[385] Lyng-Lun

(Nach dem Vlämischen des Pol de Mont.

Dem Dichter gewidmet.)


Durch Li-yo-ing, wo aus morastiger Erde
Der Riesenbambus aufschießt wie ein Wald,
Ging, in Gedanken ganz verstrickt, der Weise,
Der Dichter Lyng-Lun. Kümmerlich sein Leib;
Doch seine Seele, die war gottesstark.
In breiten Stößen, osther, rauschten an
Die Winde voller Kraft und bliesen laut
Durch dieses Röhrichts palmenhohe Stämme;
Und wundersame Weisen weckten sie
Aus ihnen, daß es wie vom Menschen klang.
Ein Singen, Jauchzen und ein Klagen wars.
Bis zu des Weisen Füßen beugten sich
Die schlanken Schäfte, seinen Wangen längs
Schwebten wie Schmeichelhände ihre Blätter,
Die langen, schmalen. Und es hielt Lyng-Lun
In Schweigen sinnend einen Stamm zurück.
Und zwischen zweien Knorren schnitt er sich,
Genau inmitten schnitt ein Stück er sich
Heraus, und sieh: Da seinen Atem er
Dem Rohre einblies, schwoll ihm sanft ein Klang
Sehr tief und voll aus diesem Rohr entgegen,
Ein Klang, lebendig wie die eigne Stimme.
Und wunderbar: als hätte rings um ihn
In Luft und Erden alles nur geschwiegen,
[386]
Bis daß ihm Stimme gab sein Menschenmund,
Ward nun mit eins die ganze Welt Gesang.
Der Hoangho, der seinen grünen Strom
Wie eine Flut von Schlangen vor ihm wälzte,
Er wieherte wie ein gepanzert Roß,
Wenn es zum erstenmal im Lärm der Schlacht
Auf Schild und Brünne Schwerter klirren hört.
Der Fung-hoan, der rote Zaubervogel,
Schwang sich mit seinem Weibchen auf den Ast,
Und seiner Liebe süße Sehnsucht klang
Wie lebend Gold.
Da rief Lyng-Lun, der Weise,
Begeistert laut: Ah, huldreiche Natur,
Ich höre deine Stimme. Brülle, Strom!
Sing, singe, roter Vogel! Winde, braust
Und rauscht Akkorde durch das schwanke Rohr,
Daß ich erlausche deiner Stimme Klang
Und in mich berge, denn es wird fortan
Mitklingen und mitsingen die Natur,
Wo seiner Seele Tiefgefühl der Mensch,
Der leidende, ausklagt, ausjauchzt, aussingt.
Und sorgsam lauschend schnitt er Rohr auf Rohr
Sich aus dem großen, schwanken Bambuswald
Und stimmte sie genau: sechs nach dem Rauschen
Des Stroms, des Röhrichts und der wilden Bäume,
Sechs andre aber nach der Vögel Sang
Und dem Insektensummen; band sie alle
Andächtig an einand und brachte sie
[387]
Voll hellen Jubels dem, der unterm Himmel
Als Sohn der Sonne diese Welt regiert,
Und niederknieend sprach er: Nimm dies, ha!
In diesen Rohren lebt des Weltalls Seele.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Bierbaum, Otto Julius. Gedichte. Irrgarten der Liebe. Gedichte. Uebersetzungen. Lyng-Lun. Lyng-Lun. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3507-C