35. Von der Ungleichheit der Stände.

Unter der Dorflinde, nach dem Gottesdienst, wurde den Bauern ein herrschaftliches Mandat verlesen, des Inhalts, daß sie zahlen sollten. Das war den Bauern nicht lieb; doch einige, die gescheidtern und bravern, fügten sich, und dachten, es sei einmal Recht und Herkommen, und steuern und sterben müsse man überall; andere aber murmelten und murrten durch einander, und sprachen von gemeiner [95] Leute Lasten, und von vornehmer Herren Wohlleben, und vom Unterschied der Stände, und von der Gleichheit aller Menschen; und der Kesselflicker, der am wenigsten zu bezahlen hatte, that das Maul am weitesten auf. Indem kam der Pfarrer aus der Kirche und die Linde vorbei, und der Kesselflicker, der ärgste und der keckeste, ging ihn an, und sprach: Herr Pfarrer, seid so gut, und erklärt uns das Sprüchwort: Da Adam reutete und Eva spann, wo war da wol der Edelmann? und sagt uns, wie es zuletzt gekommen, daß die Menschen so gar ungleich geworden sind nach Ansehen, Vermögen, Rechten und Pflichten. Der Pfarrer, der seinen Mann kannte und seine Absicht verstand, sprach: Das will ich euch sagen. Und die Bauern traten näher herbei. Da Adam reutete und Eva spann – fing der Pfarrer an – da gewann Eva viele Kinder. Auf eine Zeit wollte unser Herr Gott zu Eva gehen und besehen, wie sie Haus hielt. Nun hatte sie eben alle ihre Kinder auf ein Mal bei einander, und wusch sie und schmückte sie. Da aber Eva unsern Herr Gott sah kommen zu ihr, versteckte sie etliche ins Stroh, etliche ins Heu, etliche ins Ofenloch, die allerhübschesten aber behielt sie bei sich. Unser Herr Gott sah die geputzten Kinderle an, und sprach zu einem also: du sollst ein König sein; zum andern: du sollst ein Fürst sein; zum dritten sprach er: du sollst ein Edelmann sein; zum vierten: du sollst ein Burgermeister sein; zum fünften: du sollst Schultheiß, Vogt oder Amtmann sein. Da nun Eva siehet, daß ihre Kinder, die so hervor waren, so reichlich begabt waren, sprach sie: Herr! Ich hab noch mehr Kinder; ich will sie auch herbringen. Da sie nun kamen, waren sie ungeputzet, schwarz und ungestalt; die Haare hingen ihnen voller Stroh und Heu. Da sah sie unser Herr Gott an, und sprach zu ihnen: ihr sollt Bauern bleiben, Küh und Säuhirten, Ackerleute; etliche von euch sollen in Städten Handwerk treiben, bräuen, backen und den ersten Herren dienen. Zuletzt kam noch [96] einer hervor, der hinter dem Ofen geflackt, der allerwüsteste; zu dem sprach unser Herr Gott: du sollst ein Kesselflicker werden. Die Rede des Pfarrer ergötzte die Bauern, und sie lachten den Kesselflicker aus. Dann wandte sich der Pfarrer an einen alten, ehrlichen Mann und sagte: Das ist ein Mährlein, was ich euch erzählt habe, und steht nicht in der Bibel; aber wol steht in der Bibel, daß alle Stande von Gott seien, und daß man sie in Ehren halten soll; wie geschrieben steht: Gebet Jedermann, was ihr schuldig seid; Steuer, dem Steuer gebühret; Zoll, dem Zoll gebühret; Ehrfurcht, dem Ehrfurcht gebühret; Ehre, dem Ehre gebühret (Röm. 13, 7.).

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Ein Volksbüchlein. Erster Theil. 2. Allerlei erbauliche und ergötzliche Historien. 35. Von der Ungleichheit der Stände. 35. Von der Ungleichheit der Stände. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-143B-6