35. Ehrn Steffen. 1
Ehrn Steffen, der im vorigen Jahre sein fünfundzwanzigstes Lehrer-Jubiläum feierte, kam während seiner langen Amtsführung oft auf wunderliche Einfälle. Der wunderlichste war aber sein neuerster, der nämlich, seine Schule in eine constitutionelle umzuschaffen. Die Lebensansicht, welche ihn auf diesen Gedanken brachte, war specios genug. Die Schule, sagte er, müsse in jeglicher Beziehung auf das Leben vorbereiten, am meisten in sittlicher Hinsicht. So lange nun das Staatsleben selbst ein monarchisches gewesen, wo der Wille des Fürsten allein galt und unbedingten Gehorsam der Unterthanen erforderte: so lange konnte und mußte auch die Schule eine monarchische Einrichtung haben. Jetzt aber, wo im Staate die Unterthanen selbst zur Gesetzgebung beigezogen werden, da sei es Zeit, auch in der Schule dasselbe zu thun, und die constitutionelle Verfassung darin einzuführen. Auf diese Weise werde in den jungen Bürgern nicht nur das Gefühl für Recht und Pflicht frühe genug geweckt, sondern auch [105] der Verstand tüchtig gemacht, über diese Hauptmomente des Lebens ernst nachzudenken und richtig zu urtheilen. Da nun Ehrn Steffen die Gewohnheit hatte, jeden Einfall sogleich zu einem Ausfall zu machen, d.h. was er in der Theorie als richtig und wichtig ansah, in Praxi darzuthun und gleichsam zu experimentiren: so machte er sich ohne Bedenken sogleich daran, und entwarf vorerst ein Schulgesetzbuch mit einem öffentlichen und mündlichen Verfahren; dann promulgierte er es feierleich in seiner Schule; und letztlich, nachdem die Wahl des Ausschusses u.s.w. reglementsmäßig geschehen, erklärte er die Versammlung für constituirt. Es war ein großer Jubel in der Schule, kann man sich denken. – Anfangs ging die Sache ziemlich gut; und es ist schwer zu entscheiden, wer mehr Freude an diesem constitutionellen Schulleben gehabt habe, der Lehrer oder die Schüler. Da keine Lehrstunde vorbeiging, wo nicht ein polizeilicher Fall, oder ein anderer ähnlicher Art, vorkam, so war die Debatte bald an der Tagesordnung, und die Kinder hatten natürlich mehr Freude an diesem Hin- und Herwörteln, als an dem langweiligen Lesen und Schreiben und Rechnen. Gewissenhaft war Ehrn Steffen genug, und darum nahm er auch dabei jede Veranlassung, den Verstand der Kinder zu üben, sei's in der Auslegung des Gesetzes, oder in der Bestimmung des Streitfalles, oder in der Untersuchung und Besprechung selbst. Die politische Aufklärung nahm sichtbar zu unter seinen Schülern, und er hatte Ursache, viel zu hoffen für das öffentliche Leben. Bald aber fingen die constitutionellen Schulbürger an (wie man sagt), sich selbst zu fühlen. Der Gesetzgeber mit seiner Autorität trat immer mehr in den Hintergrund und sie selbst dagegen rückten vor. Sie deuteten das Gesetz selbst, und, wenn sie das lästige nicht beseitigen konnten, so lernten sie dasselbe allmählich umgehen. Der Respect vor dem Lehrer verschwand; die Unordnung in der Schule nahm zu; die Lernbegierde und der Gehorsam [106] waren weg. Ehrn Steffen mußte auf neue Gesetze denken, um dem Unheil zu steuern. Er legte sie, wie sich's geziemte, dem constitutionellen Körper zur Berathung und Beistimmung vor, und ohne alle Debatte wurden sie einstimmig verworfen. Das kränkte ihn ein wenig; er tröstete sich aber mit dem Gedanken, daß man, um ein so hohes Gut, als die politische Mündigkeit und Freiheit ist, zu erreichen, einige Unordnung allenfalls dulden und einiges Opfer bringen müsse. Das Uebel wurde aber von Tag zu Tag immer ärger. Es konnte nicht fehlen, daß unter den Schulknaben ein und der andere sich zu Pädagogen aufwarfen, und die Stimmung und Meinung der Schule leiteten. Da es zugleich die ausgelesensten und pfiffigsten unter allen waren, so organisirten sie die Majorität zur förmlichen Opposition gegen den Lehrer und dessen Vorschläge. Da wurde denn ein Schuldiger ohne weiteres losgesprochen: in Unschuldiger aber, der nicht zum Complot sich bequemen wollte, angeklagt und verurtheilt. Ehrn Steffen, als Vollzieher der Urtheilsprüche, konnte nichts thun, als im letztern Falle die ausgesprochene Strafe mildern. Das Fehlende holten dann die Richter an dem Verurtheilten außer der Schule nach. Er sollte aber bald noch Aergeres erfahren. Der Schritt von Mitgesetzgebung ist gleich gethan zur Selbstgesetzgebung. Die Pädagogen gaben nämlich ihren Mitbürgern zu erwägen, wie daß ein Paar freie Nachmittage in der Woche zu wenig wären, und zumal zur schönen Jahreszeit, wo man sich draußen besser erlustigen könnte, als in der dunklen Schulstube. Es wurde darum einstimmig beschlossen, einen blauen Montag zu machen, und sich im Erdbeerschlag einzufinden, alle ohne Ausnahme, bei höchster Verpönung. Das geschah denn auch; und zu Haus mußte die Lüge als Vorwand gelten: der Herr Lehrer habe es erlaubt. Ehrn Steffen war etwas verlegen, als er sich in der Schule so allein antraf; er sah ein über das andere Mal auf die Uhr; er guckte ein über das andere [107] Mal zum Fenster hinaus; es wollte sich Niemand sehen lassen. Er ging endlich, und fragte nach, und hörte nun was geschehen. Da kam er selbst hinaus in den Erdbeerschlag; und nachdem er den Kindern eine strenge Predigt gehalten, über ihr eigenwilliges, eines constitutionellen Bürgers unwürdiges Betragen, so kündigte er ihnen zugleich an, daß er leider gezwungen sei, sie schwer dafür zu bestrafen. Die Pädagogen, als Sprecher, erwiderten: er möge im merhin die Strafe aussprechen, aber ihnen komme es vermöge der Constitution zu, darüber abzustimmen. Ehrn Steffen sah wol ein, daß er auf diesem Wege nicht zu seinem Ziele kommen werde. Er verlegte sich daher auf Bitten und Ermahnen, sie sollten doch die Freiheit, die er ihnen aus eigener Bewegung gegeben, nicht mißbrauchen; er gab ihnen zu bedenken, welcher Nachtheil für sie, welcher Schaden für die Constitution selbst entstände, wenn der Districts-Schul-Inspector etwas davon erführe; er bat sie recht innig. – Die Kinder lachten ihn aus. Der Schelmstreich der Kinder war zu arg, als daß er nicht ruchtbar werden sollte. Die Inspection, indem sie den Fall untersuchte, kam dem ganzen tollen Plan des Ehrn Steffen auf die Spur; und da die Kinder einmal allen Respect ihm aufgekündigt, so konnte der Magistrat nichts Weiteres thun, als den constitutionellen Lehrer in Anbetracht seiner Altersschwäche, in Ruhestand zu versetzen.
Fußnoten
1 Vergleiche die Schrift: »Nachweisung, wie unsere bisherige unvernünftige und zum Theil barbarische Schulzucht endlich einmal in eine vernünftige und menschenfreundliche umgeschaffen werden könne und müsse.« Von Dr. Heinrich Stephani. Erlangen 1827.