488. Ohr druff

Nicht weit von Waltershausen liegt die Stadt Ohrdruf, über der liegt auch ein Schloßberg, aber das Schloß ist längst verschwunden. Am Fuße des Schloßbergs quillt der Herlings- oder Hörlingsbrunnen. Zuzeiten wandelt in der Mittagsstunde eine weiße Jungfrau, die ein großes Gebund Schlüssel trägt, vom Schloßberg zum Hörlingsbrunnen herab, badet sich in dem Brunnen und geht dann wieder hinauf. An welche Bedingung ihre Erlösung geknüpft ist, weiß niemand. Wenn einer in die Nähe des verrufenen Ortes kommt, so kommt ihn schon ein Grauen an; die Leute sehen oft die Geister, aber sie weichen ihnen schweigend aus. Im Tale fließt aus dem Thüringer Walde heraus das rasche Flüßchen, die Ohre, deren Quelle hoch oben in der Nähe von Oberhof entspringt. Vorzeiten mangelte der Gegend Wasser, da stieg ein bekutteter Mönch hinauf auf die Berge, der hatte die Wünschelrute und suchte, und da sie schlug, legte er sich mit seinem Ohr auf den Boden (Ohr druff), da hörte er der Bergquelle Getön unterm Boden, grub nach und brachte die Ohrequellen zu Tage.

In diese Gegend kam Bonifazius, der Thüringer Apostel, bekehrte die Bewohner und empfing Land und Waldung. Am Ohreufer ist dem heiligen Manne der Erzengel Michael erschienen mit großem Glanze und hat ihn ermutigt zur Ausdauer in seiner Sendung. Am Ohreufer hat ihm ein Fischaar Speise zugetragen, da alle Nahrung in den öden Forsten ihm und seinen Begleitern mangelte, und in Ohrdruf hat der Heilige dem Erzengel Michael eine Kirche und ein Kloster geweiht und gegründet, welche im Jahre 909 von den Hunnen zerstört, hernachmals aber um so schöner wieder aufgebaut wurden.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 488. Ohr druff. 488. Ohr druff. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-20BF-E