Röschen.

Es wurde nun zuletzt Malchen aufgefordert, ihre Geschichte vorzutragen. Sie erzählte, wie folgt:

Ein Vater hatte drei Töchter, die wuchsen auf, und wurden groß und schön, so daß jedermann seine Freude an ihnen hatte. Einsmals mußte der Vater fort auf Reisen. Da sagte die ältere Tochter: Vater, bringt mir ein schönes Kleid mit. Und die mittlere sagte: Vater, bringt mir einen schönen Schmuck mit. Die jüngste aber, welche Rosa geheißen, schwieg, und verlangte nichts. Da fragte sie der Vater: Und was soll ich denn dir mitbringen, liebe Rosa? Hierauf sagte sie: Lieber Vater, wenn Ihr wollt, so bringt mir eine weiße Rose mit. Der Vater versprach einer jeden, was sie verlangt, mitzubringen, und reisete sodann ab.

[104] Es vergingen viele Wochen, bis er seine Geschäfte abgethan hatte. Nachdem endlich alles verrichtet war, so dachte er an die Rückkehr nach Hause, und an die Geschenke, die er seinen Töchtern mitzubringen versprochen hatte. Er kaufte daher der ältern ein schönes Kleid von Sammt und Seide, und der mittlern einen kostbaren Schmuck von Gold und Edelgestein. Aber eine weiße Rose für seine liebe Rosa konnte er nirgends erfragen und auftreiben; und er hätte doch gern das Doppelte drum gegeben, was Kleid und Schmuck für die beiden andern gekostet.

Da dachte er: Auf dem Heimweg werde ich wohl noch eine weiße Rose auftreiben können; und er fragte auch überall bei allen Menschen nach, ob keine weiße Rose zu haben sey; aber niemand wußte etwas von einer solchen Blume, und viele lachten ihn wohl gar darüber aus. Als er nicht mehr fern von seiner Heimath war, kam er eines Tags durch einen großen dichten Wald, und er war recht traurig, daß er nun seinem Röschen nicht die versprochene weiße Rose mitbringen könnte. Da stand er plötzlich vor einem schönen, großen Garten; und im Garten erhob sich ein großer, schöner Palast; nirgends aber war ein Mensch drinn zu sehen. Er wagte es daher, und ging in den Garten, der offen stand; und wie er [105] zwischen Blumenbüschen hin und her wandelte, sieh! da bemerkte er einen Busch voll der schönsten weißen Rosen. Sogleich pflückte er die schönste ab, und dachte: wie wird sich Röschen darüber freuen! Aber, indem er nun weg und fort wollte, da trat ihm ein großer schwarzer Zottelbär in den Weg; der brummte: »Du hast mir die schönste Rose aus dem Garten genommen, dafür will ich dir deine Rose aus dem Hause holen.« Drauf trollte sich das Thier seitwärts ab, und der Reisende ritt weiter gen Haus zu, indem er bei sich dachte: Mit dem Holen hat's Zeit; zu Hause binich Herr.

Als er heimgekommen, so war sein erstes, seinem lieben Röschen die weiße Rose zu reichen. Die hatte große Freude darüber, und sie setzte die Blume sogleich in frisches Wasser, und trug sie in ihr Kämmerlein, um sie sorgsam zu pflegen. Auch die beiden andern Schwestern freuten sich sehr über die reichen Geschenke; und sie legten sogleich Kleid und Schmuck an, und besahen sich im Spiegel, und gingen drauf zu den Nachbarsleuten, um sich sehen zu lassen.

So vergingen mehrere Wochen in vielen Freuden; denn der Vater hatte seinem lieben Röschen nichts gesagt, wie er zur Rose gekommen, um sie nicht zu betrüben. In der neunten Woche aber erschien plötzlich ein [106] Wagen mit vier Pferden vor dem Hause, mit einem Kammerdiener und zwei reich gekleideten Bedienten. Der Kammerdiener aber hatte einen Brief an den Vater, und einen an Röschen, und viele schöne Geschenke. In dem Briefe an den Vater stand geschrieben: er solle die Tochter ziehen lassen; sonst wäre er sammt seinen Töchtern verloren. In dem Briefe an Röschen hieß es: »Liebes Röschen, komm ja recht bald, sonst verschmachte ich vor Sehnsucht.«Röschen sagte: »Das muß gewiß ein lieber Herr seyn, der also schreibt; ich ziehe gern zu ihm, mit Eurem Willen.« Der Vater aber sagte: Ein Bär ist er, ein abscheulicher Bär, und ich lasse dich nicht. Darob erschrack Rosa nicht wenig, zumal wie nun der Vater ihr die Geschichte erzählte. Als er ihr nun aber auch den Brief vorlas, und sie die Drohung hörte, die darin stand, so faßte sie sich alsogleich, und sagte: Lieber heirathe ich einen Bären von einem Mann, als daß ihr alle um meinetwillen unglücklich werdet. Drauf hieß sie dem Kammerdiener auf die Nacht alles in Bereitschaft setzen, und fuhr fort, ohne Abschied zu nehmen. Sie weinte freilich bitterlich, aber es konnte einmal nicht anders gemacht werden.

Der Wagen hielt im Wald vor dem Schlosse. Das hatte eine Einrichtung, so reich und schön wie [107] ein Königspalast; es waren viele Bediente da, und Kammerjungfern für Röschen. An der Tafel gab es gute Speisen und Getränke; man lustwandelte im Garten, und fuhr spazieren durch den grünen Wald. Kurz, man lebte so vergnügt, wie irgendwo in der weiten, schönen Welt. Nur der Herr des Hauses war ein mürrischer, jähzorniger Brummbär, und die Pein und Plage für alle im Schloß. Und ihn sollte nun Röschen als Gemahl lieben! Der machte ihr die Tage recht hart. Wenn sie auch bemüht war, ihm alles recht zu thun, wenn sie ihm freundlich zu essen und zu trinken gab, und ihm schmeichelte und ihn streichelte, so war ihm doch nichts recht gethan. Blieb sie dann eine Weile von ihm weg, oder sprach sie freundlich mit den Leuten, so wurde er gleich zornig, und brummte, und stieß alles über den Haufen, und zertrat die Blumenbeete im Garten, und wälzte sich im Kothe. Ach! wie oft weinte da das arme Röschen im Stillen, und wünschte sich nach Hause! Da machte ihr der Bär wieder bittere Vorwürfe, daß sie wieder fort wolle, daß sie ihn nicht lieb habe, daß sie undankbar gegen ihn sey. Als nun einmal Röschen sich wieder recht vor Gott ausweinte auf ihrem einsamen Zimmer, da kam ihr Trost und wunderbare Kraft vom Himmel, und sie dachte: »Hab' ich doch durch mein Unglück das Unglück [108] vom Vater und von den Schwestern abgewendet! Und das arme Geschöpf, an das ich nun einmal gebunden bin, es wird doch wohl durch meine Milde milder; und vielleicht mit der Zeit wird alles gut werden.«

Der Bär mochte auch ihren guten Vorsatz und Willen merken, und er wurde von Tag zu Tag zahmer und verfiel immer seltener in seine alten Unarten. Eines Tages, als sie ihn gerade bei guter Laune fand, trug sie ihm den Wunsch vor, den sie schon lange im Herzen gehabt hatte, und bat ihn um die Erlaubniß, ihren Vater und ihre Schwestern besuchen zu dürfen. Nach langem Bitten gab er es zu, und schickte sie im Wagen mit den vier Pferden fort nach ihrer Heimath. Wie groß da die Freude war, besonders bei dem Vater, als er sein liebes Röschen wieder hatte, das läßt sich nicht beschreiben. »Nun darfst du mir nimmer fort,« sagte der Vater; und Röschen gefiel sich auch so gut im väterlichen Hause, daß sie nicht mehr an das Schloß im Walde dachte, und an ihren Gemahl, den Bären. Nach neun Tagen aber kam Botschaft von ihrem Herrn, mit dem Befehle, daß sie wieder zurückkehren solle, alsogleich. Da sie aber vernahm, daß sonst nichts fehle, so hielt sie es für einen Anfall böser Laune, die wohl wieder vergehe, und blieb. [109] Nach neun Tagen aber kam wieder eine Botschaft mit der Meldung, daß der Herr krank sey, und mit der Bitte, sie sollte ja bald kommen. Das fielRöschen schwer auf's Herz; sie wäre auch gleich gegangen, wenn nicht Vater und Schwestern sie zurückgehalten hätten mit Bitten und Vorstellungen. Als nun wieder neun Tage verstrichen waren, da kam neuerdings Botschaft, und die Nachricht, daß der Herr im Sterben liege, und er sehne sich gar sehr nach Röschen, und, wenn er sie nicht bald sehe, so müsse er sterben. Nun ließ sich Röschen nimmer halten; sie fuhr eilig zurück nach dem Schlosse, und ging sogleich zu dem Kranken. Als sie ihn da so liegen sah, ächzend vor Schmerz, und sah, wie er die sterbenden Augen nach ihr wandte, als wollten sie sagen: Wie hast du mir das thun können? mich so verlassen? so vergessen? da traten ihr Thränen in die Augen, und sie schlang ihre Arme um den Kranken, und küßte ihn. – Und, sieh da, in dem Augenblicke hielt sie den schönsten Jüngling in den Armen, der sie nun ebenfalls umarmte und herzlich küßte. – Der Bär, müßt ihr wissen, war ein verwunschener Prinz. Weil er, als Prinz, den Mädchen übel mitgespielt hatte, so wurde er in einen Bären verwandelt, auf so lange, bis ein reines, treues, liebendes Mädchen ihn erlösen würde. Viele [110] Mädchen hatten die Probe nicht bestanden, und es war ja freilich auch eine schwere Probe! Dafür war nun aber auch Röschen eine vornehme Frau, und lebte nun glücklich mit dem Prinzen viele Jahre lang, bis zu ihrem Tode.

Ihre beiden Schwestern aber sind sitzen geblieben, und haben keinen Mann bekommen.


* * *


Die Großeltern, Vater und Mutter waren zufrieden mit den erzählten Geschichten, so wie auch Onkel und Tante mit dem freien, frischen Vortrag derselben.Fritz gefiel sich sehr, und war voll freudigen Stolzes, wie einer, der zum ersten Mal als öffentlicher Redner aufgetreten, und Lob und Preis davon getragen. Minchen schmiegte sich an den Großvater, dessen Liebling sie war, und erwiederte seinen Kuß mit Wärme und holdseliger Miene. »Und die Mährchen, die ihr beiden andern uns erzählt – sagte der Vater – habt ihr sie selbst gemacht?« Karl sagte un bedenklich: ja! (denn er gedachte der Mühe, die ihm die Ausführung gekostet), und Malchen, schwach erröthend, sagte nicht: nein! Der Vater mochte es glauben, obwohl er mit Grund vermuthete, daß Onkel und Tante ihren guten Theil, auch [111] in deren Ausführung genommen. Jede selbstthätige Aeußerung eines Kindes verdient als solche schon Anerkennung, und das Wirken gilt hier so viel als das Werk selbst.

Die Mutter, die Tante und der Onkel versprachen, bei Zeit und Gelegenheit auch ihr Scherflein beizutragen zur gemeinschaftlichen Unterhaltung; und so ward der Tag, der sich so ungünstig angelassen hatte, recht nützlich verbracht und recht angenehm beschlossen.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Büchlein für die Jugend. 5. Das Hirtenbüblein. - Marianne. - Die Christgeschenke. - Röschen. Röschen. Röschen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-15A0-5