12. Das Gericht.

Ein frommer Einsiedler, der großen Eifer hatte für sein und seiner Nebenmenschen Heil und Seligkeit, hatte einstmals ein seltsames Gesicht. Es däuchte ihm, als flöge über seinem Haupte eine Schaar Teufel hin, wie krächzende Raben. Da fragte er den letzten, und beschwor ihn im Namen Gottes, ihm zu antworten: Wohin und wozu des Weges sie zögen? Der Teufel sprach: Wir fliegen zur Unterwelt, um die Hölle größer zu machen; denn sie ist zu klein geworden für die lasterhafte Welt. Ob dieser Nachricht entrüstete sich der fromme Mann, und er sprach: Das lügst du, höllischer Geist: denn es gibt der frommen Menschen ungleich mehr, als der bösen, seit das Christentum in die Welt gekommen. Der Teufel erwiderte hohnlachend: [64] Dem ist nicht also, denn je größer die Gnade, desto schwerer die Sünde, und je mehrere berufen sind, desto weniger sind auserwählt. Darüber ward der Einsiedler voll zornigen Eifers, und er berief den Teufel vor eines Engels Gericht; was sich der Widersacher gefallen ließ. – Und der Engel erschien, eine Wage in der Hand haltend, und es kamen Menschen herbei aus allen Ständen, jedes Alters und Geschlechtes, daß sie als Zeugen vernommen würden. Der Einsiedler rief alsogleich Geistliche als Zeugen auf, daß sie zeugten über der Geistlichen Wandel; und es verlautete nur Lob und Preis über ihre Andacht und Eingezogenheit und ihren Eifer im Dienste Gottes. Alsdann forderte er die Weltlichen auf, daß sie Zeugniß gäben für ihres Gleichen, und sie wußten nur Rühmliches zu melden von ihrer Arbeitsamkeit und Genügsamkeit, und ihrer Mühe und Sorge für Weib und Kind. Und also verhörte denn der Einsiedler fort und fort die Männer und die Weiber, die Jünglinge und die Jungfrauen, die Leute jedes Alters, Standes und Gewerbes, nach Gebühr; und man vernahm allorts nur Ehrung und Lobpreisung. Der Engel, als angerufener Richter, legte jegliche gute That und Handlung, von der er vernommen, auf die rechte Schale, und sie sank immer tiefer und tiefer, und es lag zuletzt auf ihr so schwer, als eine ganze Welt. – Nun trat aber Satan als Widersacher vor, und er berief auch seine Zeugen, zuerst die Geistlichen, daß sie über die Weltlichen zeugten, dann die Weltlichen, daß sie von den Geistlichen redeten; und da kamen denn Berichte vor, die ganz im Widerspruche waren mit denen, die vorher geschehen. Also erging's auch mit den übrigen, indem die Männer gegen die Weiber, und hinwiederum die Weiber gegen die Männer zeugten, und es war des Tadels und des Vorwurfes, der Verleumdungen und aller Gehässigkeiten kein Maß und Ziel. Und der Engel, vermöge seines Amtes, legte jegliche Sünde und lasterhafte Handlung, von der er gehört, auf die linke [65] Schale, und siehe da! sie sank immer tiefer und tiefer, so daß zuletzt die rechte, als läge nur Spreu auf ihr, ganz in die Höhe ging. – Da wollte schon der Teufel triumphiren, und der Einsiedler vor Gram vergehen über der Welt allgemeines Verderben; aber der Engel sprach: »Es ist da keiner, der richten kann nach rechtem Gericht, weder im Himmel noch auf Erden noch in der Hölle, außer Er allein, der da heißt der Richter der Welt.« Und der Engel verschwand. Die Wage jedoch war noch sichtbar, als hinge sie frei in den Lüften, und alle Schuld auf der einen Schale, und alles Verdienst auf der andern, sie waren gelöscht und getilgt; und die beiden Schalen hielten sich in gleicher Schwebe, wie von Gottes Gnade und Gottes Gerechtigkeit getragen. Da frohlockte der Einsiedler, und er sprach: »Gelobt sei der Herr, der uns nicht vergilt nach unsern Sünden, noch uns bestrafet nach unsern Missethaten.« – Das Gesicht war verschwunden. Aber von der Zeit an wachte der Einsiedler noch mehr über sein Gemüth, daß es nicht beschlichen würde von Stolz wegen seiner Verdienste, noch von Zaghaftigkeit wegen seiner Sünden und Schulden; und er wirkte fortan sein Heil in aller Einfalt des Herzens, und im Vertrauen auf den, dessen Gnade währet ewiglich.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Ein Volksbüchlein. Zweiter Theil. 2. Allerlei erbauliche und ergötzliche Historien. 12. Das Gericht. 12. Das Gericht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-1564-F