482. Abendglöckchen.

Ein Fräulein von Seckendorf aus dem Schlosse zu Oberzenn hatte sich eines Morgens im benachbarten Walde verirrt und war, nach langem, ängstlichem Umherstreifen, an einem Brünnlein ermüdet eingeschlafen. Als sie erwachte, war die Sonne bereits untergegangen, ihre Angst verdoppelte sich, und sie rief inbrünstig zu Gott um Hülfe. Da ertönte auf einmal ein fernes Glöckchen, sie ging dem Schalle zu und gelangte glücklich in das Dorf Flachslanden. Dort traf sie einige ihrer Leute, welche, sie zu suchen, ausgeschickt waren, und unter deren Geleite kam sie, zur großen Freude ihrer Eltern, nach Hause. Aus frommer Dankbarkeit stiftete sie nach Flachslanden ein neues Abendglöckchen, dessen silberheller Klang den Wanderern weit und breit zur Leitung diente. Nachdem es viele Jahre geläutet worden, zerriß sein Seil, das der Kirchendiener anzuschaffen hatte, welcher für des Glöckchens Unterhaltung jährlich zwanzig Gulden bezog. Er wollte jedoch die Ausgabe sparen und, als es Abend geworden, eine andere Glocke läuten; aber in demselben Augenblick zeigte sich, zu seinem Schrecken, das verstorbene Fräulein, ganz weiß, in der Hand eine brennende Kerze haltend, drohte ihm mit aufgehobenem Finger und verschwand. Die nämliche Erscheinung hatte er am folgenden Abend; er erschrack aber weit weniger und war daher am dritten[403] Tage fest entschlossen, sein Vorhaben auszuführen. Eben wollte er die andere Glocke anziehen, da erhielt er von dem Geist, welcher plötzlich hinter ihm stand, einen solchen Schlag, daß er betäubt zu Boden stürzte. Mit Hülfe seiner Frau, die in der Nähe seinen Schreckensruf gehört hatte, kam er wieder zu sich und schaffte nun ohne Zögern für das Glöckchen ein neues Seil an. Schon am folgenden Abend ward jenes wieder geläutet, und das Fräulein ist bis heute nicht mehr gesehen worden.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Baader, Bernhard. Sagen. Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden. 482. Abendglöckchen. 482. Abendglöckchen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-1810-4