IV. Das Mährchen von den Kücheln. – Der Reiter und sein Ross. – Der Lügner. – Der Vogel und der Bauersmann.

Es brach ein heiterer, schöner Morgen an. Auf den höhern Gebirgen lag frisch gefallener Schnee, in dessen Spiegel der Morgenstrahl leuchtete gleich einem Opferbrande. Einzelne Nebel stiegen wie Rauchwolken von den niedern Gebirgen empor. Die ganze weite, große Landschaft erschien als ein Tempel Gottes mit seinen gewaltigen Bergwänden, mit dem bunten Estrich der Wiesen und Felder, und mit dem erhabenen Gewölbe des sonnigen, blauen Himmels. Die Natur hielt mit den Menschen ihre Sonntagsfeier.

Es war alles schon früh rege im Hause, was der Mutter zum Theil unlieb war, weil sie manches [62] noch zu besorgen hatte für die Kinder und ihren Sonntagsstaat. Doch es galt hier das »ländlich, sittlich,« und so ward sie durch die Unordnung der großen und kleinen Leute in ihrer Ordnung nicht besonders gestört. Immer noch zur rechten Zeit war der Anzug vollendet, das Frühstück genossen, die Arbeit für den Tag erwogen und befohlen.

Die Familie brachte den Morgen in Stille, Ruhe und Andacht, wie sich's ziemte, in der Kirche und zu Hause zu. Vor Tisch ward noch ein Sabbathsweg ge macht längs der Loisach hin, und auf der schönen Flur, die den Ort von allen Seiten umschließt.

Nach getroffener Abrede wollte man den Nachmittag in Hammersbach zubringen. Es ist dieß ein Weiler, aus einigen Häusern bestehend, am Fuße desWachsensteins gelegen. Der Weg dahin beträgt nur eine Stunde, und führt ebenen Landes über Felder und Wiesen. Indem man des Weges geht, entfaltet sich hier vor den Augen des Lustwandlers die weite Gegend am schönsten und vollständigsten. Das große, in sich beschlossene Thal ergießt sich in drei Mündungen. Nach Norden verfolgt das Auge die Berge, die in die Ebene hinaus laufen; von Osten schaut der mächtige Karwendel [63] herein; gen Westen erheben sich, terrassenförmig, andere Gebirge; im Süden endlich ragt hervor und breitet sich aus jener kolossalische Zug von Gebirgen, deren höchster Gipfel dieZugspitze 1 ist. Der Wachsenstein, selbst ein Gigant, scheint sich an jenen anzulehnen, wie ein Zwerg an einen Riesen. Dann die grünen, begras'ten und tannenbewachsenen Vorgebirge umher, und die frischen, üppigen Matten und Saatfelder hier unten, – und droben der von Düften schwangere, von Luft und Farbe gesättigte Aether – – es bildet dieß alles zusammen ein Panorama von solch erhabener Größe und reizender Mannichfaltigkeit, daß der Sinn, übersättigt vom Anblick, von der Bewunderung des Ganzen, zu gleich nicht satt werden kann in der Beschauung des Einzelnen.

Der Onkel, an den sich die Kinder angeschlossen, hatte bereits schon Erkundigungen genug eingezogen, um ihnen jeden Berg zu benamsen, und sonstige Aufschlüsse über die Gegend, die Einwohner, ihre Beschäftigung und Nahrung zu ertheilen. Sie bildeten die Vorhut, das »leichte Volk,« wie die Tante sagte; die Uebrigen folgten in einiger Entfernung nach, weil Großvater und Großmutter, der starken [64] Bewegung noch nicht gewohnt, langsam gehen und oft ausruhen mußten.

Nach einer Stunde langte man am Hammersbach an, von dem der Weiler den Namen führt. Es zieht sich nun der Weg längs des Baches hinauf, und der Lustwandler erfreut sich des Schattens frei und kräftig empor strebender Bäume, und der erfrischenden Kühle, die der rasch fließende, aus den Bergschluchten Wasser abführende Bach verbreitet. Das weite große Thal verschwindet allmählich in dem Busch; ein breiter, hoher Hügel voll buntgefärbten Laubholzes, nebst dem kahlen, schroffen Wachsenstein, bildet den Vordergrund, indem zwischen beiden eine Schlucht sich öffnet, die zumHöllenthal führt, und im Hintergrund von den Eisfeldern der Zugspitze begränzt wird. Man erging sich in dieser erquicklichen Partie noch langsamer und behaglicher.

Der Onkel hatte indeß Quartier gemacht, und unter den Höfen denjenigen ausgewählt, wo die Wohnung am reinlichsten, der Garten am schattigsten, die Hausfrau am freundlichsten schien. Die Angekommenen lobten seine Wahl; und, da der Tag so warm und heiter sich zeigte, beschloß man, auch den Abend hier zuzubringen.

Die Kinder tummelten sich im Garten umher, spielend, während die Größern, unter einem Baume [65] gelagert, sich in mannichfaltigen Gesprächen ergingen. Man nahm dann den Imbiß im Freien ein, der, nebst Milch in Kücheln bestand, welche die Bäuerin gar wohl zuzubereiten wußte. Jedermann lobte die Speise, zumeist die Kinder, durch die That nämlich, daß sie sich dieselben recht sehr schmecken ließen.

»Indem ich diese ländliche Delicatesse wieder einmal auf dem Lande genieße – sagte die Großmutter nach einer Weile – so erwachen wiederum so manche Jugenderinnerungen an Personen, Zustände und Geschichten, die ich in jener glücklichen Zeit erfahren habe. Und so fällt mir denn auch ein Mährchen ein, das uns Kindern besonders wohl gefallen hat, und des Wiedererzählens und Aufbewahrens werth ist.«

Der Großvater, alle drangen in sie, das Mährchen zum Besten zu geben. »Ich wollte es gern; aber du weißt – sagte sie, sich an den Großvater wendend – wie mich der böse Husten plagt, und mich hindert, lange zu reden.«

»Thu' dein Möglichstes, sagte der Großvater; und wenn du in deiner Geschichte stockest, so will ich mit einer andern kürzern inzwischen kommen, um dir Ruhe zu schaffen, und das junge Volk hier in der Aufmerksamkeit und bei rechter Stimmung zu erhalten.«

[66] Die Großmutter begann, so recht in der Weise der schwäbischen Mundart – sie war eine geborne Schwäbin – »Als die Küchle gebachen waren – –«

Die Kinder lachten laut auf; Fritz schlug jubelnd in die Hände. Die Tante fragte: ob es denn gerade zum Wesen des Mährchens gehöre, daß es in dieser groben Mundart vorgetragen würde. Die Großmutter sagte: »Ja! das Kind ist einmal ein schwäbisches von Geburt, und so soll es denn auch ein schwäbisches Jankerle tragen.« Sie begann wieder:


* * *

Das Mährchen von den Kücheln.

Als die Küchle gebachen waren, gab die Mutter jedem Kinde eins zum Imbiß; die übrigen aber trug sie in die Speis für das Mittagessen, und sagte dann, und drohte: Rührt mir nichts an in der Kuchel und im Keller, das sag' ich euch; sonst ergeht es euch, wie jenen bösen Buben, von denen die Geschichte erzählt.

Eine Bäuerin hatte sechs Kinder, lauter Buben, von sechs bis zwölf Jahren. Da hatte sie denn mit ihrem Manne vollauf zu thun, um sie alle zu ernähren. Am Notdürftigen fehlte es auch den Kindern eben nicht; aber Küchle kriegten sie nie, [67] gleichwie die Kinder in andern Bauernhäusern. Da sagten sie oft: »Aber, Mutter! wann bachet Ihr uns denn einmal Küchle? Wir möchten auch einmal Küchle haben.« Die Mutter sagte dann jedesmal: »Merkt! Schwarzes Brod macht die Backen roth. Habt ihr sonst keine Schmerzen?« – Warum sie aber keine Küchle bachen, und weder sie selbst noch ihr Mann eins schmecken und essen mochte, das muß wohl, denk' ich, seine geheime Ursache gehabt haben. – Das ging nun so fort bis ins siebente Jahr. Da gebar sie ein Töchterle, das sie Lisele nannte; und ihre Freude darob war so groß, daß sie den Buben versprach, sie wolle ihnen endlich auch Küchle bachen. Als die Buben das hörten, hatten sie große Freude, und sie konnten kaum den Tag erwarten, wo sie endlich auch einmal Küchle kriegen sollten. Die Mutter richtete den Teig zu; sie machte Feuer an; sie setzte die Pfanne voll Schmalz darüber; jetzt pregelte scbon das erste Küchle und bräunte sich; jetzt ward es herausgelangt mit dem Spieß, und in die Schüssel gelegt; und da lag es nun so schön braun und von Fett triefend, und es schmeckte (roch) so gut, daß den Buben der Mund darnach wässerte, und der Gelust ihnen aus den Augen lugte. Darauf als die sechs Küchle gebachen waren, nahm die Mutter die Schüssel, und trug sie in die Speis, indem [68] sie sagte: »Die Küchle müssen erst ein wenig auskühlen; dann schmecken sie besser.« Kaum aber hatte die Mutter die Kuchel verlassen, so schlichen die bösen Buben in die Speis, und jeder nahm sein Küchle, und lief davon; und vor dem Fenster, daraus die Mutter guckte, blieben sie stehen, und bissen in die Küchel, und lachten sie aus. Das verdroß die Mutter, und sie rief voll Ingrimm: »O ihr vermaledeiten Rabenkinder!« Als sie das kaum ausgesprochen, sieh, da verwandelten sich plötzlich die Buben in lauter Raben, und sie flogen auf und davon, schreiend und krächzend. – Es gereute zwar die Mutter alsbald ihr Fluch, und sie heinte und jammerte; aber es war zu spät. Da sah sie das Lisele liegen in der Wiege, und sie sagte: »Sey du mein Trost und meine Freude und meine einzige Hoffnung!« – So vergingen ein paar Jahre und drüber. Da wie eines Tages Lisele im Garten saß im Grase und ihre Milchbrocken aß, kamen sechs Raben herbei geflogen, und setzten sich im Kreis um das Kindlein, als bäten sie dasselbe um ein Bröckle. Und Lisele, wie es denn ein gar gutes Herz hatte, warf jetzt dem einen, dann den andern Vögeln einen Brocken hin, und lugte ihnen zu, wie sie fraßen, und hatte ihre Freude daran. Ihr habts errathen, wenn ihr glaubt, daß diese sechs Raben niemand anders gewesen, als [69] die verwünschten Brüder. Ach! sie hatten ihren bösen Lust theuer büßen müssen. Sommer und Winter, bei Hitz' und bei Kälte, mußten sie sich auf freiem Felde aufhalten, und sich kümmerlich nähren von dem Aas und dem Dung und all dem Unrath. Oft flatterten sie um das Haus, darin sie geboren worden – denn sie hatten die Besinnung behalten, gleich Menschen – aber aus Furcht vor der Mutter, die ihnen geflucht, flogen sie bei jedem Geräusch gleich wieder hinweg, schreiend und krächzend. An jenem Tage aber, als sie ihr Schwesterle erblickten, da faßten sie Zutrauen, und flogen näher, um Speise bittend; und von der Zeit an kamen sie alle Tage, das Lisele aufzusuchen, die auch jederzeit schon auf sie wartete, und gern mit ihnen theilte. »Allmählich wurden sie so heimlich, daß sie ihr aus der Hand fraßen. Und wenn sie noch nicht da waren, so rief nur Lisele:


Raben schwarz, mit dem Schnabel roth,

Kommt doch her zum Vesperbrod!


und alsogleich kamen sie herbei geflogen, als wenn es so seyn müßte, im Sommer in den Garten, im Winter vor's Fenster. – Das hat viele Jahre so gedauert. Eines Tags sind sie aber alle ausgeblieben, und nicht wieder gekommen.«

»Wo sind sie denn aber hingekommen?« fragten[70] die Kinder. »Müßt ihr denn sogleich alles wissen?« sagte die Mutter.


* * *


Hier hielt die Großmutter inne, und sie sagte, daß nun der Großvater seine Geschichte beginnen sollte. Dieser erzählte folgende Geschichte »vom Reiter und seinem Roß.«


* * *

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TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Büchlein für die Jugend. 4. Das Mährchen von den Kücheln. - Der Reiter und sein Ross. usw.. Das Mährchen von den Kücheln. Das Mährchen von den Kücheln. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-156A-3