten ultramontanischen Teufel im Leibe haben, unsern vielköpfigen deutschen Leib wieder zerhaderten, und daß die laurenden Welschen über Alpen und Ardennen herbeiliefen, die Zerspaltenen und Zwieträchtigen nach ihrer Weise zu schützen und miteinander zu befrieden. Ich denke hier nicht sowohl an die Anfänge als an die Enden solcher Hader; auch frage ich nicht, wo in dem einzelnen Falle eben Recht und Unrecht liegt; im Streite zwischen Staaten wird das Recht auf andere Weise gesucht und gefunden als zwischen Sonderleuten. Der Papst und seine Kardinäle bilden einen Staat; der Papst ist, mit Herrn von Görres Erlaubnis, kein geborner deutscher Papa noch Großpapa, er ist ein fremder Herrscher, und weder ein Kaiser von Österreich noch ein König von Preußen wird diesem fremden Italiener das deutsche Herz aus der Brust herauszufühlen suchen. Ich meine, die deutschen Herrscher haben die Wärme italienischer Priesterherzen genug gefühlt. Ich habe hier auch über den Streit des Kirchenfürsten in Rom und des Königs von Preußen nichts zu erörtern – ich will nur auf die Finsterlinge und auf die Haderlumpen hinweisen, welchen der deutschen Ehre und des deutschen Glücks schon wieder zu viel [342] deucht. Wehe ihnen! wehe jedem, der über dem Kleinen, über unauflöslichen Fragen, die den Erdenfrieden nun nicht mehr stören sollten, über einem bißchen Pfaffenehre und Pfaffenhoffart das heilige Vaterland vergisset! Ich meine, wir brauchen nur unsre deutsche Reichsgeschichte vom Jahre des Heils 1070 bis zum Jahre 1650 ein bißchen zu durchblättern, um mit blutigen Thränen zu empfinden, welchen Jammer uns die mit Himmel und Seligkeit, wie es heute wieder am Tage ist, verzierten Greuel der Gregore, Innocenze und Urbane und die süßen Loyolaiten eingetragen haben. O die süßen freundliche Mordlisten lächelnden Jesuiten, wie sie sich wieder mit leisen Katzensüßen bei uns einschleichen möchten! Aber wie? sollen wir uns von diesen Mördern der letzten deutschen Majestät und Herrlichkeit zum hundertsten und tausendsten Male etwas vorlächeln und vorlügen lassen? Was sie sich doch einbilden! wie sie uns dummen und gutmütigen Deutschen doch das allerkürzeste Gedächtnis zutrauen! Wie? wir sollten vergessen haben, wie sie uns zuerst mit den Spaniern in die burgundischen Lande kamen und beinahe ein volles Jahrhundert hindurch mit ihren Hinterlisten und Mordbrennereien in dem alten Francien und Lotharingien von Dünkerken bis Trier deutsche Freiheit, Wissenschaft, Glück und Macht absingen und erwürgten? wie sie zu derselben Zeit im Herzen unsers Reiches die Flammen schürten, die von Wien bis Stralsund und vom Neckar bis zur Eider unser Vaterland in Blut und Schande verzehrten und unter den Säbeln der Fremden unsre letzte Herrlichkeit unter Schutt und Asche begruben? wie sie unter Ludwig dem Vierzehnten von Frankreich – Doch wohin? Ich denke, es ist der Erinnerungen schon zu viel für ein deutsches Herz. Doch, indem ich mir auch den Spruch vorbete:Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen und menschlichen Rücksichten, spreche ich hier vor katholischen und evangelischen Christen meinen Abscheu kühn aus: Die Jesuiten sind der Fluch unsrer Geschichte, sie mögen mir mit [343] ihrem Pater Lorenz in Lüttich oder ihrem Pater Rothhahn – ein Name bösester Bedeutung – in Rom kommen. Ich hoffe, wir Deutsche lassen uns im neunzehnten Jahrhundert den Rothen Hahn nicht wieder aufs Dach setzen.

In allem Ernst von unserm deutsch-polnischen neuen Pfaffenrumor gesprochen, ist es meine volle Überzeugung, daß dieser böse Wurm, wenn man ihn nicht für mehr gelten läßt, als was er ist, wenn man ihm mit dem Licht der deutschen Ehre, Wissenschaft, Frömmigkeit und Tapferkeit begegnet, endlich in seinem eignen Gestank und Dampf ersticken wird. Doch muß ich hiebei zugleich eine andere Überzeugung aussprechen, daß ich den Staat noch will geboren werden sehen, in welchem ein gesetzliches und edelsinniges Königtum und eine in sich abgeschlossene fest zusammengekettete und zusammengeklettete Priesterschaft, die ihren engen Weg zum Himmel mit tausend künstlichen Hornwerken und Basteien verschanzt und gesperrt hat, nebeneinander bestehen können. Bis jetzt hat die Erfahrung der Geschichte dies verneint. Ich glaube, es giebt viele Wege und auch Fußpfade zum Himmel, die aber zuletzt freilich alle in dem einen engen Weg zusammenlaufen müssen, wovon der Heiland geredet hat; aber das Maß der Enge und Weite desselben ist ein ganz anderes als das des gesperrten engen Weges der Hohenpriester und Pharisäer. Ich spreche nicht von frommen Priestern, sondern von jenen, die sich fromm gebärden und schreien, der Himmel leuchte allein in Rom, und nur von Rom aus könne Deutschland erleuchtet werden. Es muß ja Streit sein auf Erden, und auch christlicher Streit. Auch schütteln wir den Vorwurf wie Federn ab, als ob wir Protestanten losere und leichtere Christen wären als die römischen und schon an unsern Straußenfedern A84 zu schwere Last trügen. Läßt uns Gott nur die einzige Bibel, so werden wir uns, wenn ja mal eine Verirrung und Verdunkelung eintritt, immer wieder zu Licht und Wahrheit durchkämpfen und die flatternden Straußenfedern und die[344] ganze Hohepriesterschaft Roms dazu als eine leichte Last abschütteln, indem wir singen: Das Wort sollen sie uns lassen stehn. Ja das Wort sollen sie uns Deutschen lassen stehn. Das Christentum und Evangelium wird wohl bleiben in seiner unvergänglichen Schönheit und Wahrheit und wachsen von Ewigkeit zu Ewigkeit; aber eine herrschsüchtige Priesterschaft wird mit der Macht dieser Welt, die allerdings von dieser Welt, aber darum noch nicht vom Teufel ist, d.h. sie wird mit dem Staate immer zusammenstoßen, weil sie begehrt, was er begehren muß und sie nicht begehren soll. Mein Reich ist nicht von dieser Welt, sprach der Reinste und Demütigste, aber was sprechen und wollen die Servi Servorum Dei?

17) Drei große Staaten umlagern uns, und auf diese drei, da sie, wann sie sich erheben, die Welt rücken und auch unsre Zustände mit rücken und verrücken können, muß ich noch einen letzten flüchtigen Blick werfen. Dies sind die drei mächtigen Reiche der Russen, Engländer und Franzosen, den Fremden gegenüber so eines Sinnes und Mutes, als wir oft durch die heilloseste Zwietracht zerrissen gewesen sind. Komm ihnen nah und wage an ihrer Einheit dich zu erproben, du wirst es fühlen, was lange uralte Gewohnheit thut, selbst wenn solche einmal von einem Tyrannen mit der Geißel getrieben würden. Sie haben das jungfräulichste verletzlichste noli me tangere.

Rußlands geschwindestes Wachstum ist etwas über ein Jahrhundert alt; es beginnt mit Peter dem Ersten und ist seitdem unter schwachen wie unter starken Regierungen instinktartig fortgeschritten, und indem es alle Blößen, die ihm gegeben werden, benutzt, alle Lücken, die vor ihm gebrochen sind, geschwind und listig gefüllt hat, steht es nun seit zehn Jahren an unsern Grenzen. Es hat starke Beine und gute Zähne und wird nicht freiwillig aufhören weiter gegen Westen vorzugehen und jeden dargebotenen Raub zu fassen. Es könnte, weun ein Unheil des Nordens fortwucherte, [345] welches das ganze achtzehnte Jahrhundert und das unsrige fast bis diesen Tag schwarz bezeichnete, Herr der Ostsee werden, und dann sähe es auch für Deutschlands Unabhängigkeit sehr schlimm aus. Dieses Unheil ist die Zwietracht unsrer nordischen Stammverwandten, die sich zu Rußlands Vergnügen, welches meisterlich verstanden sie aufeinander zu hetzen, vielfältig geschwächt und zerhadert haben und wahrscheinlich auch jetzt eben noch nicht des freundlichsten Sinnes zu einander sind. Am meisten ist hier jedoch Dänemark anzuklagen, welches im achtzehnten Jahrhundert leider des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts noch nicht vergessen konnte, und sobald von der Neva ein Wink kum, als russischer Bundesgenoß den Schweden in die Fersen biß. Hätten diese der früheren Zeiten zu rechter Zeit vergessen können, so wäre Finnland noch schwedisch, Norwegen noch dänisch und die Russengrenze vielleicht noch der Dnepr. Rußland ist sehr mächtig, aber glücklicherweise sind weder die Russen noch die Polen Seeleute; das vereinigte Skandinavien, ein echtes Seevolk, hält beim Vormarsch der Russen gegen Westen ihre rechte Flanke im Schach. Nach der Lage und Stellung der Stämme und Völker zu einander ist Rußland im Osten Deutschlands natürlicher Feind, die skandinavischen Völker sind unsre natürlichen Freunde und Bundesgenossen. Preußen müßte also, wenn Europa jetzt in von der Natur gegebenen und gebotenen Verhältnissen und Verbindungen stünde, da wir Deutsche keine Flotten haben, Skandinaviens Bundesgenosse sein. Durch diese politische Verbindung, welche alle verständige Notwendigkeiten gebieten, sollte den Russen, die nicht bloß mit leisen Winken nach dem Muster Napoleons auf eine slavonische Weltherrschaft anspielen, die Luft nach Westen vorzudringen wohl teuer zu stehen kommen, ja es könnte gelegentlich recht sehr in seinem äußersten engen Ostseewinkel eingesperrt werden

Aber, wird man sagen: Haben wir nicht England? können wir, wenn Rußland jemals böse Entwürfe gegen deutsche [346] Lande brütete, nicht auf Englands Flotten rechnen? Gut. Aber England mit seinen Flotten ist zu fern; es hat in der Ostsee keine gegebene Station; es scheut jeden ernsten Zusammenstoß mit Rußland schon seiner Handelsvorteile wegen wie die Pest; es würde uns auch jede Hilfe, wie es bis jetzt gethan, teuer bezahlen lassen; es hat auch mit uns nimmer so sehr einerlei Vorteile gegen die Russen, als die Dänen und Schweden, wenn diese ihre unseligen Zwiste stillen und versöhnen könnten. Sie waren nach dem Tode des Schwedischen Kronprinzen, Herzogs von Holstein-Augustenburg im Jahr 1810 auf einem guten Wege dazu, ja sogar zu einer Vereinigung beider Reiche unter demselben Haupte. Wie glücklich, wenn die damals von klugen und weisen Männern bereiteten Entwürfe auf dem Reichstage von Örebro wären ausgeführt worden! Denn durch die allerlosesten Vorspiegelungen und durch die wunderlichsten Kleinlichkeiten und Persönlichkeiten ist es damals geschehen, daß die Schweden nicht den ersten Fürsten von Holstein, sondern einen französischen Marschall auf den Wasathron erhoben haben.

England, aber England – sollen wir das endlich gar beargwohnen und fürchten? Das will und bedarf ja nichts von unsern Landen; es ist ja auch unser natürlicher Bundesgenoß, besonders gegen Frankreich, und ist es in den letzten Kriegen wieder gewesen. Allerdings war es das: denn Not und Gefahr war für uns beide eine gemeinsame. Aber wir müssen es sagen, es ist ein ungroßmütiger Bundesgenoß gewesen, und hat uns ungefähr behandelt wie nach Pitts Sturz das elende Ministerium Bute weiland den großen König; auf unsere Kosten, um unser edelstes Blut, hat es Frankreich, den gemeinsamen Feind, nachdem es ihm sein Beliebiges abgenommen, gegen unsre gerechtesten Ansprüche und Rückforderungen geschützt, in unsern inneren deutschen Verhältnissen aber auf das emsigste für die Schwächung, Teilung und Spaltung gearbeitet. Welche unwürdige Eifersucht und Neid gegen Preußen, weil das schien etwas Großes werden [347] zu können! welche dreifache Eifersucht würde es sogleich offen baren, wenn Deutschland je in die würdige Stellung kommen könnte, nur den Anfang einer Seemacht zu bilden?

Aber wir wollen auf diesen großen freilich oft kleinlich neidischen Kaufmann, der nach Sinn und Art doch in vielem so nah mit uns verwandt ist, nicht zu scheel hinsehen. Wir werden ihn noch lange nötig haben für unsre politischen Lehrjahre. England ist und bleibt doch ein Land europäischen Beispiels, doch groß durch seinen echten Freiheits- und Bürgersinn und wird dadurch die Gefahren und Erschütterungen überwinden, welche es bedrohen. Ja, wenn die Irländer nicht gleich den Polen bloß die Feldliebe hätten, wenn sie einen Seemannskrieb im Leibe hätten, dann könnte von ihnen eine Zersprengung des großbritannischen Kaisertums kommen – denn Kaisertum (Empire) nennen die stolzen Briten ihr Reich, während ihr Herrscher sich König nennt. – Die Flotten beherrschen Irlands Schicksale.

Anders stehen wir zu den Franzosen. Das waren die alten deutschen Reichsfeinde, sie sind jetzt die Bundesfeinde. Sie haben es kein Hehl, daß sie unter uns und lieber noch über uns mitsprechen und herrschen wollen. Für sie giebt es uns gegenüber keine Heiligkeit der Verträge, keine politische Schonung, keine Wohlanständigkeit, welche in Zeit des Friedens wenigstens in öffentlichen Verhandlungen die Völker einander schuldig sind. Denn von der Rednerbühne ihrer beiden Parlamentshäuser sprechen sie jeden Tag gegen uns nur Treulosigkeit und Verachtung und die Hoffnung aus, von uns gelegentlich wieder Beute zu machen. Ja sie sprechen über unsre Lande und Fürstentümer mit einer offenen Frechheit, die man über Indien, die Türkei und Polen zu hören wohl gewohnt ist, wie sie am bequemsten zu verteilen und zu zerschneiden sind. Und es wären unter uns noch so gutmütige Thoren, die sich von diesen Prahlern immer noch aufbinden ließen, daß sie die Führer der europäischen Bildung, Menschlichkeit und Freiheit seien? »Der Rhein ist [348] Frankreichs natürliche Grenze, die kleinen deutschen Fürsten sind Frankreichs natürliche Bundesgenossen, welches sie gegen Preußens und Österreichs Despotismus in Schutz nehmen muß; die Schweiz und Belgien sind Frankreichs Brückenköpfe« – dies und viel Schlimmeres klingt und schnurrt uns von der Seine als die alltägliche Musik entgegen. Man kann dies Volk immer noch mit vier, fünf Worten beschreiben, wie die römischen Geschichtschreiber es schon geschildert haben: es ist neuerungssüchtig, herrschsüchtig, eitel und prahlerisch und des Wechsels und Aufruhrs lüstern. Sie werden, sobald sich eine günstige Gelegenheit zeigt, sich wieder auf ihren Rhein versuchen und auch von ihren Brückenköpfen heraus zu uns herüberspringen. Der Freudentaumel, den ihr Freiheitsruf weiland erregte, hat sich im Laufe eines halben Jahrhunderts sehr abgekühlt. Das Gute, was darin war, schwimmt als Gewinn der Zeit aus so vielem Schmutz und Blut noch oben, aber das meiste ist versunken und ein Spott der Verständigen geworden. Aber dieses Volk, ein echtes Bienenvolk, kann nur zu bald wieder ins Schwärmen kommen und dann in fürchterlichen Massen sich gegen uns stürzen. Denn in Frankreich halte ich die gräulichen Bewegungen der unteren Klassen viel gefährlicher für die europäische Ruhe als in England. Der Engländer versteht sich auf Freiheit; der Franzose will nur Gleichheit. Er ist darin, wenn man will, ein Türke und Moskowite und nennt das Aufbauung und Wiederherstellung der Menschenrechte, wenn einer da ist, der den Feldmarschall wie den Korporal gleich tief mit der Stirn in den Staub drücken darf. Daher ward Napoleon ein französischer Götze, nicht bloß, weil er ein gewaltiger Kriegsfürst war. De Serre aus Metz, Niebuhrs Freund, der sein Volk kannte, hat das köstliche Wort darüber gesprochen 31: »Wenn die Freiheit für [349] die Franzosen eine erschlaffte Sehne ist, so ist die Gleichheit eine immer schnurrende Sehne.«

Ja von den drei Furienbremsen der Habsucht, des Stolzes und des Übermuts gestochen werden sie wieder heranbrausen, die wilden Massen und mit ihrem Geschrei Egalité et liberté zu bethören suchen. Uns aber, damit wir mit gutem Gewissen und im festen gewissen Mut mit ihnen streiten können, verleihe Gott, der nach dem Sprichwort keinen Deutschen verläßt, in unsern Fürsten die Melchisedeke der Gerechtigkeit, Gesetzlichkeit und Wahrheit, damit nicht allein die Unsrigen tapfer und heldenmütig für das liebe Vaterland in den Kampf gehen, sondern damit auch unsre Brüder, die Bewohner der deutschen Länder, welche die Welschen ihre Brückenköpfe gegen uns nennen, Lust haben im Bunde gegen sie mit uns zu stehen und zu fallen. Wenn die Übermütigen uns aber zuschreien: Der Rhein Frankreichs Naturgrenze, so wollen wir ihnen antworten: Heraus mit dem Elsaß und Lothringen! So stehe und bleibe der politische Haß, weil sie ihn haben wollen, und weil wir ihn als Wehr gegen ihre Gaukeleien und Treulosigkeiten bedürfen.

Fußnoten

1 Wie die Pulvergeschichte hier erzählt ist, habe ich sie oft aus dem Munde meiner alten Base gehört. Und doch verhält sie sich anders. Ein Sundischer Freund belehrt mich nämlich, daß der Pulverturm 1770, also ein Jahr später aufgeflogen. A1 Ich habe also im Mutterleibe nicht springen können, sondern muß es auf den Armen oder auf dem Schoße der Mutter gethan haben. So sieht man selbst aus dem Leben kleiner Menschen, wie Märchen entstehen.

2 Lau, Loo: Wald.

3 Barhöfd: Vorgebirg der Wogen. Bar, nord. Woge, franz. la barre.

4 Ökelname, so spricht man in Norddeutschland, nicht Ekelname. Öken öka (nord.) vermehren. Also nur so viel als Beiname. Ökels, Aufsatz, Erhöhung, z.B. Aufsatz auf einem Bienenkorb.

5 Auf der Halbinsel Dars und in den Dörfern auf den gegenüberliegenden Küsten wohnt ein schöner kräftiger Menschenschlag, dessen Gewerbe in der Jugend gewöhnlich das kühne Element des Meeres ist. Als ich im Winter 1817 meinen alten Meister zu Prerow auf dem Dars, einer reichen Pfarrstelle, wohin er von Bodenstede befördert war, zum letztenmale besuchte, stießen mich und meinen Bruder Karl zwei herrliche schlanke Männer mit langen eisenbeschlagenen Stangen in fliegenden Schlitten über das spiegelglatte Eis hin, welches damals zwischen dem Festlande und der Insel eine Brücke geschlagen hatte. Beide trugen englische Ehrenmünzen, hatten englisches Jahrgeld. Sie hatten auf der Victory des Admirals Nelson die Schlacht von Trafalgar mitgemacht. Der Schulze in Bodenstede, in dessen Hause ich mit dem Herrn Pastor mehrmals zu Tisch gesessen bin, war in seiner Jugend Steuermann eines Westindienfahrers gewesen.

6 Dahlmann in seiner Dän. Geschichte Tl. I. setzt diesen Sprung, ich weiß nicht warum, in den Sund. Die Sagen von dem berühmten Normannskönig setzen ihn an die Küsten, diesen Putbusser Gestaden gegenüber. Diese erhalten für die Örtlichkeit eine Bestätigung durch die geographische Bestimmung der Schlachtgegend. Sie nennen einen Ort, der noch jetzt da ist, nämlich die Insel Svolthar, hinter welcher die verbündete Flotte der nordischen Könige und des norwegischen Jarls auf das Auslaufen Olafs aus der Peene gelauert und bei seinem Erscheinen hervorgesegelt seien. Diese Insel kann nach dem dumpfen Laut, wo das Volkde Zoudar ausspricht, keine andere gewesen sein, als die Halbinsel Zudar, welcher noch jetzt alle größeren Schiffe, die von Stralsund aus ins weite Meer wollen, vorbeisegeln müssen. Sund bezeichnet überhaupt jede Meerenge und zwar von einer Breite, die ein rüstiger Schwimmer durchschwimmen kann.

7 Vor zwei Jahren als Superintendent in Göttingen gestorben.

8 Der Berliner.

9 Beide sind mir bis in den Tod treueste Freunde geblieben.

10 Nichtleugnen kann ich, daß, als jene meine angefochtenen Urteile über den großen König in die Welt ausgingen, wir alle noch mehr oder minder das alte Deutsche Reich im Herzen hatten und von den verblaßten Bildern und unbestimmten Gefühlen seiner weiland Herrlichkeit umdämmert und belastet einhergingen. Wie oft wollten wir immer den Gedanken noch nicht einlassen, daß es in seiner früheren Gestalt seit Jahrhunderten zu einer bleichen und welken Mumie verschrumpft war und in starrer unbehilflicher Ohnmacht, die ihren Leichenbestatter zu erwarten schien, dalag! Kaum seit einem Menschenalter können wir begreifen, was ein König von Friedrichs Art für die Stärke und den Ruhm des ganzen Deutschlands in seinen Tagen bedeutet hat und in künftigen Tagen noch mehr bedeuten wird als heute.

11 Ich hatte ihm das Büchlein zugeeignet. Auch er hatte unter dem pommersch-rügenschen Adel Verwandte, die aber nicht zu den Drängern gehörten.

12 Die beiden Lothringer Villers und Chamisso A39 müssen wir uns schon festhalten. Wir wollen auch einmal – aber nicht im Sinn welscher Prahlerei – über sie sprechen: Sie verdienten Deutsche zu sein. Villers hat man seine Begeisterung für Deutschland in den Tagen des Siegs schlecht genug gelohnt.

13 S. die Zugabe am Ende.

14 So lautet es in dem französischen Bulletin über diese Schlacht.

15 Der Regierungsrat Johann Motherby, Hauptmann bei der Landwehr, fiel an einem Thore von Leipzig, einer der ersten, welche die Mauern erkletterten, durch eine welsche Kugel.

16 Barnekow ward verhaftet und ein Ausschuß – drei Männer vom Kriegs-, drei vom Verwaltungsstande – niedergesetzt, um in Beratung zu nehmen: ob man bei der Gefährlichkeit der Zeitverhältnisse den gewaltigen Überziehern dieses Opfer hinwerfen dürfe? Vier Stimmen waren für die Auslieferung, zwei dagegen, nämlich General Scharnhorst und Staatsrat von Klewitz, später Oberpräsident des Herzogtums Sachsen. Das Gewicht der Königlichen Majestät legte sich zu den Zweien, welchen Ehre teurer als Glück gedäucht, und Barnekow war gerettet. Er ward als ein Entflohener gemeldet.

17 Geist der Zeit, Teil 3. S. 307–309.

18 Graeciae civitates, dum singulae imperare volunt, omnes libertatem amiserunt.

19 Arnen sich schnell bewegen, fliegen (»So erarn ihn der slimme Tüvel« Nibel.-Lied). Arend Vogel, Adler, Örn nordisch; ὀρν, ὀρνις, ὀρω ὀρνυω, ἀρω u.s.w.

20 Dies erklärt sich aus dem noch bestehenden Brauch unserer Tage, wenn, wo Markenverfassung herrschte oder eine große Dorf- oder Stadtallmend war, Stücke wüster Haiden oder Gemeinweiden unter den Pflug genommen werden sollten, diese nach derWürde (d.h. nach dem kleineren oder größeren Feldmaße, welches jeder in der Gemarkung oder Allmend besaß), in kleineren oder größeren Losen zugemessen wurden.

21 Wend, Wand, Wattn: Wasser, See in vielen Sprachen; daher Vandali, Wenedi, Weneti in Norddeutschland, am Adriatischen Meere, an den Küsten Galliens.

22 Damals über 6 Millionen Pfund Sterling.

23 Dieser ritterliche fromme Vater seiner Hörigen und Zugehörigen hatte übrigens die Ritterlichkeit seines edelmütigen menschlichen Herzens nicht von einem durch viele adlige Geschlechtsreihen (wie manche uns gern einbilden möchten) gereinigten und veredelten Blute, sondern schier von Gottes Gnaden: er war aus Rügenschem Bauerstamm.

24 Ich kann aus diesem Gefühle sprechen. O schönes Land meiner Heimat, wer wird die zerstörten Bauern in dir wieder erschaffen? woher soll dir ein Wiederhersteller kommen?

25 Bald ist es ein Vierteljahrhundert, als dies geschrieben ward. Nun frage ich, wie viele sind, welche Englands gegenwärtige politische Stellung, vorzüglich in Hinsicht auf die unteren Volksklassen, glücklich preisen?

26 Anmerk. zur dritten Auflage. Freunde haben gefragt: warum ich bei manchen Namen z.B. bei dem Namen dieses bedeutendsten, mir sehr teuren und in der bösen Zeit mutigsten und wirksamsten Mannes, bei dem Namen Niebuhr und anderer Würdigsten, die gleichsam nur zufällig genannt scheinen, so wenig zu sagen gewußt habe? Es ist das wohl geschehen in dem Gefühl, welches, wo man viel von sich selbst sprechen muß, ein sehr natürliches Gefühl ist, daß mir vor der schwer zu umschiffenden Klippe geschaudert hat, ich möchte meine Kleinheit durch solche Großheiten heben zu wollen scheinen. Ich war in dieser Hinsicht durch meine demagogische Untersuchung genug gewarnt worden, wo ich bei lobenden Meinungen und Äußerungen würdiger Männer über mich, welche man in beschlagenen Briefen gefunden, ordentlich befragt worden bin: wie sie zu solchen Meinungen und Äußerungen wohl gekommen seien? worauf ich nur einIch weiß nicht oder Fragt sie selbst antworten und in meiner Verteidigungsschrift höchstens das horazische Principibus placuisse viris haud ultima laus est anführen konnte.

27 Verzeihung! Wir führen einmal alle in Bausch und Bogen diesen Namen, wie wenige ihn auch verdienen.

28 Fragmente über Menschenbildung. 2. Tl. S. 200–202. Altona 1819.

29 Και το σιγωμενον χαριν ἐχει.

30 Maria Hüts eng, gewöhnlich Maria Hitzing genannt, in Wien. Hüts eng! Hütet euch!

31 Si la liberté est pour les Français une corde détendue, l'égalité est une corde toujours frémissante.

Zugabe

Zugabe 1.
Karl Freiherr vom und zum Stein

Gestorben den 29. Junius 1831.


Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein war zu Nassau an der Lahn aus einem alten reichsritterlichen Geschlechte geboren. Der jüngste unter mehreren Geschwistern bestimmte er sich durch eigene Neigung und durch den Willen seiner Eltern frühe für eine wissenschaftliche Ausbildung, um sich durch sie für den künftigen Dienst des Vaterlandes zu bereiten. Lebendiger Eifer, hohes Streben, ernster Sinn und ebenso ernste Beharrlichkeit, die zuweilen fast wie Hartnäckigkeit erschien, offenbarte sich schon in dem Knaben. Daß so schöne Anlagen nicht in zu starken Selbstwillen oder gar in Trotz ausarteten, dafür sorgten eine ebenso verständige und geistreiche als fromme und christliche Mutter und eine um mehrere Jahre ältere Schwester 2, die auf das Mutige und Gewaltige, das Gott in ihn gelegt hatte, das Milde und Christliche aussäeten; dafür sorgte ein treuer und gewissenhafter Lehrer, der ihn in den alten Sprachen und in dem, was von der Wissenschaft dem Alter des Knaben und des beginnenden Jünglings angemessen ist, gründlich unterrichtete. Auf diese Weise mit Vorkenntnissen wohl versehen [351] und von guten Beispielen und Lehren aus dem elterlichen Hause begleitet trat er im siebzehnten Lebensjahre in Göttingen zugleich in das Alter und in die Freiheit des Jünglings ein. Hier beschäftigte er sich vier Jahre vorzüglich mit den Studien des allgemeinen und des vaterländischen Rechts und der deutschen Geschichte und Staatsverfassung, worin er schon in der Heimat einen guten Grund gelegt hatte. Nach vollendeten Studien besuchte er die Hauptstadt seines Kaisers und die bedeutendsten deutschen Fürstenhöfe, um dem, was er bisher nur in den Schranken der Hörsäle und in der Einsamkeit des Studierzimmers geübt und gelernt hatte, in dem Spiegel des wirklichen Lebens irgend einen Mittelpunkt und eine Entscheidung für seine Zukunft abzugewinnen. Hierauf begab er sich, der Übung und dem Beispiel seiner Zeit gehorsam, für die weitere Ausbildung zu seiner Bestimmung nach Wetzlar, wo er etwa ein Jahr verlebte. Jetzt erging an den Jüngling, dem durch die Gunst von Familienverhältnissen und Glücksgütern nun auch mehrere Jahre Gelegenheit gegeben war, sich für sich selbst zu besinnen und umzuschauen, von seiten der Eltern die Forderung, seinen Beruf zu wählen. Diese als Reichsunmittelbare und Sendbarfreie durch alte Gewohnheit und treue Liebe zu ihrem Kaiser hingezogen, wünschten, daß auch der jüngste Sohn sich dem Dienste des österreichischen Hauses widmen möchte; aber in Deutschland, das nach dem langen Jammer des dreißigjährigen Krieges und dem sogenannten Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten, dessen Pestilenz es genug empfunden hatte, wieder aufzuwachen und aufzuleben begann, war mit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in Friedrich von Preußen ein Gestirn aufgegangen, das alle edlen und großen Naturen in seine Bahn reißen mußte. Der Jüngling, die Verhältnisse und Entwickelungen der Zukunft gleichsam vorahnend, bestand auf dem Entschlusse, dem großen Könige zu dienen. Seine Eltern willigten ein. Demnach ward Karl vom Stein im Jahr 1780 zu Wetter in der Grafschaft Mark als Bergrat[352] angestellt. Da der Jüngling zu stolz war, irgendwo als ein Überflüssiger zu erscheinen, so arbeitete er sich mit Fleiß und Eifer in den Wirkungskreis hinein, den sein König ihm zunächst angewiesen hatte: bergmännische Studien und Reisen durch das deutsche Voterland, wenige Jahre später eine Reise durch Großbritannien, die er mit seinem Freunde, dem Grafen von Reden, nachherigem Minister des Verg- und Hüttenwesens, ausführte, machten ihn nicht bloß für dieses sein besonderes Fach immer tüchtiger, sondern vermehrten seine Kenntnisse und schärften und erweiterten seinen Blick für mancherlei Bedürfnisse, Verhältnisse und Geschäfte des öffentlichen Lebens, das er nun betreten hatte. So verfloß ihm eine lebenslustige und thatenkräftige Jugend; durch Arbeit, Tüchtigkeit und Biederkeit gewann er die Liebe und Freundschaft seiner Genossen und die Aufmerksamkeit und Achtung seiner Vorgesetzten. Unter diesen hat er mit Rührung und Dankbarkeit immer den Minister von Heinitz genannt als den Ansporner zu allem Guten und Tüchtigen und als den treuesten väterlichen Freund. Er selbst erwähnte in späteren Jahren dieser Zeit oft als der glücklichsten seines Lebens, worein freilich der ungeheure Ernst der französischen Umwälzung fiel, mit mannigfaltigen Unfällen des Vaterlandes, die bei anderer Leitung der Dinge vielleicht hätten abgewendet werden können.

Nach so glücklichem Anfange auf seiner Laufbahn ist er unter den Königen Friedrich Wilhelm dem Zweiten und Sr. jetzt regierenden Majestät Friedrich Wilhelm dem Dritten von Stufe zu Stufe in Westfalen an die Spitze mehrerer Regierungen und endlich an die Spitze der ganzen Civilverwaltung der Landschaft gestellt worden. Dies geschah in den Jahren seiner freudigsten Manneskraft, wo er Blücher an der Spitze der Kriegsmacht neben sich hatte, wo er in gesegneter Wirksamkeit, in der Liebe und Achtung der Landschaft und seiner Untergebenen und durch die Anziehung und Bildung wackerer und talentvoller Jünglinge zu künftigen [353] Geschäftsmännern sich glücklich fühlte. In diese Zeit fällt auch seine Vermählung mit der Reichsgräfin von Wallmoder Gimborn, zweiten Tochter des kurbraunschweigischen Generalfeldmarschalls, und der Antritt der väterlichen Stammgüter in Nassau und am Rhein. Auf diesem Felde wirkte er bis zum Jahre 1804, wo er in die Hauptstadt berufen ward um das durch den Tod des Herrn von Struensee erledigt Ministerium der Finanzen, des Handels und der Gewerb zu übernehmen. Es ist genug gesagt, daß er dieses in dem freien Geiste seines ausgezeichneten und verdienstvollen Vorgängers fortzuführen suchte. Nicht lange, und mit den Jahren 1805 und 1806 kam die Zeit der Verwirrung und des Unglücks. Stein nahm im Frühling des Jahres 1807 in Königsberg seine Entlassung und ging auf seine Güter am Rhein. Doch schon im Herbst desselben Jahres rief ihn sein König zurück und übergab dem Manne, dem alle Guten zutrauten, daß er nie am Vaterlande verzweifeln könne, die höchste Leitung der Geschäfte. Genug bekannt ist, was er für die Wiederherstellung des Vaterlandes gewollt und gewirkt, und wie er mit den besten Männern, namentlich mit dem stillen festen Scharnhorst, dafür gestrebt und gearbeitet hat: Aufhebung der Dienstbarkeit und Leibeigenschaft und was dazu gehört, Scheidung und Ablösung der grundherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse, neue Städteordnung neue Kriegs- und Wehrordnung, Sprengung des Kastengeistes und Förderung des Gemeingeistes u.s.w. – Napoleon und seine Späher wurden aufmerksam auf die Arbeiten und Hoffnungen dieser Männer, Stein ward entlassen, der fremde Überzieher ächtete ihn und zeigte der ganzen Welt dadurch die Tugend des Verfolgten. Ein Jahr war er höchster Diener seines Königs gewesen. Dankbar hat er immer des offenen Vertrauens und des tapfern Beifalls erwähnt, die sein erhabener König ihm in jener verhängnisvollen Zeit gewährt hat. Er war von dem Gewaltigsten in die Acht gethan seine Güter waren mit Beschlag belegt; er suchte und fand [354] von 1808 bis 1812 in den Erbstaaten seines alten Kaisers im Elende eine Zuflucht.

Als sich im Sommer des Jahrs 1812 der übermütige Sieger und Eroberer gleich einem verderbendrohenden Schicksal gegen den Osten wendete, um Europas Unterjochung zu vollenden, berief der Kaiser Alexander den Minister vom Stein zu sich, damit er ihm für die eigenen und für Preußens und Deutschlands Angelegenheiten Ratgeber und Heller würde. Einige erzählen, dem Kaiser seien in jener verhängnisvollen Zeit Äußerungen und Prophezeiungen eingefallen, welche Stein vor dem Frieden zu Tilsit weissagend zu ihm gesprochen. Wie dem sei, durch einen eigenhändigen Brief, der für Stein unerwartet wie aus den Wolken gefallen war, lud der Kaiser ihn vertrauensvoll zu sich ein, und der Mann stand hinfort gleich sam wie eine Säule der Wahrheit und Stärke für seine Hoffnungen und Entschlüsse ihm zur Seite. Wie, wodurch und wofür in jenem großen Jahre 1812 in Rußland gestritten und gesiegt worden, das steht noch frisch in unserm Gedächtnis. Die Verfolgung des geschlagenen Napoleon, das rasche Vorrücken über die Weichsel, das Bündnis mit Preußen für Deutschlands Befreiung, die gewaltigen Schlachten, und endlich der Sieg bei Leipzig – in allem diesem war der Geist und der Rat und die Tugend dieses deutschen Mannes mit; sie waren und blieben mit und bei dem russischen Kaiser bis in Frankreich und bis in Paris hinein; und die Welt muß es nicht vergessen, daß sie dem Freiherrn vom Stein und der Beharrlichkeit des Kaisers Alexander in den Jahren 1812, 13 und 14 den Sturz der Napoleonischen Tyrannei und die Befreiung Deutschlands und auch die Befreiung Frankreichs von einem unerträglichen Joche am meisten zu danken hat. Wie aber der eine und das eine auf den andern und auf das andere in letzter Instanz wirkt, kurz, den letzten Grund der Dinge und Erfolge weiß Keiner, und also soll Keiner ihn nachweisen wollen. Stein selbst aber hat immer mit Freuden und mit dankbarer [355] Anerkennung des Mutes und der Zuversicht erwähnt, wodurch der Kaiser damals für die menschlichsten und großherzigsten Zwecke begeistert war.

Als Rußlands Heere Deutschlands Grenzen betraten, bald mit den preußischen verbunden, ward von Preußen und Rußland und dann auch von Österreich, als es dem Bunde beigetreten war, eine sogenannteCentralverwaltung eingesetzt, an deren Spitze man den Minister vom Stein stellte. Was er hier gewirkt hat oder nicht hat wirken können, mit welchen Hemmungen und Anstößen und Gegenstößen gegen seine besten Entwürfe er hier häufig zu kämpfen gehabt hat, bleibt künftiger weitläufigerer Darstellung und Ausführung überlassen und kann und darf kein Gegenstand dieser kurzen und flüchtigen Schilderung sein. Genug, durch manches, was zum Teil gering und unscheinbar deuchte und von dem Thäter und Bewirker immer am meisten verschwiegen worden, ward Großes bewirkt, wenn auch Größeres, was er gewünscht und beabsichtigt hatte, nicht erreicht worden ist. Nach der Einnahme von Paris und der Wiedereinsetzung der vertriebenen Bourbons wurden alle Verhältnisse umgestaltet und mehr und mehr verwickelt; es kam die Zeit, wo – um mit Blücher zu reden – die Schreibfedern zum Teil zerstören sollten, was die Schwerter gewonnen hatten. Dies stehe hier nicht als Beschuldigung der Handelnden, sondern als Andeutung des gewöhnlichen Laufs der menschlichen Dinge. Das aber haben selbst viele Gute nicht bedacht – denn der Tadel der Schlechten oder Unverständigen ist eher Lob – daß Steins Wirksamkeit nun ein Ende haben mußte. Denn viele haben ihn beschuldigt, er sei seit der Einnahme von Paris und auf dem Kongresse zu Wien für die Einrichtung und Gestaltung des wiedergewonnenen Vaterlandes nicht rüstig und thätig genug gewesen. Diese haben ihn aus Unkunde verurteilt, sie haben nicht gewußt, daß alle Möglichkeit seines Wirkens nur auf offenstem und geradestem Wege sein konnte. Er war mit [356] dem Jahre 1815 von der breiten Bahn der öffentlichen Geschäfte in den Privatstand zurückgetreten und hatte mit seiner Familie sein väterliches Stammerbe zu Nassau wieder bezogen, dankbar und froh um das, was wiedergewonnen war, traurend um das, was wohl mehr hätte gewonnen werden können, wenn Gott die Menschen und die Dinge anders gestellt hätte. Statt weiterer Erörterung genügen folgende Worte, die er im Schatten seiner zerfallenen Burg im Frühling 1816 aussprach: »Ja, lieber Freund, wir haben viel gewonnen, aber vieles sollte auch anders sein. Gott regiert die Welt und verläßt keinen Deutschen, und wenn wir treu und deutsch bleiben, so werden wir's mit den Franzosen auch künftig wohl aufnehmen. Ich sehne mich heraus,« (fuhr er nach einigem Schweigen fort) »diese Welt ist einmal so, daß man auf der geraden Straße meist nicht vorwärts kann und doch auf der krummen nicht fahren soll. Es bleibt dabei: die Umstände und Verhältnisse stoßen und treiben die Menschen; sie handeln und meinen, sie thun es. Gott entscheidet.«

Seit dem Jahre 1815 hat der Selige noch ein halbes Menschenalter durchlebt und ist, teils aus richtiger Erkenntnis der obwaltenden Verhältnisse, teils weil er bei herannahendem Alter nur die Rüstigsten zum Dienst der Zeit berufen glaubte, Anträgen zu größerer Wirksamkeit, wobei er ein freies volles Handeln noch seinem Sinne und seiner Art unmöglich hielt (wie wir glauben, weise), ausgewichen; aber dem Vaterlande und den Pflichten, wofür er sich geboren glaubte, hat er sich, wie viel enger er seinen Kreis auch um sich schloß, doch keinen Augenblick entzogen. Und auch aus diesem Kreise, den er bescheiden sehr klein zu nennen pflegte, hat er immer in den weiteren Kreis des gesamten deutschen Vaterlandes hinauspulsiert, und so ist auch das Wirken seiner späteren Lebensjahre in vielfacher Hinsicht ein gesegnetes geworden. Wir werfen einen kurzen Blick auf diese seine sechzehn letzten Jahre:

[357] Die ersten beiden Jahre nach 1814 wandte er dazu an, sich selbst und sein gleichsam zerstreutes Leben und sein zerstreutes Haus wieder zu sammeln und zu bauen. Er wohnte wieder in Nassau, wo er geboren und erzogen war und im Schoße glücklicher und ehrwürdiger Eltern die reinsten und schönsten Jahre seiner Jugend verlebt hatte; er hatte seine Gemahlin und Kinder, welche Unglück und Elend treu mit ihm geteilt hatten, wieder um sich versammelt. Vieles war auch hier zu ordnen und wiederherzustellen. So ward der Blick oft rückwärts geführt in die Vergangenheit, aber der Mann, der die Gegenwart mit der ganzen Schwere ihres Unglücks und ihres Sieges auf seinen Schultern gefühlt hatte, lebte doch am meisten in ihr und wandelte mit den Gefühlen frommer Wehmut und stiller Anbetung über das, was Gott an ihm und an dem Vaterlande gethan hatte, hier unter den Erinnerungen seiner Kindheit umher. So entstand die Idee, seinem Schlosse einen alten deutschen Ritterturm anzubauen, den er mit Bildern und Denkmälern seiner Zeit füllen, worin er künftig wohnen, denken, schreiben, studieren, beten wollte. Dieses Werk ward mit der ihm eigenen Geschwindigkeit in wenig Jahren vollendet, von außen mit den Bildern der christlichen Kardinaltugenden und mit der Inschrift: Nicht mir, nicht mir, sondern deinem Namen gebührt die Ehre; von innen mit den Büsten und Bildnissen der Herrscher, Helden und großen Männer seines Zeitalters geschmückt. Hier hauste und wirkte er bei seinem Aufenthalt in Nassau am liebsten; hier zeigte er den Fremden vor allen mit dem größten Wohlgefallen das Bildnis seines früher heimgegangenen Freundes Scharnhorst, des Stillbereitenden und Thätigschaffenden. Die nächsten Jahre traf den schon alternden Mann der herbste Verlust in dem Tode seiner Gemahlin. Er machte, um seinen Schmerz zu zerstreuen, seinen erwachsenen Kindern die schöne Welt zu zeigen und auch, um möglicherweise an mehreren bedeutenden Stellen für einen höheren Zweck zu wirken, eine Reise [358] durch Südeutschland, die Schweiz und Italien. Dieser höhere Zweck war die Bereitung und Sammlung der Hilfsmittel zur deutschen Geschichte des Mittelalters, deren Denkmäler zu erhalten und endlich auf eine würdige Weise durch eine große Gesamtausgabe zum Druck zu fördern ihn mehrere Jahre beschäftigt, und wofür er keine Zeit, Arbeit und Geld gespart hat. Hiefür war er schon während seines Aufenthalts in Frankfurt thätig gewesen, wo er in dieser Zeit im Kreise gelehrter und gebildeter Freunde mehrere Winter mit den Seinigen verlebt hatte. Auch in diesem Streben fühlte er das ganze Vaterland und suchte viele andere für dasselbe zu begeistern; am mächtigsten und innigsten fühlte er es in einer glühenden Liebe und rastlosen Wirksamkeit für die preußischen Verhältnisse, weil er in Preußen den Halt und Kern Deutschlands und die Hoffnung der Sicherheit, Erhaltung und Fortbildung des gesamten Vaterlandes erblickte. So schien ihm sein Stammsitz Nassau nebst den darauf bezüglichen Verhältnissen wieder fast gleichgültig zu werden, und er wohnte hinfort am liebsten auf seinem Schlosse Kappenberg in Westfalen, einem schönen Besitze, den er gegen beträchtliche in den östlichen preußischen Landen belegene Güter sich eingetauscht hatte Dort fühlte er sich nun ganz heimisch, dort liebte er die Menschen und die Verhältnisse am meisten; es waren die Urenkel der alten tapfern und freiheitliebenden Sachsen, es war preußisches Land. Dort hatte er seine kräftigsten Jünglings- und Mannesjahre verlebt; dort hielten ihn die Erinnerungen der Vergangenheit und die Hoffnungen der Zukunft gefesselt. Und nicht müßig war er dort, oder als einer, der sich im Alter nur ausruhen wollte. Dieser Mann konnte nicht schlafen noch träumen, so lange es Tag war. Als großer Grundbesitzer, als Ratgeber, Freund und Nachbar des Bauers und Edelmanns, als Staatsrat in dem Staatsrate in Berlin, als bedeutender Grund- und Standesherr immer Vorsitzer und Leiter der westfälischen Ständeversammlung, als Mitglied der [359] evangelischen Gemeine Vorsitzer der westfälischen Synode – kurz als Mensch, Mitbürger, Staatsmann war er Förderer, Rater, Helfer, Ermunterer und Warner bis ans Ende.

Dieses Ende kam seinen Freunden unerwartet; obgleich er seit einigen Jahren einige bedenkliche Zufälle gespürt, obgleich das Alter seinen Leib geschwächt und gebückt hatte, so war der Geist doch sehr frisch und das Herz mutig wie immer. Die große Katastrophe, die der vorige Sommer für Frankreich und für ganz Europa gebracht hatte, erregte ihm vielfache Sorge um sein Vaterland, aber Furcht hat seine Brust nie erschüttert; und wäre wirkliche Gefahr gekommen, er würde kühn und rüstig wie ein Jüngling ihr entgegengetreten sein. Aber sein Ziel war gestellt, nach der Unpäßlichkeit weniger Tage machte am 29. Junius dieses Jahrs 1831 ein Lungenschlag auf Schloß Kappenberg seinem Leben ein Ende. Auch hier noch bewährte er sich in der alten Kraft und band seinen Abschied von der Erde sogleich fröhlich an den Himmel: im vollen Besitze des geistigen Bewußtseins und getrost seines Glaubens an den Erlöser ging er freudig in das bessere Dasein hinüber, mit solchen Worten und Ermahnungen an die Zurückbleibenden, daß sie für dieses irdische Leben zugleich gewarnt und ermutigt wurden. Sonderbar, daß er, der so oft den sehnsüchtigen Wunsch ausdrückte, recht bald aus diesem irdischen Gewirre erlöst zu sein, gerade für diesen Sommer manche Plane entworfen hatte, wie er mit seinen Freunden an den Ufern der Lahn und des Rheins in kleinen Reisen und Wanderungen gleichsam alle Spuren der frühesten Jugenderinnerungen wieder auflesen wollte. Gott wollte, er sollte die glücklichste Reise machen. Mit diesem Manne, den alle redlichen Deutschen mit Recht wie eine volle Wehr und Rüstung des Vaterlandes betrachtet haben, ist der Schild und Helm seines Mannsstammes mit ins Grab gelegt. Er hat nur zwei Töchter hinterlassen, Henriette, die Älteste, an den Königlich Bairischen Reichsherrn Grafen von Giech in Franken, [360] Therese, die Jüngste, an den Grafen Ludwig von Kielmannsegge in Hannover vermählt.

Über jeden öffentlichen Mann, der in bedeutendsten Verhältnissen und außerordentlichster Zeit gelebt und gewirkt hat, müssen die verschiedensten Urteile ergehen, zumal wenn seine ganze Persönlichkeit und Eigentümlichkeit ein sehr ausgezeichnetes Gepräge trug. Auch dies hat der Selige erfahren, um so mehr erfahren, je mehr die Zeit selbst in den schärfsten Gegensätzen steht. So ist es geschehen, und dieser in seinem ganzen Wesen Festeste und ihm selbst Ähnlichste ist wohl gar der Veränderliche und Ungleiche genannt worden, so daß die einen ihn als zu freisinnig, ja als neuerungssüchtig, die andern als zu aristokratisch gesinnt und das Alte vorliebend gescholten haben. Wir haben diesen großen und guten Mann gekannt mit seinen Tugenden und mit seinen Fehlern, die er nach dem Lose der menschlichen Gebrechlichkeit auch an sich trug. Auch er ist in der wechselvollen Zeit gleich andern Sterblichen mit Empfindungen und Ansichten oft hin und her bewegt worden, gewiß aber weniger als die meisten seiner Zeitgenossen; in seinen Gesinnungen und Grundsätzen aber ist er immer der Zuverlässige und Unwandelbare geblieben: was gut, tapfer, frei menschlich und christlich deutsch war, hat in Rede und That immer den wärmsten Freund, Verteidiger und Lober in ihm gefunden; und wann die Spur seiner äußern Wirksamkeit, seiner äußern Werke und Thaten durch die ewig fortwandelnde und verwandelnde Zeit einst meist verwischt sein wird, doch wird sein innerer Schatz, die Liebe, Treue und Hingebung für sein Volk und sein Vaterland, wird das Unsichtbare und Unbewußte, das unsterbliche, unvergängliche Abbild des geistigen Wirkens eines edlen und biedern Menschen, wie wir glauben und wissen, noch in dem Enkel und Urenkel des deutschen Volks fortleben und fortwirken.

Wir zeichnen zum Schlusse noch einige Züge, die eben den innern Menschen noch mehr andeuten sollen: [361] Gott hatte ein feuriges, gewaltiges, mutiges Herz in seine Brust gelegt, ihn mit einer raschen blitzschnellen Auffassung, einem kühnen geschwinden Verstande gerüstet: Geschwindigkeit, Kühnheit, Heftigkeit – das war er selbst. Er mußte fortstoßen, was ihm im Wege stand, niederreißen, was ihn in seinem Laufe aufhalten wollte – sehr schlimm, wenn diese großen aber auch gefährlichen Anlagen durch keine Anerkennung von Maß, Zucht und Ordnung geregelt gewesen wären. Vor nichts zurückbeben, geschwindestes Handeln, regestes Schaffen war sein Element. Daß der Inhaber einer so feurigen und heftigen Natur sich nicht oft geirrt und zuweilen überlaufen haben sollte, darf nicht geleugnet werden; aber Erziehung der Menschen und Führung Gottes hatten sein Gemüt früh auf das Edle und Wahre gerichtet und machten die Fehler eines solchen Temperaments meistens bald wieder gut. Wie er geboren war, hätte er, um im besten Sinne einer großherzigen Natur in freiester Wirksamkeit sich entfalten zu können, immer in den ersten Stellen stehen müssen. Den gewöhnlichen Künsten, wodurch geherrscht und gewirkt wird, hat er sich nie bequemen können. Des Widerstandes war er ungeduldig und begriff meistens erst spät seine Notwendigkeit. Widerspruch und Widerstreit der Gedanken und Worte hat niemond mehr gereizt und an Tüchtigen geachtet als eben er. In solchem Kampf der Geister, nur geschwind und mit kurzen Blitzhieben mußte er geführt werden, fühlte er sich ganz in seinem Elemente. Heftig, auch hart ist er oft gewesen, gegen die Heuchler und Schurken unerbittlich, gegen Schwache und Blöde zuweilen verletzend; auch Zorn hat ihn übereilt; Groll und Rache aber hat sein edler Mut nie gekannt, und den Guten und Braven, gegen welche er durch ein geschwindes Urteil oder ein rasches Wort je einmal gesündigt hatte, hat er laut oder still, durch Worte und mit dem Herzen, immer gern Wiedererstattung gethan. Wie sein ganzer Sinn in Deutschland und Preußen und in der Erinnerung und Hoffnung des[362] geliebten Vaterlandes lebte und webte, wie er dafür den letzten Tropfen von Leben und Vermögen jeden Augenblick freudig geopfert hätte, so war der starke und helle Stahl seines Charakters auch ganz deutsch ausgeschmiedet. An Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, Offenheit hat kein Mensch ihn übertroffen; er sah und wandelte stracks und gerad vor sich hin. Das war sein Glaube, daß durch Wahrheit, Einfalt und Redlichkeit alle Dinge allein gewonnen werden sollen und erhalten werden können, und daß kein Weg, der irgend krumm sein muß, Segen bringe. Das war sein Spruch: Es darf nichts gethan werden, was nicht grad und offen gethan werden kann. Also: Offener Weg, hohe Zwecke und reine Mittel zu den Zwecken. Und einen solchen Mann hat ein verächtlicher französischer Geldfeilscher und Späher, Namens Bourrienne, sich erfrecht mit dem Argwohn zu beschatten, als sei er fähig gewesen, mit solchen zu zetteln, die auf schleichende Dolchstiche sinnen? Als ein Mann, dessen Luft im Schaffen und Hervorbringen bestehen sollte, sah er den Gegenstand, der ihn eben anzog, sogleich in seiner ganzen abgesonderten Schärfe, einzeln, eng, einseitig und meinte wohl anfangs oft, ihn auch so machen und ausführen zu können. Erst allmählich und bei ruhigerer Betrachtung erweiterte und vergrößerte er sich vor seinen Blicken und zeigte seine verschiedenen Seiten und Verhältnisse und die verwandten Beziehungen. So war er demnach bestellt, daß er nie von oben nach unten hinab, sondern immer von unten nach oben hinaufstieg, von dem Kleinen zum Großen, von dem Engen zum Weiten, vom Einzelnen zum Ganzen; die ideale Spitze der Dinge sah er erst, lange nachdem sie vollendet waren. Für alles, sobald es vollendet und fertig war, verlor er anfangs auch gänzlich die lebendige Teilnahme; es mußte gleichsam von der Zeit schon etwas berostet und bemoost sein, damit er den Sonnenschein einer idealischen Liebe darauf zurückwerfen könnte.

Seinen Stand und die Vorzüge desselben erkannte und [363] schätzte er; den alten deutschen Ritter, den weiland sendbar freien und unmittelbaren kaiserlichen Reichsmann fühlte er; auch teilte er manche Ansichten und Vorurteile seines Standes mit seinen Genossen; und wenn er in der neuen Zeit frisch gehandelt und gelebt hat, so hat er schon durch die Zeit, worein seine Jugendbildung gefallen, einem Alter angehört, von dessen Art und Sitte bei den in dem letzten halben Jahrhundert Gebornen begreiflicherweise kaum eine Ahnung sein kann. Er fühlte seinen deutschen Ritter und den Stolz auf graue Ahnherren, alten Besitz und altes Geschlecht, aber er hatte diesen Ritter auch idealisiert. Ihm sollte der Edelmann sein der Ewigrüstige, der Immergewappnete, der durch Rat und That für König und Vaterland Wirksame; ihm sollte der Landherr sein der tapfere einfache Landmann, der erste Bauer, ein Beispiel von Arbeit, Ordnung, Sparsamkeit, Zucht, mit der Hand und mit dem Kopf und mit allen seinen Kräften der Gemeine, dem Kreise und der Landschaft angehörend. Und so war, lebte und wirkte der Mann auch, streng in seinen Grundsätzen, einfach in seinen Sitten, enthaltsam und mäßig in seinen Genüssen, sparsam in seiner Haushaltung, im Kleinen schonend, gewinnend, erhaltend, damit er im Großen und für große Zwecke stets viel zu verwenden hätte. Den faulen oder den in Eitelkeit und Zwecklosigkeit sein Leben hindämmernden Mann, den, der unter dem Schatten der Arbeiten und Verdienste der Ahnen bloß des nichtigen Genusses pflegte, verachtete niemand mehr als er; den thätigen, brauchbaren, geschickten, ausgezeichneten Menschen jedes Standes sah der stolze Ritter in freudiger Anerkennung immer als seinen gebornen Gleichen an; ja so bescheiden war er, daß er sich jeden Augenblick unter jeden stellte, der ihn in irgend einer Sache oder irgend einem Geschäfte an Einsicht und Geschicklichkeit übertraf. Er hat immer nur das Achtungswürdige geachtet und selbst auf die Dinge, welche meist nur im Schein zu bestehen scheinen, immer den Glanz einer höheren Ansicht und eines edleren [364] Strebens gelegt. Hätten nur alle Edelleute solchen Ritterstolz! Wenn sein Leben durch Thatkraft und Handeln bedeutend gewesen ist, so war sein Wirken durch Geselligkeit und Mitleben in den gewöhnlichen menschlichen Kreisen und Verhältnissen, freilich auf eine unberechnenbare Weise, viel bedeutender. Er konnte von einer Lebendigkeit, Heiterkeit und Liebenswürdigkeit in der Unterhaltung und dem Wortgefechte sein, die alles Frische und Geistreiche mit einem unwiderstehlichen Zauber fortrissen, wenn aus der übersprudelnden Feuersülle sein blitzender Witz und seine übermütige Laune überströmten; in ernster Stimmung aber, wenn von hohen Verhältnissen und Angelegenheiten der Menschheit, wenn von Gegenständen der Religion und Tugend, wenn von dem Vaterlande und von seinem Heile geredet ward – mit welcher Macht ergoß sich dann dieses edle und stolze Gemüt für alles Schöne und Große, begeisternd für jeden, der irgend einen Funken dafür in sich trug! Bei diesen, bei so ernsten Unterhaltungen, erschien der ganze tiefe und wehmütige Ernst seines Wesens, das Hochtragische, das selbst in dem würdigsten Handeln und Wirken nimmer eine Genüge fand. Was geht hieraus hervor? Daß der Feurige und Starke doch auch ein sehr Milder und Weicher war, daß er, wie unten ein Mann des Mutes, so oben ein Mann des Glaubens war, daß in allem Irdischen und Menschlichen ihm trogisch immer die Endlichkeit und Vergänglichkeit vorschwebte. Daher war er in seinem innersten Wesen von Herzen demütig und bescheiden; daher hatte er den Glauben aller guten Menschen, daß der Mensch nichts könne ohne Gott, daß Gott die Welt regiere; daß auch der Weiseste und Größte wenig könne und ausrichte; daher war der Schmeichler und Heuchler, der Klügling und Dünkling, und jeder, der ruhmredig und ruhmthätig das Seine suchte und sich auf Künste der List etwas einbildete, vor ihm verloren. Ja, Stein glaubte an eine unsichtbare göttliche Weltregierung; er glaubte als ein frommer Christ an seinen [365] Erlöser und baute alle seine Hoffnung auf die durch ihn gewonnenen und verheißenen unvergänglichen Güter. Er war ein gläubiger und fester Christ; darum war er ein dankbarer Sohn, ein zärtlicher Gatte und Vater, ein treuer Freund, ein streng sittlicher Hausherr und Hausvater, ein rastlos thätiger und arbeitsamer Bürger – und durch diesen seligen Glauben und durch die hochstrebende und überweltliche Richtung seines Sinnes, die ihn in keinem Augenblick seines inhaltvollen Lebens verlassen hat, sind Eigenschaften und Anlagen, welche leicht in unbändigen Stolz und Trotz, und in übermenschliche Härte hätten ausarten können, für das Glück der Seinigen und das Heil des Vaterlandes zu allem Guten gewendet und zu fester Männlichkeit und würdiger Tapferkeit besänftigt und gemildert worden. Ewig daure das Gedächtnis des deutschen Biedermanns! Frisch stehe seine Tugend in dieser gewaltigen Zeit vor uns! damit wir wissen, wie wir handeln und leiden sollen, wann das Vaterland uns aufruft.

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Fußnoten

1 Dieser kurze Nekrolog des würdigsten Mannes ward von mir in die Allgem. Zeitung Jahr 1831, Monat September eingerückt, und scheint mir noch der Erhaltung wert.

2 Die einzige seiner Geschwister, die ihn nur wenige Monate überlebt hat. Sie war Äbtissin des freien Fräuleinstiftes zu Homberg in Hessen, in vielfacher Beziehung ein Vorbild und Abbild seines Wesens in weiblicher Natur.

Anmerkungen des Herausgebers

Anmerkungen des Herausgebers.

A1 Die Explosion des Pulverturmes fand am 11. Dezember 1770 statt. Nach dem Bericht, welchen die Stralsundische Zeitung einige Tage später über den Unglücksfall brachte, kamen dabei 75 Personen ums Leben, 98 wurden verwundet, 78 Häuser und Buden stürzten ein, 177 Gebäude wurden beschädigt, darunter die Marienkirche und das Gymnasium.

A2 Die in Arndts Erinnerungen mehrfach erwähnten Grafen Putbus sind:

Moritz Ulrich geb. den 13. Oktober 1699, vermählt mit Christiane Gräfin zu Lynar, Landrat und Landmarschall von Schwedisch-Pommern und Präsident des schwedischen Tribunals zu Wismar. Er starb am 25. Juli 1769, nachdem er schon 1751 vermittelst eines mit den Gläubigern abgeschlossenen Vertrages die Herrschaft Putbus an seinen ältesten SohnMalte Friedrich abgetreten hatte. Dieser, geb. am 26. Dezember 1795, war Präsident des Hofgerichts zu Greifswald und der Regierung zu Stralsund. Im Gegensatz zu seinem Vater war er ein sehr sparsamer und gestrenger Herr und that viel zur Hebung seines verschuldeten Besitzes. Erst 1782 verheiratete er sich mit der 21 jährigen Gräfin Sophie Wilhelmine von der Schulenburg. Er starb am 8. Februar 1787, nachdem ihm am 1. August 1783 ein Sohn geboren war, der den Namen Wilhelm Malte erhielt. Dieser wurde i. I. 1807 in den Fürstenstand erhoben, machte in Begleitung von Bernadotte, dem Kronprinzen von Schweden, den Feldzug des Jahres 1818 gegen Napoleon mit, wurde zum General-Gouverneur von Neuvorpommern und Rügen ernannt und behielt diese Stellung auch nach Einverleibung dieser Lande in den preußischen Staat, allerdings mit verringerten Befugnissen. Er ist der Schöpfer des Ortes Putbus und des schönen Parks daselbst, sowie der Erbauer des Jagdschlosses in der Granitz. Er war vermählt mit Freiin Luise von Lauterbach und starb am 26. September 1854.

A3 »Siegwart, eine Klostergeschichte« von Martin Miller, einer der bekanntesten, empfindsamen Romane, welche im vorigen Jahrhundert die Lektüre der »schönen Seelen« bildeten, erschien 1776.

[367] A4 Zwei Briefe Dankwardts an Arndt, s. E. M. Arndt: Notgedrungener Bericht aus seinem Leben. Leipzig 1847, Bd. II, S. 93 u. 369.

A5 Schweden befand sich seit dem Beginn des Jahres 1805 im Kriege mit Frankreich, ohne daß es zum wirklichen Kampf gekommen wäre. Als Napoleon im Herbst 1806 den preußischen Staat zerschmettert hatte, ließ er am 28. Januar 1807 den Marschall Mortier mit einem Armeecorps in das schwedische Pommern einrücken, das fast ohne Widerstand zu finden die geringe schwedische Besatzung zurückdrängte und in Stralsund einschloß. Am 29. März wurde jedoch der größte Teil des Belagerungscorps abberufen, um die Truppen vor dem heldenmütig verteidigten Kolberg zu verstärken. Der Rest der Franzosen wurde mit leichter Mühe über die Peene zurückgeworfen. Als jedoch am 9. Juli der Friede zu Tilsit mit Rußland und Preußen abgeschlossen war, kehrten die Franzosen zurück. Am 13. Juli besetzte Marschall Brune mit 4 Divisionen ganz Schwedisch-Pommern und schritt nun ernstlich zur Belagerung Stralsunds, das sich am 26. August ergeben mußte.

A6 Gottlieb von Kathen, später vermählt mit Charlotte von Kathen, an welche E. M. Arndts »Briefe an eine Freundin« (herausgegeben von Langenberg, Berlin 1878) gerichtet sind.

A7 Theobul Kosegarten, der bekannte Dichter der »Jukunde«, der »Inselfahrt« und zahlreicher Legenden. Er wurde 1792 Probst in Altenkirchen auf Rügen, und Arndt lebte dort sei dem Herbst 1796 etwa ein und ein halbes Jahr als Hauslehrer bei ihm. (Vergl. S. 76.) Im Jahr 1808 als Professor der Geschichte und Theologie nach Greifswald berufen hielt Kosegarten bei einer Universitätsfeier an Napoleons Geburtstag, am 15. August 1809 eine Rede, in der er des Kaisers glänzende Erfolge pries, und die schon damals großen Unwillen unter den schwedischen Patrioten hervorrief. (In dem von Rühs, Barkow und Quistorp geführten Tagebuch s. Pomm. Geschichtsdenkmäler VI., S. 80 wird sie als »sehr schlecht« bezeichnet.) Später wurde sie auf dem Wartbnrgsest mit Schriften von Kotzebue, Kamptz und Haller von den Burschen öffentlich verbrannt. Auch Arndt fühlte sich abgestoßen von Kosegartens »wälschelndem Sinn«. (Vergl. S. 111.)

A8 Samuel Johnson, der berühmte englische Lexikograph, und sein Freund und späterer Biograph James Boswell unternahmen im Jahr 1773 zusammen eine Reise nach Schottland und den Hebriden, von welcher beide Beschreibungen verfaßten, die für die damaligen Zustände und Sitten sehr lehrreich sind:Johnson: Journey to the western isles of Scotland. (London 1775.) Boswell: Journal of a tour to the Hebrides with Johnson (London 1774.)

A9 Olaf Tryggveson bemächtigte sich i. I. 995 der Herrschaft [368] über Norwegen. Unzufriedene Große seines Reiches verbanden sich mit den Königen Svein Gabelbart von Dänemark und Olaf Schoßkind von Schweden. Sie lauerten ihm auf, i. I. 1000, als er von einem Raubzug gegen die Wenden zurückkehrte, überfielen ihn und vernichteten seine Flotte; Olaf Tryggveson stürzte sich, als er alles verloren sah, ins Meer. Ob Dahlmanns Ansicht die richtige ist, der nach Adam von Bremen den Schauplatz des Kampfes in den Oeresund verlegt, oder Arndts, der Snorre Sturleson und den isländischen Sagen folgt, läßt sich schwer entscheiden.

A10 Am 15. November 1715 landete Leopold von Anhalt-Dessau mit 24 preußischen Bataillonen bei Stresow in der Nähe von Posewald auf Rügen und ließ sofort Verschanzungen aufwerfen, um sich gegen einen schwedischen Angriff zu sichern. Dieser erfolgte auch noch an demselben Tage gegen 3 Uhr nachmittags, und zwar unter der persönlichen Leitung Karls XII., der mit etwa 3000 Mann herbeigekommen war, um den Feind, den er für viel schwächer gehalten hatte, wieder ins Meer zurückzuwerfen. Ein dreimaliger heftiger Angriff der Schweden wurde zurückgeschlagen, dem König wurde ein Pferd unter dem Leibe erschossen, beim Anbruch der Nacht mußte er sich endlich zurückziehen.

A11 Pamela und Grandison, berühmte englische Romane von Samuel Richardson, 1741 und 1753 erschienen.

A12 An seinem Bruder Fritz (vgl. auch S. 74) hing Arndt mit besonderer Liebe. Er hat aus dessen litterarischem Nachlaß, der ihm nach Fritz' Tode i. I. 1815 zugefallen war, in den »Schriften für und an seine lieben Deutschen« Leipz. 1845, Bd. I., S. 1–172 ein Tagebuch veröffentlicht, das jener in seiner Studentenzeit in Jena in Jean Pauls humoristischer, phantastischer, sentimentaler Manier geschrieben hatte, sowie aus späterer Zeit noch einige an ihn gerichtete Briefe. Der größte Teil von Friedrich Arndts nachgelassenen Papieren ist mit Ernst Moritz' Bibliothek bei seiner Übersiedelung nach Bonn auf dem Seetransport von Stralsund nach Köln durchnäßt und verdorben, doch schon das mitgeteilte Tagebuch zeigt dessen Genialität und hohe schriftstellerische Begabung.

A13 Matthias Claudius, der bekannte Wandsbecker Bote, gab i. I. 1775 ff. seine Werke unter dem Titel: Asmus omnia sua secum portaus heraus.

A14 Dieser Schilderung der Kinderjahre mögen noch folgende Erinnerungen aus der Kindheit hinzugefügt werden, die Arndt in den »Schriften für und an seine lieben Deutschen« Bd. III., S. 488 ff. erzählt:

Früheste Erinnerungen der Kindheit, Mit Recht sagt und klagt [369] man wohl: Der Mensch ist so geartet, die Erinnerung des Übels und des Bösen hält er fest, und das Elück und die Freude löschen sich beide mit Gefühl und Erinnerung in ihm aus.

Aus dem dritten, vierten Lebensjahr sind diese beiden Erinnerungen:

Auf dem Hofe zu Schoritz nimmt eine Kuh den kleinen Knaben auf die Hörner und wirst ihn in die Luft. Er fällt glücklich in eine Mistpfütze. – Zwei zusammengekoppelte Jagdhunde, die dem Herde zu nahe kommen, werden von der Küchenmagd mit dem Besen weggekehrt, sie laufen zur Thüre, fassen den kleinen Jungen, der in ihr auf der Treppe steht, zwischen sich und reißen ihn die hohe Treppe in den schmutzigen Abgrund hinunter, der zum Glück weich war. Die Base Sofie schreiend hinterdrein. Schmutz die einzige Beschädigung.

Aus dem fünften Jahr. Bruder Karl und ich waren mit den Hirtenknaben auf die Weide gegangen. Die Jungen hatten im Strande gebadet und mich mit dazu verleitet. Ein furchtbares Gewitter steigt auf und schüttet einen strömenden Regen auf uns, ich fühle ihn noch auf mich herabplätschern, und mit welcher Not sie unsdie durch näßten Hemden und Kleider etwas unordentlich wieder anziehen halfen. Nun treibt bald jeder sein Vieh wieder zu seinem Hof, wir auch mit dem Adend mit den Unsrigen zurück, halten uns, den Vater fürchtend, der solches eigenwillige Auslaufen und Entlaufen verboten hatte, bis in die volle Dämmerung in den Kuhställen auf; müssen endlich hervorschleichen. Der Handel wird untersucht, die Nässe und das Strand- und Gewitterbad entdeckt, die Waffe der Züchtigung hinter dem Spiegel hervorgeholt. – Da erscheint zu unserm Glück der Friedensbote, der freundliche Herr Braun, Schreiber zu Dumsevitz, und bittet so kräftig, daß die Wirase erlassen wird. Noch heute sehe ich das alte ehrliche etwas päonienrote Gesicht und die stattliche kupferige Nase als sein Vorgebirg darin und ihn selbst in der Stellung, wie er sich zum Tische an das Damenbrett setzt, dessen lustige Scheiben der Vater vor ihm ausschüttet.

Es ist im Hause ein Festtag, Fremde sind gekommen und wir Kinder in unserm besten Staate: neue Stiefelchen, neue Kleider. Es war ein heller sonniger Märztag, uns lockte das Gekrächze der Feldraben, welche, ein zahlloses, fliegendes Gewimmel, in den hohen Eichen und Eschen des Lüloparks ihre Frühlingshochzeiten begingen, ins Freie hinaus. Aus dem Lülo gings auf die kleine Insel und von da auf das Eis, welches noch dick und fest auf der Wik zwischen Schoritz und dem Zudar lag. Nun fuhren die Fischer, welche durch sogenannte Waken ihre Netze hin- und herzogen, zu uns heran mit ihren Schlitten, worauf sie uns neben ihre Fischbutten setzten und stundenlang mit uns hin- und herfuhren. So verging der Nachmittag auf dem Eise, wo [370] wir oft bis übers Knie in dem Überwasser wateten. Endlich kamen wir naß und an unsern Festkleidern mörderlich zugerichtet, indem wir bei dem Rückwege auf dem schlüpfrigen Boden mehrmals hinstürzten, traurig und schuldbewußt in der Abenddämmerung zu Hause geschlichen. Leider waren alle fremden Gäste weggefahren, und wir wurden wegen unsrer geschändeten Sonntagskleider tüchtig abgestäupt. Die Rute hat die einzelnen Umstände und Begebenheiten dieser Frühlingseisfahrt meinem Gedächtnisse wohl eingegraben.

Aber auch eine fröhlichste Traumdämmerung aus der Kindheit schwebt mir noch lebendig vor und kommt zuweilen fast wie ein überirdisches Gesicht, welcherlei Gesichte die Kinder gewiß viele haben, noch oft wieder. Ich war an einem schönen Sommertage in dem Blumengarten auf einem Steige zwischen grünen Buxusbäumen eingeschlafen und erwachte gegen den Abend, wo die sinkende Sonne golden durch die Bäume schien und die hohen Buxus um mich mit Rosenrot übergoß, und sah halb im Wachen halb im Träumen mit unbeschreiblichem Entzücken zwei schneeweiße Tauben im Goldglanz mitten in der Sonne schweben. Diese Sonne, und zwar in unendlicher Größe, nebst den beiden schneeweißen von ihr mit Gold übergossenen Tauben darin, ist mir als anmutigster Traum mit denselben Bildern und Empfindungen oft noch in späteren Jahren wiedergekommen. Ich habe die Stelle im Garten später wiedergesucht und wiedergefunden; der Buxus war noch da, aber der Baum nicht mehr, der seine Rosenäpfel über den Steig und den lauschenden Knaben herabhängte. Ich hatte damals wirklich ein Paar schönste schneeweiße Tauben von der Art der sogenannten Trommler, meine und meiner Mutter Lieblinge, welche sich in einem Zimmer neben meinem Schlafstübchen im Kamin ein Nest gebaut hatten, indem eine zerbrochene Fensterrante ihnen das Zimmer öffnete. Sie hatten dort ein paar Sommer ihre Wirtschaft, und ich hatte das Amt, sie zu füttern. Überhaupt war meine Landfreude, ja mein Landentzücken bis zum Ende meines sechzehnten Jahres das Spiel mit Tauben, und darum haben diese anmutigen und in vielen ihrer Neigungen und Triebe dem Menschen ähnlichen Tierchen noch jetzt in Träumen häufig die Rolle, daß ich die allerschönsten mit Entzücken heranfliegen sehe und zuweilen mit noch größerem Entzücken im Schlage einfange.

Dumsevitz. Sünde und Gewissen. Wir Landjungen jagten uns natürlicherweise viel mit Füllen, Kälbern, Gänsen, Hühnern und Tauben herum. Vorzüglich war es aber eine Belustigung, und ich habe diese flatternde Belustigung noch wohl mehr als die andern in meinem flatternden Herzen gefühlt, von dem Speicher des alten Hauses, wo Korn, Spreu, Flachs in Haufen nebeneinander lagen, die Hühner herunterzujagen, indem wir sie so einsperrten, daß sie nicht die Treppen, [371] auf welchen sie hinaufgeschlichen waren, herunterflattern konnten, sondern durch die Luken des Daches hoch über den Garten durch die Luft hinfliegen mußten. Nun begab sich, daß ich im Garten durch ein Kartoffelfeldchen einmal zu einem Birnbaum ging, der mir seine gelben Früchte zeigte, – und was zeigte sich mir da noch mehr? Ein totes Huhn mit einem Hanfgewirr um den Fuß an einer Kartoffelstaude hängend. Mich überfiel bei dem Anblick Angst und Schrecken. Vielleicht war es ein Huhn unsrer beliebten Speicherjagd, wo sich in dem wilden Herumflattern seinen Füßen Werg angehängt haben konnte, und mit diesem war es zufällig an dem Kartoffelstengel fest geworden und jämmerlich verhungert. Mir hat jenes tote Huhn manche Nächte keine Ruh gelassen, es schwebte seine Leiche wie ein mahnendes Gespenst vor mir. Ich sagte forthin nicht mehr auf dem Speicher; mochte damals ein neunjähriger Bub sein.

Grabitz. Gleich das erste oder zweite Jahr unseres dortigen Lebens, es mochte mein elftes, zwölftes Jahr sein, erlebte ich daselbst eine großartige Taubengeschichte. Mein Vater lag an einer Hämorrhoidalkolik todkrank darnieder. Die Gesichter der Mutter und Base, zwei drei Ärzte, die gingen und kamen, deren der eine sogar bei Nacht aus Stralsund übers Meer geholt ward, erschreckten mein Herz mit bangen und dunkeln Ahnungen. Ich griff fleißig zu meinem einzigen Trostgewehr, das ich hatte, las mir fromme Lieder aus dem Gesangbuche und das laufende Sonntagsevangelium mit lauter Stimme vor und wiederholte das mehrmals und betete und wünschte recht fromm. Endlich aber in der großen Rot meines Herzens fing ich an zu fragen, ob ich dem lieben Gott für das Leben meines Vaters nicht irgend ein Opfer bieten könne. Ich durchmusterte unser Haus, meine Geschwister der Reihe nach, wobei ich aber fand, daß ich kein Recht an ihrem Leben habe; zuletzt kam ich an mich selbst, fühlte aber, daß ich noch nicht sterben wolle. Da blieb mir denn nichts als mein Taubenboden, welchen ich im inbrünstigen Gebet unter vielen Thränen Gott darbot.

Es war nach dem Abend dieses Gebets Morgen geworden, und zwar ein fröhlicher Morgen; die Base kam ganz früh zu uns Kindern in die Schlafstube und brachte die frohe Botschaft, die Krankheit des Vaters habe sich in der Nacht gebrochen, und er sei außer Gefahr. Wir schlüpften geschwind aus dem Bette, kleideten uns an, jeder ging zu seinem kleinen Geschäfte, ich meine Tauben füttern. Und als ich die Thüre meines Taubenbodens öffne, was erblicke ich? Ein weites Schlachtfeld, nichts als Leichen. Der Marder hatte sich durch das Strohdach des Hauses und durch ein morsches Brett gefressen, meine Schönheiten lagen in langer, blutiger Reihe nebeneinander, zum Teil zerrupft und angefressen. Eine einzige braune Sie, die Großmutter, [372] um welche sich wieder ein neues Geschlecht ansiedeln sollte, saß über dem ganzen Jammer noch lebendig auf der Stange. Auf mich machte diese Begebenheit einen unbeschreiblichen Eindruck; ich habe sie aber wohl beinahe zwanzig Jahre bei mir behalten und sie erst später bei traulichen Herzensergießungen oder Gesprächen über göttliches Wirken und Walten wohl einzelnen Freunden erzählt. Sonderbar genug begab sich, daß ich einige Wochen nach diesem göttlichen Ausspruche und Zeugnis, als ich des Morgens meinen Schlag öffnete, wohl ein Dutzend sehr schöne, verflogene Tauben auf dem Dache sitzen sah, welche alle in meinen Schlag gingen und bei den drei, vieren, die ich unterdessen wiedergeschafft hatte, treue Mitbewohner blieben. Doch glaubte ich nicht, daß sie vom Himmel herabgekommen seien.

In dieser Zeit, etwa in meinem zwölften Lebensjahre, begab sich in meinem Leben eine Umwälzung, die sich wenigstens über das Haus, das heißt über drei, vier Jungen, verbreitete. Nicht weit von unserm Hofe, an einem kleinen Wege, auf welchem man von Grabitz nach dem Tannenberge geht, der dicht bei Giesendorf steht, lag ein Katen, das Haus eines vorlängst zerstörten Bauerwesens. Darin wohnte ein frommer, sehr rechtschaffner Mann Namens Anton (ich erinnere mich nur seines Taufnamens), sonst ein freundlicher, hilfreicher Mensch, der, wann wir vorbeiliefen, uns Jungen oft ein Butterbrot oder einen Apfel reichte, uns auf Fisch- und Vogelsang oft begleitete und uns Krebse, Krabben und Vögel fangen und Kester 1 und Sprenkeln zurechtstellen lehrte. Nun war ich bei einem Regen oder bei einer andern Gelegenheit ein mal in seinem Hause fest geworden und blätterte mir unter seinen Büchern etwas ganz Neues und Außerordentliches heraus, nämlich das Büchlein gedruckt in diesem Jahr von der Schönen Prinzessin Magelone und dem Ritter Peter mit dem silbernen Schlüssel. Ich las es und las es wieder und konnte mich vor Entzücken nicht lassen. Anton mußte mir es mitgeben, und wie oft ich es gelesen habe, bis ich jedes Wort darin auswendig wußte, weiß ich nicht mehr. Genug, dies Büchlein warf ein brennendes Feuer in mein Herz und ward für mich und für das Haus eine Weltbegebenheit. Denn noch hatte ich keine andern romantischen Geschichten gelesen, als etwa die Bücher der Richter, der Könige und der Maccabäer des Alten Testaments. Dieses Feuer zündete und ward wenigstens ein Flämmchen. Wir Jungen wurden bald Erzeuger und Erfinder der allerromantischesten und allerabenteuerlichsten Geschichten, wir erschraken vor keinen Wundern von Riesen, Zwergen, Zauberern, Magnetberge, [373] verwünschten Prinzessinnen u.s.w. mehr, und ich zähmte und sattelte mir einen Goldadler, mit welchem ich durch alle Weltteile fuhr und leichtgefiedert durch alle Lüfte hinflog, ihn mit Mandeln und Rosinen fütterte und mit Nektar tränkte, gelegentlich in dem Pantoffel einer Riesin einen versteckten Nachtschlaf hielt und unter den Flügeln des Vogels Rock in der Wüste Kobi mich vor Hagel- und Donnerschauern barg. Mein Bruder Fritz, der eine lustigere Phantasie hatte als ich, und Bruder Karl und Lorenz machten das jeder in seiner Weise so nach; und drei Winter haben wir in dieser Art, indem jeder seinen eigenen romantischen Ausflug machte und seine erlebten und bestandenen Abenteuer erzählte, unsre Geschichten gemacht, oder vielmehr Geschichten getrieben. So hieß es bei uns. Wir gingen gewöhnlich zwischen neun und zehn Uhr zu Bett, und jeden Abend trieb die Geschichte, an welchem die Reihe war. Andächtigst und anständigst ward eine bis zwei Stunden zugehört, und nie, auch wenn es einmal langweilig geriet, habe ich die Unart bemerkt, welche sich wohl in professorischen Vorlesungen zeigt, daß gemurrt, gehustet oder mit den Oberbetten gerückt wäre.

Beiläufig rufe ich nun in meinem 75. Lebensjahre: O glückliche Zeit, wo die schöne Magelone solches vermochte! Jetzt wässert man den Kindern von den ersten ABC jahren, von dem vierten, fünften Jahre an, durch alberne Kinderbücher die kindliche Phantasie so durch, daß keine schöne Magelone, ja nicht einmal Nibelungen- und Eudrunlieder, in ihrem zwölften, fünfzehnten Jahre nimmermehr im romantischen Auffluge mit ihnen durchgehen können.

A15 Nachdem Wallenstein in den Jahren 1625–27 dem Kaiser ganz Norddeutschland unterworfen hatte, und seine Regimenter unter Arnim in Pommern eingerückt waren, versuchte er auch Stralsund zur Aufnahme einer kaiserlichen Besatzung zu veranlassen. Die Stralsunder wiesen diese Zumutung zurück, wozu ihre Privilegien sie berechtigten. Den offenen Feindseligkeiten gegenüber, die Arnim am 24. Mai 1628 begann, suchten sie Schutz bei den Königen Gustav Adolf von Schweden und Christian IV. von Dänemark und nahmen schwedische und dänische Hilfstruppen in ihre Stadt. Seit dem 7. Juli leitete Wallenstein in eigener Person die Belagerung, und man will das Wort von ihm gehört haben, er müsse Stralsund haben und wäre es mit Ketten an den Himmel geschlossen. An dem mannhaften Widerstand der Bürgerschaft und der wirksamen Unterstützung ihrer Bundesgenossen scheiterte auch Wallensteins Feldherrnkunst. Am 25. Juli verließ er die Armee, und am 1. August wurde die Belagerung aufgehoben. Seit diesen Tagen haftete an den Mauern Stralsunds ein besonderer Zauber, europäischer Ruhm. Dem großen Kurfürsten gegenüber vermochte es denselben nicht zu behaupten. In dem ruhmvollen [374] Kriege gegen Schweden verfolgte der Kurfürst seine bei Fehrbellin geschlagenen Feinde bis in das schwedische Pommern und drängte sie bis Stralsund zurück. In den folgenden Jahren wurde der Krieg mit wechselndem Erfolg geführt. Weihnachten 1877 ergab sich Stettin dem Brandenburger. Am 23. September 1678 landete er mit 9000 Mann bei Alten-Camp auf Rügen und entriß die Insel den Schweden, die sich unter Graf Königsmark nach Stralsund zurückzogen, wo sie Anstalt machten, sich bis auf das äußerste zu verteidigen. Der Kurfürst wollte die Stadt schonen und zögerte mit der Beschießung. Am 20. Oktober abends begann sie jedoch, und schon am folgenden Tage zeigte sich die weiße Fahne auf den Wällen. Am 25. wurde die Kapitulation abgeschlossen, und die schwedischen Truppen verließen die Stadt in allen Ehren. Hartnäckiger verteidigte sich Stralsund gegen Leopold von Anhalt-Dessau, den Feldherrn Friedrich Wilhelms I. Auch dieser bemächtigte sich i. I. 1715 ganz ähnlich wie der große Kurfürst anfangs der Insel Rügen (vergl. Anm. 10) und wandte sich darauf gegen Stralsund, das von Karl XII. selbst verteidigt wurde. Am 27. November wurde das Bombardement eröffnet und bis zum 21. December fortgesetzt, eine breite Bresche war zwischen Frankenthor und Tribsnerthor gelegt, der Teich davor zugefroren, und alles zum Sturm bereit, da entfernte sich Karl XII. am 22. früh am Morgen zu Schiff aus der Stadt mit dem Befehl an den General Dücker, die unvermeidliche Kapitulation abzuschließen. Um Mittag wurde in der Stadt Chamade geschlagen, die Besatzung wurde kriegsgefangen; um den tapfern Feind zu ehren, entließ der König jedoch 1000 Mann nebst 3 Generälen und 120 Offizieren.

A16 Arndt spielt hier vielleicht auf folgendes Ereignis an, das er in den, »Schriften für und an seine lieben Deutschen« Bd. III. S. 502 ff. erzählt: Jahre 1785 und 1786. Der Jüngling kam heran, das sechzehnte Lebensjahr. Was es in diesem Alter doch für Sehnsuchten und andere Suchten giebt! Sie werden bei den meisten Sterblichen in den nächsten Jahren, gewöhnlich zwischen dem achtzehnten und zwanzigsten Altersjahre, durch eine einzige gewaltige Sucht, welche zum Glück oder Unglück mit dem Jünglinge durchgeht, verschlungen und endlich vergessen. Indem das sich aufschließende Herz sich nach vielen unbekannten und dunklen Gütern sehnt und die jungen schwellenden Triebe, welche wie eine Blume mit Gewalt aus der Knospe brechen, nicht mehr sammeln und in einem Büschel zusammenbinden kann, fliegt alles nach den verschiedensten Seiten in eine unendliche Weite, oder wird vielmehr oft in eine solche grenzenlose und uferlose Weite gleichsam in eine Unendlichkeit, so mächtig hineingelockt und gerissen, daß es wie in Ahnung ungeheurer Gefahren wie in sich zurückzittert. Ich habe in jenen Jahren auch geträumt von einem Soldaten, von einem [375] Schiffer, von einem Entdecker neuer Inseln und Küsten wie Miageliäus und Cook, der solche Herrlichkeiten wirklich fände, als worüber meine Phantasie mit dem angeschirrten Goldadler so oft hingeflogen war. Aber doch immer bei aller Luft und Wollust dieser Fantasiegebilde, wo sie mich etwa zu kühn und zu weit in die unendliche Welt hinausgelockt hatte, flüchtete ich mich in die Enge der Heimat zurück, und zwar nicht bloß in die nicht zu enge Enge, wie das Leben des väterlichen Hauses sie mir zeigte, sondern ich baute mir das kleinste, netteste Häuschen irgendwo hinter einem Busch am Strande des Meers, bepflanzte mir dort mein hübsches Gärtchen mit Blumen und Bäumen, fing Vögel und Fische, sah Tauben und Hübner aus dem Schlage fliegen und war ein reicher, glücklicher Mensch. So sehr schien ich ursprünglich für ein stillstes, einsamstes, ungewußtes Leben geboren zu sein.

In solchen Träumen und Sehnsuchten, woraus eine allgemeine, schwermütige Sehnsucht des Herzens ward, welche die Einsamkeit suchte, wie oft habe ich hinter der Lau oder an der großen Salzwiese bei unserm Badeplatze am Strande des Meers gelegen und in die über mich hinrollenden Wolken oder in die blaue Ferne der jenseitigen Gestade geschaut und in der unbestimmten Sehnsucht die Wangen von Thränen überströmt gefühlt! Noch schweben die dunkeln Weiden und Gebüsche der fernhin liegenden Insel Ummanz vor meinem Blick, wie sie mir im Abendsonnenglanze im Meere zu verschwimmen schienen und zuletzt in der Dämmerung verschwammen und verschwanden, und wie einzelne weiße Segel wie gespenstische Vögel sanft durch sie hinzufliegen schienen. Das war aber das Seltsame in jenen Tagen, wo mein Herz wohl eine Liebe suchte, die der Mensch, wie sie ihm in der Jugend ahnet, auf Erden wohl selten findet, daß ich um meine beste Liebe, die ich besaß, oft viel trauerte und weinte. Diese meine Liebe war mein Vater, einer der fröhlichsten, mildesten und liebenswürdigsten Menschen. Ich berechnete, ja ich rechnete ordentlich mit scharfsinniger Angst aus, daß und wie er nach dem Laufe der Natur zwanzig oder dreißig Jahre vor mir sterben würde, und bei dem Gedanken dieses Verlustes und meiner künftigen Verlassenheit erschrak ich so sehr, daß ich mir oft mit heißen Thränen von Cott erbeten habe, er möge mich doch frühe und vor meinem Vater von der Welt nehmen. Ich denke, ähnliches mag wohl vielen Jünglingen und Jungfrauen im sechzehnten, siebzehnten Jahre ihres Alters begegnen, daß sie in der Fülle unstillbarer und unerfüllbarer Sehnsucht sich den Tod wünschen, gleichsam ein Rätsel, welches das noch viel unlösbarere Rätsel ihrer Zukunft auflösen werde. Wenigstens stirbt sich's am leichtesten im Lenz des Lebens, wo die Blume die Knospe sprengt. [376] Als es in dem Jünglinge auf solche Weise dämmerte und sich bewegte und sehnte, begab sich im Sommer des Jahres 1786 ein häusliches Abenteuer, welches für mein späteres Schicksal, für die Richtung meines Herzens und den Gang meines Lebens, wahrscheinlich entscheidend geworden ist. An einem schönen Sommertage jenes Jahrs 1786 begingen die Herrn vom Sunde, ich meine die Herren vom Rat und Vorsteher und Verwalter des Klosters Sankt Jürgen vor Rambin, welche auf den dazu gehörigen Entern Tagung und Schau gehalten hatten, zum Beschluß derselben im Kloster einige festliche Tage, wozu mein Vater, als welcher mehrere Güter und Dörfer des Klosters in Pacht hatte, auch eingeladen war. Wir waren den Abend des letzten Festschmauses oder vielmehr des Nachts – denn es war um die Mitternacht – alle in tiefer Ruhe, als mit einemmale die Tante Sofie ganz verstört in unsre Schlafkammer kam und mich und den Bruder Karl leise weckte: Wir sollten uns geschwind in die Kleider werfen und in einer Botschaft ausgehen. Als wir fertig waren, empfing sie uns in der Wohnstube mit Thränen und Wehklagen: es sei Unglück und Jammer im Hause, der Vater sei halb zwölf nach Hause gekommen und habe die Mutter vermißt, sie gesucht und nirgends gefunden. Da sei er auf den Gedanken gekommen, da sie häufig einer so einsamen, schweigsamen und stillen Natur sei, sie habe sich selbst ein Leid angethan; schon habe sie (die Tante) den Baumgarten und Blumengarten und alle Bänke und Lauben, wo die Mutter wohl ihren Sitz za neh men pflege, durchsucht und alle Sträucher und Bäume beschaut und durchschaut, aber nichts gefunden; der Vater und Hinrich Vierk (Statthalter und Großknecht in Grabitz) haben Scheunen, Ställe, Speicher und Brunnen und Teiche durchmustert oder seien noch eben dabei. Nun könne sie sich gar nicht denken, daß unsre Mutter, eine so fromme und mutige Frau, sich selbst ein Leid gethan habe; sie habe ja gar keine Ursache dazu und auch nie und nimmer auch nur ein Wort fallen lassen, welches auf solchen Jammer hinzielen könnte, obgleich es ihr sehr aufgefallen sei, daß sie den ganzen Nachmittag ungewöhnlich still gewesen und den Abend viel in der Bibel und dann in Youngs Nachtgedanken gelesen. Sie wolle sich das Unglück doch lieber anders denken, und daß es nicht von ihrer eignen, sondern von Gottes allmächtiger Hand gekommen sei; die Mutter gebe ja des Abends oft noch spat, zuweilen weit über zehn Uhr hinaus, so gern im Garten oder Felde spazieren, vielleicht sei sie ins Feld oder an den Strand gegangen und liege irgendwo vom Blitz erschlagen; es habe ja den ganzen Abend gedonnert und wettergeleuchtet und blitze noch. Und nun geht, liebe Jungen, und Gott gebe, daß ihr eure Mutter findet, und daß diese Schande nicht über unser Haus und über euch komme! Und wir arme [377] Jungen gingen und liefen auf allen Feldwegen und Fußwegen, standen auch oft still und horchten, an dem Strande, in der Lau, dem Wege nach Bresen in dem Vreser Tannenwald, von da den Weg gegen Rambin zurück, auf unsre Weide, auf unsren Tannenberg, von Donner und Blitz aus düsterm Nachtgewölk begleitet, wie es im Augustmonat viel zu wetterleuchten pflegt, ohne mit Sturm und Regen zu wettern! Ach! das war ein angstvolles Laufen und Suchen und hatte manche angstvolle Täuschung, indem wir hin und wieder am Wege getnderte Pferde und Füllen, welche im Erase hingestreckt lagen, in jammervoller Furcht und Hoffnung für etwas möglicherweise Menschliches ansahen und dann erschreckt wurden, wann die Tiere bei unserer Annäherung mit Schnauben und Wiehern aufkollerten. Wir kamen nach Hause und hatten nichts gefunden; wir fanden den Vater, um welchen Herr Klickow von Drammendorf, Herr Dankwardt und der Arzt standen, auf einem Stuhl sitzend, sprachlos, verzweifelt, mehr einem Toten als Lebendigen ähnlich. Und siehe! kaum einige Minuten, und die Mutter trat herein freundlich und heiter nach ihrer gewöhnlichen Weise, natürlich verwundert und bestürzt über den Zustand und die Personen, welche sie bei dem Halbdunkel der Nacht anfangs auch wohl kaum gewahren mochte.

Nun Friede, Freude, Fragen und Vorwürfe, warum und daß die Frau so lange ausgeblieben und erst um zwei Uhr nach Hause kam – denn so mochte die Zeit stehen. Alles bewegte sich wieder frisch und froh, nur der zerschmetterte Vater kannte sich noch lange nicht wieder erheben und besinnen. Und wie hatte die Geschichte sich begeben? Die Mutter war spät abends ausgegangen, in der Meinung dem lange weilenden Vater auf dem Heimgange vom Kloster zu begegnen und war so bis dicht an Rambin und zwar bis an die Rambiner Sandgrube gekommen und hatte sich über ihr im Erase hingesetzt, wo unser ordentlicher Kirchenfußsteig zwischen zwei Wegen ins Kirchdorf hineinführte. Von hier konnte sie die beiden Wege, welche von Rambin und vom Kloster auslaufen, übersehen, und der Vater mußte hart an ihre Stelle herankommen und konnte ihr nicht entgehen. Dort hatte sie gesessen und in der schönen, blitzigen Sommernacht einige Stunden verträumt und war endlich heimgeschlendert, verwundert und ungeduldig, daß der Mann immer noch nicht kommen wollte. Der Vater war aber eines anderen Weges in sein Haus heimgegangen, nämlich aus dem Klostergarten hinten hinaus durch den Klosterpark und Giesendorf über den Grabitzer Tannenberg. Daher die Tragödie.

Für den Vater war es eine Tragödie. Er erkrankte ernsthaft auf einige Wochen und litt, wie er uns wohl heimlich klagte, lange an den Schrecken dieser fürchterlichen Nacht. Ich bekam auch meinen guten Teil davon. Meine Phantasie war so aufgeschreckt, daß ich darüber [378] manche Nächte gar nicht zum Schlafen kam, ja oft gar nicht einschlafen konnte, bis ich die Mutter in ihrem Bette eingeschlafen wußte. Es war nämlich in dem alten Hause neben der Wohnstube eine große, ungeheuer lange Kammer, welche wie ein arabisches Zelt zwei Abteilungen hatte. Hinten in der Kammer die Betten der Jungen, in der Mitte Tische und Gerüste für Kleider, Waschung, Putzung u.s.w., am Eingange die gewöhnliche Schlafstelle der Mutter, Base und des Schwesterchens. Wie oft habe ich nächtlich aufstehen und leise hinschleichen und schauen und zufühlen müssen, ob die Mutter im Bette geborgen sei.

Kurz, diese Geschichte und das eintretende, entscheidende Jünglingsalter arbeiteten in und an meiner Phantasie mehr als gut und recht war, zerrissen die natürlichen Zustände vom Schlafen und Wachen, setzten mich häufig in einen fliegenden und zitternden Traumzustand, und gaben mir Jahrelang ein unaufhörlich wechselndes Sinken und Steigen von Aufgeregtheit zur Schläfrigkeit und von Fröhlichkeit zur Schwermut, was sich sonst wahrscheinlich in so seltsamen und geschwinden Wechseln nimmer bei mir eingefunden hätte. Das gab bei der entzügelten und aufgereizten Phantasie, die sich nun wie ein losgerissenes Roß mit den wildesten Sprüngen über alle Schranken, Eräben und Hecken verlief, zwischen Leiden und Leidenschaften und Träumen und Gesichten der Nacht, welche schlummerlos nicht die Herzerfreuerin (Euphrone) heißen darf, harte Kämpfe, die der Jüngling allein und schweigend für sich bestehen mußte. Meine Verpflanzung nach Stralsund, welche etwa ein halbes Jahr nach dieser Hausbegebenheit erfolgte, kam noch dazu, und der Eintritt in diese neue Lage und das leidliche Zurechtfinden in derselben ist mir durch meinen außerordentlichen, oft überreizten, oft verdunkelten Gemütszustand außerordentlich erschwert worden. Ich fand mich oft in einem fürchterlichen geistigen Kampf mit mir selber und sollte nun mit einer fremden, zum Teil lieblosen Welt, sollte mit vierzig, fünfzig Genossen leben und kämpfen lernen, welche von Kindesbeinen an in einer öffentlichen Schule unterrichtet, den in schlichter, ländlicher Einfalt aufgewachsenen Jungen in Geschwindigkeit und Fertigkeit des Mutwillens und in Geübtheit in auch unschuldigen Schalksstreichen weit übertrafen. Man denke sich das übrige hinzu.

A17 Der bekannte Historiker seiner Heimatinsel Rügen. Er lebte bis zum I. 1849 in Bergen und schrieb: »Streifzug durch das Rügenland von Indigena« 1805, »Neue und genaue geographischstatistisch-historische Darstellungen von der Insel und dem Fürstentum Rügen« Berlin 1819; »Gesammelte Nachrichten zur Geschichte des ehemaligen Cistercienser- Nonnenklosters St. Maria in Bergen auf der Insel Rügen«, Stralsund 1833.

A18 Über die Grafen Schwerin, die Arndt während seines [379] Aufenthalts in Schweden kennen lernte, sagt er in »Notgedrungener Bericht aus meinem Leben« Bd. II., S. 186, Anm.: »Die Gebrüder Grafen Schwerin in Schweden, in Pommern geborene Deutsche: Graf Friedrich Bogislaf Schwerin (Probst in Sala, als Reichstagsmann ein in Schwedens Jahrbüchern berühmter Name) und sein Bruder, der General Philipp Kurt Schwerin, Majoratsherr in Husby in Ostgothland, waren meine schwedischen Herzensfreunde, mit welchen ich in Gemeinsamkeit der Gesinnungen und Ansichten mir manch' bitteres Weh der Zeit von der Brust weggesprochen habe. Der General war ein so bedeutender Charakter, daß alle Wohlgesinnten i. I. 1807 sagten, Schweden und sein zweiter Gustav Adolf seien gerettet vor den Russen, wenn dieser dem Schwerin Heer und Verwaltung als seinem alter ego übergebe.« Briefe derselben an A. s. a.a.O. II. S. 186 u. 345.

A19 Von dieser Reise hat Arndt eine höchst anziehende, auch jetzt noch interessante Beschreibung verfaßt unter dem Titel: »E. M. Arndts Reisen durch einen Teil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799«. 4. Bd. Leipz. 1804. 8°.

A20 Parow, Superintendent und Pastor an der Marienkirche, Rudolphi, Bhysiolog und Anatom, wurden ebenso wie Rühs, der Verfasser einer Geschichte von Schweden, i. I. 1810 bei Gründung der Universität nach Berlin berufen. Karl Schildener, Jurist, bekannt durch seine Veröffentlichungen altgermanischer Rechtsquellen, war einer von Arndts vertrautesten Freunden. Briefwechsel zwischen Arndt und Schildener s. E. M. Arndt: »Notgedrungener Bericht aus seinem Leben« Bd. II. S. 65–92.

A21 Briefe des General von Dyke an Arndt s. Notgedr. Ber. Bd. II. S. 361, Briefe des Superintendenten Pritzbur und seiner Töchter Charlotte Pistorius a.a.O. II. 172 u. 367.

A22 Sein freimütiges Urteil, das er in seinem Buch »Germanien und Europa« Altona 1803, S. 94–107 und im »Geist der Zeit.« Altona 1807 I. S. 303–24 über Friedrich den Großen gefällt hatte, wurde Arndt später in der Zeit der Demagogenverfolgung als Majestätsbeleidigung ausgelegt.

A23 Am 9. August 1799 reiste A. aus Paris ab, Anfang September kam er in Mainz an. Mit seinen Mainzer Erlebnissen bricht die oben Anm. 19 erwähnte Reisebeschreibung ab.

A24 Franz Joseph Freiherr von Albini, Minister des letzten Kurfürsten von Mainz, organisierte im September 1799 während des zweiten Koalitionskrieges im kurmainzischen Gebiet einen Landsturm. durch den er mehrfach Vorteile gegen die Franzosen erlangte.

A25 Matth. von Normann: »Wendisch-Rügianischer Landgebrauch« herausgegeben von Eadebusch. Stralsund 1777.

[380] A26 David Mevius, Professor in Greifswald, 1638 Sundikus von Stralsund, 1653 bei der Errichtung des schwedischen Obertribunals in Wismar zum Vicepräsidenten desselben ernannt, versuchte in einem Buch »Bedenken über die Fragen, so von dem Zustand, Abforderung und verminderter Abfolge der Bauersleute vorkommen« – bestimmte Rechtsgrundsätze für das Institut der Leibeigenschaft aufzustellen, wobei er allerdings die Bestimmungen des römischen Rechts über Sklaverei häufig als Analogie herbeizieht.

A27 Vergl. hierzu Friedrich Arndts Brief in »Schriften für und an seine lieben Deutschen.« Bd. I., S. 106 f.

A28 Dies geschah durch königlichen Erlaß vom 26. Juni 1806, durch den die bis dahin geltende Landesverfassung in Neuvorpommern aufgehoben und die schwedische Verfassung eingeführt wurde. Gleichzeitig wurde das Land in vier Ämter mit je einem Amtshauptmann eingeteilt und ein Amtsgericht eingesetzt zum Ersatz der Stadt- und Patrimonialgerichte. Die Leibeigenschaft der Bauern sollte mit Beginn des Jahres 1810 aufhören.

A29 Über diese Reise hat Arndt ausführlicher berichtet in seinem Buch: »Reise durch Schweden.« Berlin 1804.

A30 Wie gerechtfertigt Arndts Besorgnisse waren, zeigten die Ereignisse der folgenden Zeit (vergl. Anm. 71) wessen sich der Verfasser vom »Geist der Zeit« von Napoleon zu versehen gehabt hätte, falls er in seine Hände gefallen wäre, ist aus dem Schicksal des Herzogs von Enghien und des Buchhändlers Palm nicht schwer zu erraten.

A31 Pedro Cevallos: Exposition des faits et des trames, qui ont préparé l'occupation de la conronne d'Espagne et des moyens dont l'empereur des Français s'est servi pour la réaliser. Madrid 1808.

A32 In dieser Zeit des vollkommensten Einverständnisses und des engsten Bündnisses zwischen Kaiser Alexander von Rußland und Napoleon war Schweden neben England der einzige Staat, der den beiden Allmächtigen noch Widerstand leistete. Um es zum Anschluß an das Kontinentalsystem und zur Kooperation gegen England zu zwingen, brach Rußland den Vorwand für einen Krieg vom Zaun. Eine Note des Kanzlers Rumänzów vom 21. Februar 1808 kündigte dem schwedischen Gesandten den Beginn der Feindseligkeiten an, und gleichzeitig brach auch ein russisches Heer in Finnland ein. Der finnische Adel, unzufrieden mit Eustavs IV. vergeblichem Widerstand gegen die französisch-russische Politik, schloß sich offen oder im geheimen an Rußland an, Admiral Kronstedt, der Kommandant von Sweaborg, übergab am 6. April diese fast uneinnehmbare Festung den Feinden, ein Manifest Kaiser Alexanders verkündigte Finnlands Vereinigung mit Rußland. Furchtbare Seuchen rafften einen großen Teil der schlecht ausgerüsteten [381] und verpflegten schwedischen Landwehr dahin, ein Landungsversuch, den der König im Herbst 1808 mit seinen Leibwachen und anderen Truppen auf der Insel Aland unternommen hatte, mißlang vollständig, und die Leibwachen hatten sich dabei so schlecht benommen, daß der König sie zu gleichem Rang mit den übrigen Regimentern herabsetzte. Das machte viel böses Blut unter den ersten Familien des Landes, deren Söhne in der Garde dienten, und da nun vollends die Russen im Frühling 1809 in das schwedische Festland eindrangen und sich Btockholm näherten, bildete sich unter dem Adel und in der Armee eine Verschwörung, welche die Absetzung Eustavs bezweckte, um das Land von der unheilvollen Politik seines Königs zu befreien. Er wurde am 13. März 1803 im Schloß zu Stockholm gefangen genommen, nach Schloß Gripsholm gebracht und mußte Schweden im Winter 1810 für immer verlassen, nachdem am 10. Mai 1809 sein Oheim Karl, Herzog von Sudermauland zum König gewählt worden war. Dieser erkaufte am 17. Sept. 1808 den Frieden durch Abtretung Finnlands an Rußland.

A33 Der Ausbruch des österreichischen Krieges gegen Napoleon erfolgte Anfang April 1809, Schills Besetzung von Stralsund am 25. Mai, sein Tod am 31. Mai. Er gebot übrigens nicht über 10000, sondern über wenig mehr als 2000 Mann.

A34 Weder die Ächtung Steins noch die Hinrichtung Hofers erfolgte im Jahre 1809; erstere vielmehr am 16. Dezember 1808, Hofers Tod am 26. Februar 1810.

A35 Seinem Freund, dem Buchhändler Reimer hat Arndt einen Nekrolog geschrieben in »Schriften für und an seine lieben Deutschen« III., S. 333 ff. Briefwechsel zwischen Arndt und Reimer s. »Notgedrungener Bericht« II., S. 3–65.

A36 Der Einzug der preußischen Königsfamilie, die seit der Flucht im Jahre 1806 in Königsberg und Memel residiert hatte, fand statt am Weihnachtstage 1809.

A37 Am 6. Januar 1810 war der Friede zwischen Schweden und Frankreich abgeschlossen; am 17. März wurde das bis dahin von Franzosen und ihren Bundesgenossen occupierte Neuvorpommern an Schweden zurückgegeben.

A38 Die allgemeine Unsicherheit der Verhältnisse in jener Zeit charakterisiert ein Brief des Generals von Dyke auf Losentitz an Arndt vom 4. April 1811, s. Notgedrungener Bericht. II., S. 361.

A39 Chamisso ist nicht Lothringer; Schloß Boncourt liei in der Champagne. Villers floh während der Schreckenszeit 1793 nach Deutschland, wurde 1811 als Professor der französischen Litteratur nach Göttingen berufen, nach Rückkehr der alten Regierung im Jahre 1814 abgesetzt und starb am 26. Februar 1815 in Leipzig.

[382] A40 Durch Dekret vom 10. Dezember 1810 hatte Napoleon einen großen Teil von Hannover, das Herzogtum Oldenburg sowie Lauenburg und die drei Hansestädte in Frankreich einverleibt und Davoust zum Oberbefehlshaber über diese Gebiete ernannt.

A41 Obgleich sich Schweden in vollkommenem Frieden mit Frankreich befand, rückte General Friant am 27. Januar 1812 mit einer Divisivn in Schwedisch-Pommern ein, angeblich auf Erund bestehender freundschaftlicher Verträge. Die Besetzung erfolgte, weil Napoleon für seinen Zug nach Rußland eine nördliche Etappenstraße längs der Küste, durch Mecklenburg, Pommern und Preußen herstellen wollte.

A42 Man vergl. über diese Tage Arndts Tagebuch in Notgedr. Bericht. I., S. 403 ff.

A43 Zwei andere Briefe von Arndts Schwester Dorothea an ihn s. Notgedr. Bericht. II, S. 95 und S. 373.

A44 Das Bündnis zwischen Preußen und Napoleon wurde am 5. März abgeschlossen; am 13. März verließ Arndt Berlin laut des oben Anm. 42 erwähnten Tagebuches, welches über diese Breslauer Tage, die Wanderung nach Prag und die Reise nach Rußland noch nähere Auskunft giebt. Es reicht bis zum 4. August.

A45 Gruner stand in jener Zeit thatsächlich in russischen Diensten s. Allg. Dtsch. Biogr.; er wurde am 92. August 1812 verhaftet und nach Peterwardein gebracht, wo er bis zum Oktober 1813 gefangen gehalten wurde. In einem vorzüglichen Aufsatz in der »Deutschen Rundschau« Jahrg. 1887 hat A. Fournier, der dazu Gruners bei seiner Gefangennehmung mit Beschlag belegten Papiere benutzt hat, Steins und Gruners Aufenthalt in Österreich und ihre Thätigkeit daselbst geschildert.

A46 Am 9. Juli war Arndt in Prag angekommen, am 14. verließ er es, am 23. passierte er bei Brody die russische Grenze und befand sich in Sicherheit.

A47 Ein Brief von Arndt an Eruner, den Fournier unter dessen Papieren gefunden und a.a.O. veröffentlicht hat, möge hier seinen Platz finden. Er ergänzt und berichtigt Arndts Erzählung in einigen Kleinigkeiten.

Brody, 22. Juli 1812.


Eben heute früh um 8 Uhr kamen wir hier an, und ich hoffe, daß r mit Gottes und guter Freunde Hilfe wohl weiter kommen werden. Unsere Reise hätte, wenn die Wege die ersten Tage nicht so schlecht gewesen wären, unstreitig noch geschwinder gehen können; doch haben wir gethan, was in uns lag, sie zu beschleunigen, und ich kann in dieser, so wie in jeder andern Hinsicht meinen ehrenhaften Ritter, [383] dessen Sancho ich bin, nicht genug rühmen. Es ist ein gescheiter, geübter und vorsichtiger Mann, welcher tempora et modos et homines zu belauschen und durch jedes Ritzchen, das sich ihm öffnet, Licht fallen zu lassen weiß. – Eine große Freude haben wir unterwegs gehabt, wo wir nur anrühren und anklopfen durften, die Stimmung vortrefflich zu finden. Es reist eine große Ernte; wenn nur die, welche Vormauer sein sollen, das Rechte thun wollen! Eben wie wir ankamen, fuhr ein Oberstlieutenant Baron Tettenborn von hier, der aus Österreich in russische Dienste geht. Ich gab ihm ein Avertissementsschreiben an Eiers, und falls er vor mir zur Stelle kommen sollte, ein paar Zeilen an Stein und Chasot mit, worin ich meine baldige Ankunft meldete. Ich hoffe, darin werde ich nicht gelogen haben. – Wir sind durch schöne Länder und sehr verschiedenartige Menschen gefahren. Die Böhmen sind trotzig und tüchtig, die Mähren in einem fast noch reicheren Lande gemütlicher und etwas weichlich, die Polacken halbes Vieh, Bettler, Juden und Sklaven: bei diesen Cesichiern ist mir fast übel geworden, und zu dieser Übelkeit werde ich wohl noch oft Gelegenheit haben. – Mein Knappe geht eben aus, und wir werden suchen noch heute Abend hinaus zu fliegen, wo ich mich nicht lange aufhalten werde. Wegen der Brief- und Korrespondenzangelegenheit habe ich mit ihm alles besprochen und werde mit ihm und Giers das Weitere noch besprechen. Beiläufig wegen der Herreise bis hier wird er Ihnen keine Rechnung machen können als über die Wagenmiete: Das andere habe ich durchaus alles bezahlt, selbst 12 Dukaten, um uns einen Ausflug über die Grenzbarrieren zu Eiers zu verschaffen. – Wegen unserer größten Angelegenheit, der Rücken- und Nackenschläge, werde ich alles thun, was ich nach meiner Überzeugung muß. Denn ohne diese ist alles nichts und wird mit Nichts endigen: das muß auch A(lexander) begreifen, wenn er was begreifen kann. Will man großen politischen Ideen folgen, Flammen zünden, wo sie zu zünden sind, neue Völker in einem kühnen und freien Sinne schaffen, so möchte ich für den Erfolg bürgen. Dann wird die Sache großartig und entzündet alle gute und große Herzen, und Cott und die Geschichte werden die Buben und Dummköpfe richten. Für das Alte wird es auf keine Weise gehen, denn dagegen haben sich Cott und Menschen schon erklärt. O möchten wir uns unter fröhlicheren Auspicien wieder umarmen und an den Orten, wo wir es wünschen! und möchten Sie, mein vortrefflichster Freund, richt um Ihr Süßestes weinen, sondern sich der blühenden Wiederherstellung des schönsten Elneks der Liebe freuen können! Dies wünsche und hoffe ich von ganzem Herzen und danke Ihnen hiemit aus vollster Seele für alle die Liebe und Treue, womit Sie mir die paar Tage in P(rag) versüßt haben! Ernßen Sie den Hauptmann Ph(uel), wenn er noch [384] da ist, und sagen ihm, er soll in meinem Namen die auf beiliegendem Blatte genannten Personen nur begrüßen, so werden sie freundlich gegen ihn sein. – Einliegende Briefe befördern Sie gelegentlich nach Berlin an Freund R(eimer?) und melden ihm, daß er sie als völlig ungefährliche und unpolitische auf die Post geben kann; wenn er weiß, daß sie mit dieser an die Adresse gelangen; daß er sie im entgegengesetzten Fall aber mit sicherer Gelegenheit befördert.


Radzwiloff, 23. Juli 1812.


Wir sind glücklich hierher gekommen, haben mit Eiers, der ein artiger aber nicht weit sehender Mann scheint, alles besprochen, und ich werde Stein mündlich über die Korrespondenz noch erinnern. Die Russen sehen die Wichtigkeit aller dieser Dinge noch nicht ein. Ich hatte gestern einen ganz lustigen Abend, weil ich in dem Kollegienrat und Inspektor Saalfeld einen alten Jenenser fand. Heute hoffe ich mein Gepäck aus Brody zu erhalten und dann sogleich weiter zu fliegen ins Hauptquartier, das ich wahrscheinlich an der Düna finden werde. Denn wo es ist, weiß man hier nicht bestimmt, auch weiß man noch nichts von Treffen. Es wäre zu wünschen, wenn man ohne Treffen aufreiben könnte. Ausdauer und fester Sinn allein kann uns retten. – Wie es nun auch gehe, davon seien Sie überzeugt, daß mein Sinn unerschütterlich derselbe bleibt, weil er so muß, daß auch gegen Sie dieses Mlüssen in ihm ist. Cott erhalte Sie und Ihr Glück! Ihr E. M. A.

N. S. Melden Sie mir auf das baldigste wegen des E(ei)sts der Z(ei)t Nr. 2, ob Sie es gedruckt bekommen können. Ist das (nicht) so ziehe ich die Exemplare vielleicht auf anderem Wege zu Schiffe aus Schweden.

A48 Tettenborn, der bekannte Reiteroberst, der mit seinen Kosaken den Franzosen bei ihrem Rückzuge immer auf den Fersen blieb und den verbündeten Heeren weit vorausschweifte. Am 20. Februar 1813 machte er einen kühnen Streifzug nach Berlin hinein, das von den Franzosen noch stark besetzt war, am 18. März nahm er Hamburg, das er leider wegen der zweideutigen Haltung des Kronprinzen von Schweden am 30. Mai räumen und dem schrecklichen Schicksal überlassen mußte, das ihm der harte Davoust bereitete.

A49 Roskolniken, richtiger Raskolniken (von raskol Kirchenspaltung), die gemeinsame Bezeichnung für alle nicht rechtgläubigen Russen, nicht eine bestimmte Sekte bezeichnend.

A50 Hier muß ein Irrtum von seiten Arndts vorliegen. Sein schon mehrfach erwähntes Tagebuch enthält folgende Nachricht: Einfahrt in Smolensk den 1. oder 2. August nach einem Kampf von drei bis vier Stunden vor den Thoren und in den Straßen der Stadt, Fußvolk, Reiterei, Kanonen – alles durcheinander, gräßlicher Staub [385] und Hitze: der Vorderzug des russischen Hauptheeres in und um die Stadt, 25000 bis 30000 Mann. Not um Quartier, Hitze, Hunger und Durst – fröhliches Finden der Freunde: Lützow, Chasot, Barnekow. Fröhlicher Speisetrost an der Tafel des Herzogs Alexander von Württemberg, wo ich, von meinem Chasot eingeführt, mit mecklenburgischen, oldenburgischen, hessischen Prinzen und Hunderten von Offizieren immer meinen Tisch gedeckt fand, auch zuweilen einige lustige Nächte in einem großen Saale meine Glieder aufs Soldatenlager mit hinstreckte. – Viele fröhliche Unterhaltungen über die Hoffnungen dieses Kriegs.

A51 Leo von Lützow, jüngerer Bruder des bekannten Freischarenführers Adolf von Lützow, schloß sich Schill auf seinem Zuge nach Stralsund an, trennte sich aber von ihm, weil er die Aussichtslosigkeit seines Unternehmens einsah. Er kämpfte in Österreich und Spanien gegen Napoleon, geriet in Kriegsgefangenschaft, aus der er glücklich entkam, worauf er sich nach Rußland wandte, um in der deutschen Legion Dienste zu nehmen.

A52 Der Croßherzog Paul Friedrich August von Oldenburg, welcher 1829–53 regierte. Er war 1811 mit seinem Vater, den Napoleon seines Landes beraubt hatte, nach Rußland gegangen. Sein jüngerer Bruder Peter Friedrich Georg war mit Katharina, der Schwester Alexanders I. von Rußland, vermählt.

A53 Wenn diese Unterredung zwischen Kaiser Alexander und Stein überhaupt stattgefunden hat, so muß dies jedenfalls zu einer anderen Zeit gewesen sein, denn Stein befand sich in jenem Sommer 1807 gar nicht in Tilsit, sondern auf seinem Stammschloß Nassau an der Lahn. Dorthin hatte er sich begeben, nachdem er von dem König in Ungnaden entlassen war (3. Januar 1807), dort hatte er den ganzen Sommer über verweilt und erst im September, als der König ihn durch Hardenberg hatte auffordern lassen, die Leitung der Geschäfte wieder zu übernehmen, kehrte er nach Memel zurück, wo er am 30. September eintraf.

A54 Konstantin, Alexanders Bruder, zweiter Sohn des Kaisers Paul.

A55 Ausführlicher noch als hier hat Arndt seine Erlebnisse in Petersburg sowie sein Verhältnis zu Stein geschildert in: »Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Freiherrn von Stein.« Berlin 1858.

A56 Mit Trinius blieb Arndt auch noch in späteren Jahren in freundschaftlichstem Verkehr. Briefe von Trinius an Arndt s. Notgedr. Bericht II., S. 178, 191, 285.

A57 Trotzdem kam es zu einem scharfen Konflikt zwischen Stein und den offiziellen preußischen Behörden, dem Präsidenten von [386] Ostpreußen, Auerswald und York, dem Generalgouverneur der Provinz. Solange der König sich in Berlin unter den Augen und in der Gewalt der Franzosen befand, konnte man ihn allenfalls als unfrei betrachten und sich Steins Eingriffe in die preußische Verwaltung, die er als russischer Bevollmächtigter im Interesse der guten Sache unternahm, gefallen lassen. Am 26. Januar kam die Nachricht nach Königsberg, daß Friedrich Wilhelm sich nach Breslau begeben habe und nicht mehr in der Gewalt des Feindes sei. Nun mußte nach Auerswalds und Yorks Meinung Stein aufhören, seine russische Vollmacht in Anwendung zu bringen. Da er es nicht that, sondern auch jetzt noch fortfuhr, eigenmächtige Verordnungen zu erlassen, so kam es zu einem harten Zusammenstoß zwischen ihm und den genannten Männern, der nur durch Schöns Vermittlung beigelegt wurde. Stein gab nach und verließ Königsberg am 7. Februar.

A58 Was bedeutet Landsturm und Landwehr? Königsberg 1812; von neuem abgedruckt in: »Schriften für und an seine lieben Deutschen« I., S. 289 ff.

A59 Näheres darüber s. Notgedr. Bericht Bd. I., S. 6, wo Arndt erzählt: »Clausewitz' Entwurf ward mir von den Freunden Chasot und Gneisenau, mit welchen ich damals in den drei Bergen in Breslau zusammen wohnte, zur Durchlesung mitgeteilt. Es waren demselben mit einer blauen Bleifeder von der Königlichen Hand Randglossen zum Text beigeschrieben, deren ich dreizehn an der Zahl der Merkwürdigkeit, nämlich des erhabenen Schreibers und seiner Ansicht des Entwurfs wegen, neben meinen Tagebuchserinnerungen abgeschrieben habe.« Diese Randbemerkungen des Königs nun, von denen eine lautete: »Ein paar Exekutionen und die ganze Sache hat ein Ende« und eine andere: »Wenn ein Prediger erschossen sein wird, hat die Sache ein Ende«, diese Randbemerkungen des Königs wurden, – natürlich in dem Glauben, daß sie von Arndt herrührten, – nebst einigen anderen ganz aus dem Zusammenhang gerissenen Auszügen aus Arndts beschlagnahmten Papieren in den Jahren 1819 und 1825, während die Untersuchung wegen demagogischer Umtriebe gegen ibn geführt wurde, in der preußischen Staatszeitung veröffentlicht als höchst wichtige und vollständige Beweise über das Dasein geheimer demagogischer Verbindungen und Umtriebe und die revolutionäre, hochverräterische Tendenz derselben, ein Beweis, bis zu welcher Verblendung die Demagogenfurcht auch besonnene Männer in jener Zeit hingerissen hatte.

A60 Der Graf Friedrich von Dohna war seit 1810 mit Scharnhorsts Tochter Julie vermählt (vgl. S. 121 und 158).

A61 Motherby und Friccius zeichneten sich beide bei det Erstürmung Leipzigs am 19. Oktober 18; 3 aus, bei der M. den Heldentod [387] fand. Nahe bei der Stelle, an welcher er fiel, liegt er auf dem Johanniskirchhof begraben; ein Crabstein in Gestalt eines eisernen Kreuzes bezeichnet den Platz. Canz in der Nähe, genau da, wo die Königsberger Landwehr unter Führung des Majors Frieeius zuerst in die Stadt eindrang, ist ein Denkmal errichtet mit F's. Medaillonbildnis.

A62 Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann, Petersburg 1812; wieder abgedruckt in »Schriften für seine lieben Deutschen« I., S. 229 ff.

A63 Moreau war bekanntlich von Napoleon angeblich wegen Hochverrat verbannt und lebte während der Jahre 1804–13 in Amerika. Beim Ausbruch des Krieges rief Kaiser Alexander ihn zu sich, um mit an Napoleons Sturz zu arbeiten. Am 7. August traf er in Stralsund ein, wo er eine Unterredung mit seinem alten Kameraden Bernadotte, dem Kronprinzen von Schweden hatte; am 16. August kam er im Hauptquartier der verbündeten Monarchen in Prag an; am 26. August in der Schlacht bei Dresden wurde er tödlich verwundet und starb einige Tage darauf.

A64 Johann Christian Reil, ein namhafter Arzt, war 1810 bei Eründung der Universität als Professor der Physiologie von Halle nach Berlin berufen worden.

A65 Vergl. Anm. 48.

A66 Lützows Freischar wurde am Abend beg 17, Juni bei dem Dorfe Kitzen in der Nähe von Merseburg von Franzosen unter General Fournier und Württembergern unter General Normann überfallen und bis auf 20 Mann niedergehauen. Leider ist Lützow selbst nicht von aller Schuld an dem traurigen Ereignis freizusprechen. Denn obwohl ihm schon am 9. Juni die Nachricht von den am 4. abgeschlossenen Wussenstillstand und die Bestimmung, daß bis zum 12 das Land westlich der Elbe geräumt sein sollte, zugegangen war, kehrte er sich doch nicht daran, und brach erst am 14., als ihm die amtliche Meldung überbracht war, in langsamen Märschen zur Elbe auf.

A67 Briefe des Grafen Geßler an Arndt s. Notgedr. Bericht. II., S. 128, 271.

A68 Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Erenze. Leipzig 1813; wieder abgedruckt in »Schriften an seine lieben Deutschen.« II., S. 1–67.

A69 Der geheime Nebenartikel des Vertrages von Ried, den der österreichische General Prinz Reuß am 8. Oktober im Namen der Verbündeten mit Bauern abschloß, bestimmte »Die vollständige und unbedingte Unabhängigkeit Bauerns, dergestalt, daß es jeden auswärtigen Einflusses los und ledig des vollen Umfangs seiner Souveränität [388] genieße.« Damit war der von allen Patrioten erhoffte und gewünschte enge Zusammenschluß aller deutschen Staaten unter einem Oberhaupt allerdings kaum vereinbar.

A70 Das Manifest ist von Metternich verfaßt.

A71 Heinrich von Kleist erschoß Frau Henriette Vogel und sich am 20. November 1811 am Ufer des Wansees. Ein leidenschaftliches Liebesverhältnis zwischen ihnen bestand durchaus nicht; nur der gleiche Lebensüberdruß trieb beide zu der »großen Entdeckungsreife«.

A72 Die Teilnahme Rußlands an dem Kriege gegen Österreich war nur eine scheinbare. Ein österreichisches und ein russisches Heer standen sich allerdings in Calizien gegenüber, doch blieben die beiden Hauptquartiere in ununterbrochenem Verkehr. Alle Bewegungen des russischen Heeres wurden gemeinschaftlich verabredet; man ging sich sorgfältig aus dem Wege. Rußlands Bestreben war, den Krieg zu lokalisieren; es wünschte weder einen entschiedenen Sieg noch eine gänzliche Vernichtung des österreichischen Staates.

A73 Preußen verpflichtete sich in dem Vertrag von Reichenbach vom 14. Juni 1813 zur künftigen Vergrößerung Hannovers Ostfriesland und Hildesheim von seinen früheren Besitzungen abzutreten, dafür erhielt es 660000 Pfund Sterling Subsidiengelder.

A74 Dieser Aufruhr der drei sächsischen Bataillone brach am Nachmittag des 2. Mai aus: Erst nach mehreren Tagen gelang es, die Meuterer durch preußische Truppen einzuschließen und zu entwaffnen.

A75 Goethe bemerkt in seinen »Annalen« über diesen Aufenthalt in Köln: »Es wäre sodann der älteren deutschen Baukunst zu gedenken, deren Begriff sich mir immer mehr erweiterte und reinigte. Eine Fahrt nach Köln in der ehrenden Gesellschaft des Staatsministers oon Stein drückte hierauf das Siegel. Ich sah mit vorbereitetem Erstaunen das schmerzenvolle Denkmal der Unvollendung und konnte doch mit Augen das Maß fassen von dem, was es hätte werden sollen, ob es gleich dem angestrengtesten Sinne noch immer unbegreiflich blieb. Auch von altertümlicher Malerei fand sich in Professor Wullrass Sammlung und anderer Privaten gar viel zu schauen, gar mancher Wert zu erkennen, und der Aufenthalt, so kurz er gewesen, ließ doch unvergängliche Wirkungen zurück.«

A76 »Der Wächter.« Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften. Bd. I. Köln 1815. Bd. II. u. III. Köln 1817.

A77 Schmalz, Geheimer Justizrat und Professor in Berlin, hatte im Herbst 1815 eine Flugschrift veröffentlicht unter dem Titel »Berichtigung einer Stelle in der Bredow-Venturinischen Chronik von 1808«, worin er anknüpfend an den Tugendbund gegen geheime politische Verbindungen zu Felde zog, die angeblich noch bestehen sollten, [389] und die unsinnigsten Beschuldigungen und Verdächtigungen gegen Arndt persönlich richtete. Der Geheime Staatsrat von Bülow, der 1812 unter dem Minister Fürsten Wittgenstein das Ressort der geheimen Polizei verwaltete, gehörte der streng konservativen Partei an, die die Volksbewegung der Freiheitskriege nur mit Furcht und Abneigung betrachtete.

A78 Dieser Sohn wurde aus Anlaß seines Geburtstages Siegerich getauft; er starb 1869 als Arzt.

A79 Am 10. November 1820 wurde Arndt seine Lehrthätigkeit untersagt, im Februar des folgenden Jahres begann eine Kriminaluntersuchung gegen ihn, die nicht von dem ordentlichen Gericht, sondern von einer außerordentlichen Spezialuntersuchungskommission unter dem unfähigen und beschränkten Landgerichtsrat Pape geführt wurde. Arndt protestierte in einer besonderen Verteidigungsschrift: »Ein abgenötigtes Wort aus seiner Sache.« Altenburg und Leipzig 1821, gegen dieses außerordentliche Gerichtsverfahren. Ohne Erfolg. Im Sommer 1822 wurde die Untersuchung gegen ihn plötzlich eingestellt, eine förmliche gerichtliche Freisprechung konnte er nicht erlangen. Erst im Jahre 1827 wurde ihm mitgeteilt, daß die Untersuchung gegen ihn nichts ergeben habe. So sah er sich denn genötigt um sich vor allem Volk zu rechtfertigen, im Jahre 1847: »Einen notgedrungenen Bericht aus seinem Leben« (Leipzig, Weidmann) zu veröffentlichen, der gewechselte Briefe mit dem Curator der Universität, mit dem Cultusminister Altenstein, dem Fürsten Hardenberg und eine Erklärung an seine Richter enthält, sowie die Stellen aus seinen Büchern, beschlagnahmte Briefe und Papiere, auf welche die Anklage begründet war.

A80 Karl Lappe geb. 1773 in Wusterhusen, gest. 1842 in Stralsund, besonders bekannt durch seine lyrischen Gedichte, in denen er die Naturschönheiten seiner Heimat besingt. Seine »sämtlichen poetischen Werke« erschienen 1840 in Rostock. Außerdem verfaßte er noch mehrere epische Erzählungen wie »Die Insel Felsenburg«, »Miranda« und ein »Pommerbuch« (Stralsund 1820), eine volkstümlich geschriebene pommersche Geschichte.

A81 Die Verbreitung und Wirksamkeit des sog. Tugendbundes ist vielfach sehr überschätzt worden. Allerdings bildeten sich nach dem Tilsiter Frieden mehrere Geheimbünde zur Verbreitung guter politischer Crundsätze und zur Befreiung des Vaterlandes, welche ihren Namen von dem bekanntesten derselben dem Königsberger Tugendbund erhielten, doch zählten dieselben nie mehr als etwa 300–400 Mitglieder. Am 31. Dezember 1809 wurde der Tugendbund von dem König aufgelöst, begann aber im Jahre 1812 seine patriotische Thätigkeit von neuem.

[390] A82 Von den Schriften Arndts aus dieser Zeit sind zu nennen: »Christliches und Türkisches«, (Stuttgart 1823). »Die Frage über die Niederlande und Rheinlande« (Leipzig 1831). »Belgien und was daran hangt« (Leipzig 1834). Die beiden letzteren auch in Schriften an seine lieben Deutschen. Bd. III.

A83 Anspielung auf David Friedrich Strauß' »Leben Jesu«, das im Jahre 1835 erschienen war.

A84 Arndt meint den Streit über die gemischten Ehen, der 1837 zwischen den Erzbischöfen Droste-Vischering von Köln und Dunin von Enesen mit der preußischen Regierung ausgebrochen war und zur Verhaftung der beiden Kirchenfürsten geführt hatte. Erst unter Friedrich Wilhelm IV. wurde er im wesentlichen zu Eunsten der katholischen Kirche beigelegt.


Ende. [391]

Fußnoten

1 Kester ein kleines Handnetz an einer Stange gehalten.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Arndt, Ernst Moritz. Autobiographisches. Erinnerungen aus dem äußeren Leben. Erinnerungen aus dem äußeren Leben. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-0607-7