[126] Einführung der Leser

»Überaus ein edel und hübsche Meinung ist's, sich in dem Spiegel der alten Historien, die uns von den Voreltern verlassen sind, zu besehen, uns dadurch zum Guten zu wenden, das Üble zu fliehen, Herzen und Gedanken in den Dienst des Allmächtigen zu richten. Darum ich, der Ritter von Thurn also spreche: Meine lieben Töchter, ich bin nun hinfort mehr alt und krank, habe die Welt mehr erkundiget und gesehen, denn ihr, darum so will ich euch ihren Lauf anzeigen nach meinem Verstand, der leider nur schwach ist, aber stark wird in der Liebe zu euch. Alles kommt von Gott, deshalb sei es das erste Werk der Frauen, sobald sie Morgens erwachen, sein Lob und seine Ehre zu singen, denn das ist mehr als Bitten und Klagen und ein Werk der Engel, die schon beim aufgehenden zarten Morgensterne, dem allmächtigen Gotte Lob und Ehre singen und erbieten.« – Diese guten Worte eines alten Ritters mögen in diesem verdrießlichen, immer wiederkehrenden Winter, wo allen schönen Kindern Zeit und Weile lang wird, wohl zur rechten Zeit wiederholt werden; doch keinem geziemen sie besser, als der nun zerstreueten, übellaunigen Wintergesellschaft, zu deren Unterhaltung die folgenden Geschichten zusammengebracht wurden, die sehr unzufrieden mit der ganzen Welt, doch immer etwas Neues von ihr wünschte, endlich aber mit allem, was bloß erzählt und nicht geschehen, ganz nachsichtig, aufmunternd, wohlwollend und zufrieden schien. – Die Leser werden mich noch nicht ganz verstehen, wenn sie diese Stimmung nicht selbst einmal durchlebt haben; sie treten in die Türe, während wir mit einer langen Unterhaltung fast zu Ende gekommen, doch sollen sie nach Pflicht und Herkommen in das frühere Schicksal meines Buchs eingeführet werden, um sein künftiges gnädig zu bestimmen. Somit bin ich genötigt einen Teil meiner eignen Schicksale zu erzählen. – Auf einer Geschäftsreise nach den Wohnplätzen der alten Lieder holte ich auf einsamem Sandwege, der sich durch einzelne breitgewachsene Kienen fortschlich, einen alten grauen Mann ein, der mit seinem langen grauen Barte, grauem Mantel, grauer Mütze, staubgrauen [127] Stiefeln und grauen Augen, erst nur eine vertiefte Wolke zu sein schien. Er trug stöhnend einen schweren grauen Kasten und bat mich, ihn mitzunehmen. Wer kann alle Leute fahren lassen, die jetzt Fußreisen machen, den Alten nahm ich indessen mehr zur Unterhaltung, denn aus Mitleiden auf. Als Postgeld mußte er mir seine Geschichte mitteilen, die sonderbar genug lautete. Er hatte einen Kobold zur Einquartierung bekommen, über den er in Verzweiflung sein Haus angezündet. Als er nun diesen einzigen Kasten mit seinen letzten Habseligkeiten auf dem Rücken, sich nach dem Feuer lustig umsah und des Kobolds lachte, dem das Zimmer bald allzustark eingeheizt scheinen mußte, da lachte der Kobold hellaut in seinem Kasten, erschreckte ihn und fragte: »Du wirst mich so nicht los, was hilft dir nun dein Abbrennen? Liegt der Kasten nicht schwerer auf dir, als sonst das ganze Haus?« – Was sollte er machen, von den letzten Habseligkeiten wollte er sich nicht trennen, und so mußte er den Kobold, so schwer er war, mit sich forttragen. Ich wurde natürlich sehr neugierig das Ding zu sehen, und mochte leicht über den Kobold so ungeschickt fragen, wie jener Bürgersmann beim Panorama, ob es lebendig oder ausgestopft. Genug, der gräuliche Alte meinte, der Kobold würde mir sicher einmal vorkommen, und ich nahm es in der Gesinnung Friedrichs, der das mit Recht für einen besondern Teufel hielt, wenn man in die Tasche faßte und nichts darin fände. Der Alte indessen zählte sein Geld in den Westentaschen halbheimlich nach: ich hätte wohl manches noch von ihm erfahren können, was mich nachher überraschte, aber die Unterhaltung ging aus, weil ich an allerlei Zukünftiges dachte, mein großes und einziges Talent der Hoffnung auszukultivieren. Ich hatte in dieser Gattung sehr herrliche Gedanken unterweges, dem Alten wollte ich sie aber nicht mitteilen, er hätte sie für die seinen ausgeben können, jetzt weiß ich kein Wort mehr davon, und der Himmel weiß, welche von mir ausgegangene Seele mit diesem Gedankenkapitale wuchert. Der Leser entschuldige diese mir trostreiche Idee vom Vergessen, da der Wucher gar nicht mehr verboten und den edelsten Männern anständig und gerecht ist.

Endlich bewegte die Frage, was er in der Stadt machen wolle, meine trocknen Lippen, als wir schon die Tore derselben in der Ferne dunkeln sahen; denn der Menschen Werke sehen Abends [128] besonders dunkel aus. Er meinte, daß er diesen Winter nicht überleben könnte, ohne sich selbst zu überleben, was er nun besitze, das wolle er in den paar Monaten zu seinem besten Vergnügen verpumpeln. Ein sonderbarer Ausdruck, der nach Fulda so viel wie verstoßen, also beinahe so viel wie verlustieren heißt. Dann fragte er mich, wo guter Punsch zu bekommen; ich versicherte ihm, wenn die Straßen auch nicht sonderlich hell erleuchtet wären, damit die Einwohner einander nicht erkennten, wenn sie Abends sämtlich einander um Brot anbettelten, so würde er diese Herzensfreude doch überall durch rote Erleuchtung angekündigt finden. So kamen wir im Dunkel ans Tor, eine Laterne sah uns ins Gesicht, ich freute mich, daß der Soldat wieder eine neue Uniform trug, die ihn warm hielt und sehr bequem saß; mein Reisegefährte nannte sichWinter. Ich war müde und wünschte deswegen des Durchsuchens überhoben zu sein, ungeachtet ich meine Handlung mit verbotenen Waren längst zur Ausstattung eines unschuldigen Mädchens abgetreten hatte. Aber der Sucher versicherte immer: »des Brot ich esse, des Lied ich singe«, und ich hatte kein Brot bei mir. Es wurde alles pflichtmäßig durchsucht, und ich erfuhr in der Zeit, daß die Feinde gerade den Tag durch das Tor abmarschiert wären, und wie die Bürger jetzt in so großer Verlegenheit, wo nun andre Feinde hernehmen, da sich nun einmal jeder darauf eingerichtet. Zuletzt kam es an den Kasten des Alten, den dieser schon auf den Rücken geladen, um davon zu gehen. Vergebens warnte der Alte, sie möchten ihn nicht eröffnen, was sie darin fänden, würde ihnen sehr unlieblich sein. Das erregte erst recht die Neugierde; ich wollte auch aus dem Wagen ihm über die Schulter sehen, aber kaum waren die Schlösser eröffnet, sostieg eine solche Schneewolke heraus, oder sank herab vom Himmel, was ich nicht unterscheiden konnte, daß meine Pferde vor Schrecken durchgingen. Was aus dem Alten geworden, wußte ich nicht; als wir der Pferde wieder mächtig, war ich froh ein Wirtshaus zu erreichen und mich in ein Bett zu drücken. Am Morgen sah ich beim Erwachen schon alles zugeschneit; ich lobte nicht den Himmel, ungeachtet ich den Ritter von Thurn schon lange gelesen, es fällt einem so etwas nur nie zur rechten Zeit ein und darum ist das Schreiben gut, weil es langsamer geht als das Lesen, und viel Gutes dabei erinnerlich wird. Erst beim Schreiben an alte Bekannte, die ich unter blühenden Pomeranzenwäldern [129] verlassen, fiel mir ein, daß der Alte wohl gar eine allegorische Person, der Winter, ich meine der Repräsentant der Jahreszeit, gewesen sei, den ich so unschuldig und umsonst mitgenommen; dabei blieb's, im Winter macht sich alles kürzer ab, in Gedanken wie auf Wegen. So zog also der Winter ein, wo die Feinde ausgezogen, und meine frohen Erwartungen und Gedanken erstarrten wie der lebendige Strom, der durch die Straße floß. Alles besetzte und bewachte dieser traurige Winter mit seiner langweiligen Heerschar, selbst wo die kaufmännischen und adligen Häuser ihre hohen Stirnen, mit mancherlei Bildwerk gekrönt, erheben, hing er seinen weißen Glanzteppich auf, und selbst an dem Boden knirschten die gejagten Füße noch unwillig, daß auch der treue Boden, den selbst die Feinde mußten stehen lassen, seine Farbe angenommen. Sogar meinen Atem fand ich im Dienste des Winters, wie er sich an die Fensterscheiben legte und mir den tröstenden Anblick der Sonne verschloß. Da flüchtete ich mich ins Freie und fand alles so stille, als wenn gar nichts geschehn, die Sträucher traten mir stumm in den Weg, ich hieb mich durch mit meinem Stocke; Krieg oder Frieden, dachte ich, eins von beiden sei nur gewiß, dieser Mittelzustand bringt mich um – meine Ohren. O weh! ich fühlte meine Ohren nicht mehr, die heiligen Zeugen der Ehrlichkeit waren beide erfroren. Die Hände an den Ohren, sprang ich blindlings durch den Schnee, sowohl durch den gelagerten, als auch durch den, der in träger Allmählichkeit erst die Stelle auszusuchen schien, wohin er zu fallen beliebte. So eilfertig kam ich an ein schönes Landhaus, dessen Tür ich aufsprengte, die Stubentüren waren fester geschlossen; ich trat auf den Hof und rief nach Leuten, da war aber niemand zu sehen, noch zu hören, als eine dichtbeschneite Statue, die bei meinem Anblick schreckhaft aufschrie, davon lief und in einer Seitentüre verschwand. Ich erschrak erst, als ich alle Schwierigkeiten bedachte, ehe Statuen schreien und laufen lernen. Doch hat das ja so mancher gelernt, von dem es niemand möglich hielt, und die Beine müssen solcher Statue noch mehr frieren als mir, da sie keine Stiefel anhatte, wie ich aus den zierlichen Fußtritten im Schnee abnahm. Nun fühlte ich mit Entsetzen, daß es Geister gebe, wenn auch dies keiner gewesen. Neugierde trieb mich nach, aber die Türe wurde zugehalten; ich bat dringend mich einzulassen, weil ich von Frost und Verwunderung erstarrt. Endlich öffnete sich die [130] Türe, ein Mädchen führte mich stumm und verdrießlich in ein neugotisch verziertes Zimmer, das von Sophas durchkreuzt und von einem Kaminofen angenehm durchwärmt war. Ich näherte mich dem Ofen mit Vorsicht, meine Ohren schmerzten, doch glaubte ich, daß die vorangehende Bewegung und Verwunderung, sie schon wieder belebt hatte. Ein schönes Bild in fremder Uniform beschäftigte bald meine Aufmerksamkeit, es standen frische kleine Tulpen in Töpfen davor; eine Flötenuhr fing an sehr traurig aufzuseufzen; eine ansehnliche Frau mit hellbraunen lockigen Haaren, in dunkelrotem Samtkleide, trat in das Zimmer. Ich entschuldigte meine Zudringlichkeit mit der Not; von der beweglichen Statue wollte ich nicht anfangen; ich sprach nur von wunderbaren Zeiten, wo alles liefe, nur die Ströme nicht. Sie sah meine Bescheidenheit und löste mit einiger Verlegenheit das Rätsel. Die bewegliche Statue war sie selbst, sie hatte ihre Dienerschaft fortgeschickt und glaubte das Haus festverschlossen, um ihre Nerven, die durch Unglücksfälle sehr gelitten, in dem gewaltsamen Schneebade zu stärken. Sie hatte in ihrem Wesen viele Güte bei etwas verlebt Heroischem; das Leben schien ihr gleichgültig, aber die Krankheit war ihr verhaßt. Ich versicherte ihr, daß ich leider nichts, als eine bewegte Schneestatue gesehen und den Schnee hätte ich längst über alle Neugierde kennen gelernt, da ich ihn mit dem Winter ins Land gefahren. Sie meinte, daß ihr beides lieb sei, der Schnee, weil er die Gegend und tausend schmerzliche Erinnerungen umkleide, mein Nichtsehen, weil die schönste lebende Gestalt unsrer Zeit selten dem schlechtesten, plastischen, alten Kunstwerke zu vergleichen würdig. – Das klang sehr modern, doch machte uns diese gemeinschaftliche Liebhaberei an alten Kunstwerken bald vertraulicher, auch siedelt sich jeder, der von Reisen kommt, gerne an; ich blieb ohne eingeladen zu sein. Es kamen allerlei Bekannte der gnädigen Frau. Zuerst ihre schlankeSchwester, ein sehr kluges Mädchen, die ihr manchen guten Rat gab, geistig ohne geistreich zu sein, alles im Ebenmaß zwischen Seele und Körper; da etwas Ähnliches unter Männern sehr selten, so hatte sie nie geliebt und war doch Männern gewogener als den Frauen; tätige Meisterin in der Stickerei, nahm sie wenig lauten Anteil an unsern Unterhaltungen, doch war sie durch Tee-Einschenken eine immerwährende Wohltäterin. Dann folgte ein junger Invalide auf einem hölzernen Beine; [131] die Überlegenheit seines ganzen Wesens bewährte das Anspruchlose seines Spotts, auch zog er sich selbst meist vielmehr auf als andre, indem er seine rege Aufmerksamkeit gegen die Frau vom Hause zu verstecken suchte; wir werden ihn bald näher kennen lernen. Nach ihm trat der magereGesandte eines Hofes, der gar nicht mehr vorhanden, mit einer gelehrten Schauspielerin ein, die als Frau von Grundsätzen galt und ihren Ruf mit vielem Sprechen nicht aufs Spiel setzen wollte. Unbemerkt wischte ein Frauenzimmer zur Tür hinein, das genial genannt wurde, sie gab mit dem ersten Händedrucke einige Schneebälle in die Hände der Freundschaft. Noch kam ein sehr gesundes Fräulein, die schon vielen trefflichen Jünglingen den Korb gegeben, weil ihre große Augen prüfend jedermann zu Erklärungen auszufordern schienen; was man in ihrer Nähe immer zuerst empfand, war der Wunsch, so einer von den guten alten Herren zu sein, denen kein Mädchen einen Kuß versagt, weil sie in unschuldiger Gewohnheit sind, alle Mädchen zu küssen. Sie war begleitet von einemkranken Mädchen, die gerne alle Intrigen andrer hörte und besorgte, weil langes Leiden und Schwäche sie von allem eignen Anteil frei sprach und ihr das Recht einer Verheirateten gab. Es war nur ein Gesetz in der Gesellschaft, das aber strenge beobachtet wurde, nichts Bestimmtes von den Begebenheiten der Zeit zu reden und dafür allerlei Geschichten aus andern Zeiten und Ländern zu sammeln, die dann gemeinschaftlich genossen wurden, entweder frei vorgetragen oder abgelesen. Die meisten wünschten eine oder die andre dieser Erzählungen zu besitzen, das ward mir Veranlassung sie zu sammeln und abdrucken zu lassen. Die übrigen Leser entbehren nun freilich des besondern Interesse, auch mancher Beziehung, die zu weitläuftig wäre auseinanderzusetzen, doch ist das nur für Nebensachen bedeutend, auch wird der Gescheite sie leicht aus den allgemeinen angegebenen Verhältnissen der Zuhörer erraten, – es gibt einen Gott, der den Finger auf den Mund legt. Sei es mir wenigstens erlaubt, Ihr guten Töchter des Ritters von Thurn, in den Einleitungen Eure Gesinnungen durch den doppelten Schleier Eurer Bescheidenheit und meiner Rückhaltung durchscheinen zu lassen, zugleich sage ich Euch meinen Dank für das anteilende Zuhören, das ganz den Geschichten hingegeben, die Vorleser vergaß, mit allen ihren Fehlern. So oft ich vorgetragen, mußte ich im Beginnen von Hochachtung [132] gegen Euch beengt, meinen Rock aufknöpfen; aber von Euren aufmerksamen Augen belebt, zum Schlusse keck dramatisieren, was ich ganz trocken und verloren hingeben wollte. Wahrhaftig, ich überraschte mich oft selbst und verlor mich so ganz in den Geschichten, daß ich beim Aufhören, wie jene verschüttete Schweizerin, stille in mir dachte, der Jüngste Tag sei schon angebrochen, bis mir die bekannten lieben Angesichter wieder zusprachen mit neuer Freude, – und es war noch nicht aus mit der Welt. – Tausend Leser wie Ihr, teilnehmend und gütig, und die deutsche Lesewelt wäre nimmermehr verloren und verraten.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Arnim, Ludwig Achim von. Erzählungen. Der Wintergarten. Einführung der Leser. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-0D32-B