Der Raben Arglist und Rache

Lange lebte am Hofe des Adlerkönigs der alte Rabe; er wurde Mitglied des geheimen Cabinets und vernahm alle Beschlüsse der Adler gegen die Raben, und erlauschte alle Heimlichkeiten der ersteren. Der erste Rat des Adlerkönigs aber schied von seinem Posten; er nahm seine Entlassung, denn, sagte er: »Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen. Wer mit sehenden Augen blind sein will, der sei es. Ich habe gesprochen und gewarnt in aller Treue und habe meine Seele bewahrt. O betörter König, leichtgläubiger König! Wie wirst du meiner Warnung gedenken, wann es zu spät ist!« Und schied ab, und flog in ein fernes Gebirge,[674] um auf einem stillen Landsitze weit vom Königshofe und von dessen Unruhe seine Tage friedlich zu beschließen.

Der Rabenkönig harrte still und lange seines Getreuen, während seine Umgebung diesen längst tot glaubte, denn der König hütete sein Geheimnis sorglich vor allen, und ließ selbst seinem Vertrautesten nichts davon ahnen. Da kam eines Abends der Rabe geflogen, und alle erstaunten und verwunderten sich hoch, und wußten nicht ob sie ihren Augen trauen sollten, daß ihn der König, der ihn vor aller Augen mit Ungnade überhäuft und ihn sogar tätlich mißhandelt hatte, so freundschaftlich, ja selbst herzlich empfing.

Der alte weise Rabe aber sprach zu seinem Könige: »Ich bringe gute Botschaft und verkündige Sieg und Freude! Der Himmel gibt unsere Feinde in unsere Hand. Die Adler haben jetzt eine Felsenkluft entdeckt, die unersteigbar ist, in dieser schlafen sie gemeinsam, denn sie ist innen weit und geräumig, luftig und trocken, gedeckt gegen Regen und Sonnenbrand, der Eingang aber ist enge, und sonder Wache, weil weder Tiere noch Menschen ihr nahe kommen können. Wir aber können ihnen nahen, darum auf mein König, auf all ihr mutigen und getreuen Raben! Jeglicher fasse ein Stück dürren Holzes, so groß er solches zu tragen vermag mit Krallen und Schnabel, und ich will einen Feuerbrand tragen und voranfliegen.«

Rasch wurde dieser Rat nach des Königs Zustimmung vollzogen, die ganze Schar der Raben flog dem Führer nach, jeder warf sein Holz auf den Ausgang der Aarenhöhle, und der alte Rabe legte sein glimmendes Holz hinein, dann wehten sie mächtig mit den Flügeln, und bald brannte das Holz in lichter Lohe.

Tödlicher Schrecken ergriff die aus dem ersten Schlummer erwachenden, sich sicher wähnenden Adler samt ihrem Könige. Sie rauschten wild durcheinander, stießen aneinander, sie kreischten verzweifelnd; die kühnsten flogen durch die Flamme, nur um draußen tot niederzufallen, indessen mehrten sich innen Dampf und Hitze, daß einer nach dem andern sterbend mit zuckendem Flügelschlage hinsank, und auch der König mit allen den Seinen, der noch klagend ausrief: »Welch ein Tor ist der Mann, der den Fremdling beschirmt, und den treuen Warner verachtet!« –

So gewann das Reich der Aaren und ihre Feindschaft [675] gegen die Raben ein Ende, und wenn nicht jener weise Ratgeber mit den Seinen sich in jenes Gebirge zurückgezogen hätte, so gäbe es gar keine Adler mehr, deren Geschlecht selten geworden ist, der Raben aber sind viele geworden, haben sich überall hin verbreitet, sind auch jeweilig noch große Redner, und hassen die Aaren immer noch.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Märchen. Neues deutsches Märchenbuch. Der Raben Arglist und Rache. Der Raben Arglist und Rache. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-24B1-8