Der Scheintod

Mündlich.


Des Jerman Weizers Fraue ward
Mit großer Angst beschweret,
Von wunderbarer Krankheit Art,
Auch sollt sie bald gebähren,
Sie betet: Wär das Kind zur Welt,
Darnach, wenn's Gott dem Herrn gefällt,
Wollt sie auch gerne sterben.
Sie starb zu ihrer Kinder Leid,
Ward in ein Grab getragen,
Die Kinder gingen lange Zeit
Vielmal an allen Tagen,
Wohl auf den Kirchhof zu dem Grab,
Sie weinten sich die Aeuglig ab,
Im Hause still zu bleiben.
Als nun die Frau neun Tage lang,
Im Grabe hat gelegen,
Die Kinder nahmen ihren Gang,
Zum Kirchhof thäten gehen,
Da hörten sie ein lieblich Stimm
Auf ihrer Mutter Grab, vernimm,
Ein Kinder-Liedlein singen.
Nun schlaf mein liebes Kindelein,
Sangs mit der Mutter Tone,
Die Kinder liefen freudig heim,
Mit einer Blumenkrone:
[313]
»O Vater, lieber Vater mein!
Geh mit uns auf den Kirchhof ein,
Die Mutter singet schöne.
Sie wiegt im Grab ein Kindelein,
Darum wir Blumen tragen.«
»Ihr lieben Kinder bleibt daheim,
Eur Mutter schläft ohn Klagen.«
Die Kinder ließen keine Ruh,
Der Vater ging dem Grabe zu,
Thät auch die Stimme hören.
Ein überlieblich reine Stimm,
Er hört an diesem Orte,
Mit Wunderkraft, mit frohen Grimm
Er reisset auf die Pforte,
Er hebet auf den schweren Stein,
Den eichnen Sarg er schlaget ein,
Dann stürzt er betend nieder.
Es lag die schöne Fraue da,
Das Kind an ihrer Seite,
Die andern Kinder treten nah,
Sie thät die Arme breiten:
»Herzlieber Mann, dein Kind nimm an,«
Er sah es voller Freuden an,
»Und laß dich nicht entsetzen.«
Das Kindlein lacht den Vater an,
Sie gingen all nach Hause,
Ein Bad man thät anrichten dann,
Man ladet viel zum Schmause.
Gelehrte kamen auch heran,
[314]
Zu schauen das Mirakel an,
Zu hören ohne Grausen.
Da nahm sie einen Becher Wein,
Dann grüßte sie die Freunde,
Und sprach: »O Tod, du böser Schein!
Ich schien wohl todt, ihr weintet,
Ich wachte auf, und war allein,
Ich lag im engen Kämmerlein,
Ein Kind hatt ich geboren.«
Sie sprach und dankt Gott so rein:
»Dreymal in einem Tage,
Bracht mir ein kleines Knäbelein,
Die Speis zum Glockenschlage,
Daß ich mein Söhnlein nähren konnt,«
Und sprach: »Neun Tage wart zur Stund,
Du gehest aus dem Grabe:
Doch länger nicht als noch drey Jahr,
Wirst du noch bleiben leben,
Du sollst es zeigen an fürwahr,
Den Bösen allen die leben;
Sie sollen sich bekehren all,
Von Fluchen, Lästern allzumal,
Der jüngste Tag ist nahe.«
[315]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Arnim, Ludwig Achim von. Gedichte. Des Knaben Wunderhorn. Band 1. Der Scheintod. Der Scheintod. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-0F5E-C