54. Eginhart und Emma

Kaiser Karl der Große hatte einen jungen Kapellan, Eginhart geheißen, der ihm auch als Geheimschreiber treulich diente, und von welchem jenes großen und mächtigen Kaisers Leben beschrieben worden ist. Dieser liebte des Kaisers Tochter Imma oder Emma und wurde von ihr heftig wiedergeliebt, doch fürchteten sich beide, dem mächtigen Herrscher Karl ihre Leidenschaft zu entdecken, weil Imma bereits dem Könige von Byzanz verlobt war. Da geschah es, daß Eginhart in einer Nacht zu Imma kam und mit ihr von ihrer Liebe redete, bis der Morgen fast zu grauen begann. Aber während die Liebenden heimlich beisammen waren, fiel ein starker Schnee, und als Eginhart von seiner Geliebten hinweggehen wollte, da er über den Hof der Kaiserpfalz zu Ingelheim, wo sich dieses zutrug, wandeln mußte, erschraken beide sehr, denn sein Fußtritt von ihrem Gemach aus mußte ihn ohnfehlbar verraten. Da ersann Imma eine List, sie gürtete sich und trug den Geliebten auf ihrem Rücken durch den Schnee über den Burghof bis zur Stelle, wo er sicher war, und kehrte dann, in ihre eigenen Fußtapfen vorsichtig tretend, wieder zurück. Alles war still, und alles schlief, nur der große Kaiser nicht. Dieser wachte und sah aus seinem Gemach hinab in den Schloßhof und erkannte mit Schmerz die eigne Tochter – doch er schwieg. Der junge Kanzler aber gelobte sich nach der ertragenen Angst, des Kaisers Hof zu verlassen, kniete nieder vor seinem Herrn und bat ihn zu entlassen. Da der Kaiser nach der Ursache solcher Bitte fragte, so wandte Eginhart Mißmut vor, sein Dienst werde ihm nicht gehörig vergolten, und was er sonst für Ausreden brauchte. Der Kaiser versprach dem Jüngling baldigen Bescheid, setzte aber ein Gericht an, zu dem er seine weisesten Räte und Richter berief, und trug ihnen vor, was sich begeben habe, und was er mit Augen gesehen; heischte nun, da er in eigner Sache nicht Richter sein wollte, ihren Rat und ihr Urteil. Da stimmten die Räte und Richter fast allzumal für Milde und Verzeihen, und der große König, ob er auch im Herzen zürnte, mußte ihnen zuletzt beistimmen. Darauf ließ er seinen Schreiber vorfordern und sprach zu ihm: Schon lange hätte ich deine Dienste besser vergolten, hättest du mir früher dein Mißvergnügen entdeckt, nun will ich dir meine Tochter Imma zur ehelichen Frau geben, welche dich hochgegürtet so williglich [51] durch den Schnee getragen hat. Und sandte nach der Tochter, und Imma kam mit hohem Erröten und ward ihrem Herzgeliebten alsobald angetraut. Der Kaiser begabte seine Kinder reich mit Ortschaften, Waldungen und Feldern und hielt Eginhart gar hoch in seinem Herzen. Als aber der große Kaiser verstorben war, da sehnte Eginhart sich vom Hofe hinweg mit seiner lieben Imma in beschauliche Stille, und König Ludwig der Fromme, Karols Sohn, begabte ihn mit zwei königlichen Villen im Odinwald, die hießen Michlinstadt und Mühlenheim. Nach einer Reihe glücklich verlebter Jahre wandte sich das Herz der Verbundenen mehr und mehr dem Himmel zu. Michlinstadt schenkten sie dem berühmten Kloster Lorsch, von dem überkamen es die Schenke von Erbach, die später Reichsgrafen wurden. Beide lebten fortan geistlich, nur noch als Bruder und Schwester verbunden; Eginhart ließ sich die Priesterweihen erteilen und erbaute eine Kirche mit Klosterzellen zu Obermühlheim, ließ dorthin heilige Leiber aus Rom kommen, und als seine Imma verstorben war, ließ er sie in seinem Kloster beisetzen, dessen erster Abt er wurde. Selig sei die Statt, wo du ruhest, sprach er an der Asche der Treugeliebten, und wo wir in Liebe Selige gewesen – und fortan wurde der Ort Seligenstadt genannt.

Andere sagen, Karl der Große habe die Liebenden von seinen Augen verbannt und verstoßen, und sie haben lange dort um Seligenstadt in einer Waldeinöde beisammengewohnt, bis der Kaiser auf einer Jagd sie einst unvermutet wiedergefunden und aus Freude jene Stätte selbst Seligenstatt genannt habe. Da auch Abt Eginhart verstorben war, wurden seine Gebeine neben denen seiner Imma beigesetzt und ihnen dann ein kostbarer Sarkophag, darinnen sie ruhten, errichtet, und da nun die erlauchten Grafen von Erbach zu Erbach ihren Stamm von diesem edlen Paare ableiten, so ist durch Geschenk von hoher Fürstenhand ihnen dieser alte Sarkophag verehret worden und wird als das kostbarste Altertum zu Erbach noch bewahrt. Nicht minder aber ward zu Seligenstadt ein herrlicher andrer Marmorsarkophag mit den Gebeinen der Gründer der dortigen Kirche in derselben aufgestellt, und so ist es gekommen, daß Eginharts und Emmas Sarg an zwei verschiedenen Orten gezeigt wird und doch jeder von beiden der wahrhaftige ist.

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 54. Eginhart und Emma. 54. Eginhart und Emma. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2E3A-2