Der Stein der Mutter oder der Guahiba-Indianerin

(Humboldt: »Voyage aux régions équinoxiales.«

Liv. 7. Ch. 22. Ed. 8. V. 7. p. 286)


Wo durch die Ebnen in der heißen Zone
In ihrem stolzen Laufe sich gesellen
Der Orinoko und der Amazone;
Und wann zur Regenzeit die Ströme schwellen,
Unwirtbar, unzugänglich, wunderbar,
Der Urwald sich erhebet aus den Wellen;
Da herrscht im Wald der grause Jaguar,
Das Krokodil auf überfloßner Flur,
Den Tag verdunkelt der Moskitos Schar.
Der Mensch ersteht, verschwindet ohne Spur,
Ein armer, unbedachter Gast der reichen,
Der riesenhaft unbändigen Natur.
Es pflanzt der Missionar des Heiles Zeichen
An Flussesufern weit hinauf, wovor
Der Wildnis freie Söhne fern entweichen.
Am Atabapo's-Ufer ragt empor
Ein Stein, der Stein der Mutter, wohlbekannt
Dem Schiffer, der den Ort zur Rast erkor.
So ward er unserm Humboldt auch genannt,
Als diesen Strom der Wildnis er befahren,
Von Wissensdurst und Tatenlust entbrannt.
»Der Stein der Mutter? Lasset mich erfahren:
Was redet dieser Stein mit stummem Munde?
Was soll für ein Gedächtnis er bewahren?«
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Es schwiegen die Gefährten in der Runde.
Erst später, zu San Carlos angekommen,
Gab ihm ein Missionar die graus'ge Kunde:
»Einst ward von San Fernando unternommen
Ein Zug, um Seelen für den heil'gen Glauben,
Und Sklaven, die uns dienen, zu bekommen.
Des heil'gen Ordens Satzungen erlauben,
Gewaltsam zu der Völker Heil zu schalten,
Und Heiden galt's am Guaviar zu rauben.
Es ward, wo Rauch vom Ufer stieg, gehalten;
Im Boote blieb, ein Betender, der Pater,
Und ließ die rauhe Kraft der Seinen walten.
Sie überfielen, ohne Schutz und Rater,
Ein wehrlos Weib; mit seiner Söhne Macht
Verfolgte wohl den Jaguar der Vater, –
An Christen hatte nicht der Tor gedacht;
Und die Guahiba-Mutter ward gebunden
Mit zwei unmünd'gen Kindern eingebracht;
Sich wehrend, hätte sie den Tod gefunden,
Sie war umringt, ihr blieb zur Flucht nicht Raum;
Leicht ward sie, ob verzweifelnd, überwunden.
Es war, wie diese, schmerzenreich wohl kaum
Noch eine der Gefangnen, unverwandt
Rückschauend nach der heim'schen Wälder Saum.
Entfremdet ihrer Heimat, unbekannt
Zu San Fernando, kaum erlöst der Bande,
Hat sich die Rasende zur Flucht gewandt.
Den Fluß durchschwimmend, nach dem Vaterlande
Entführen wollte sie die kleinen beiden;
Sie ward verfolgt, erreicht am andern Strande.
Drob mußte harte Züchtigung sie leiden;
Noch blut'gen Leibes hat zum andern Mal
Versucht sie, zu entkommen zu den Heiden;
Und härter traf sie noch der Geißel Qual;
Und abermals versuchet ward die Tat;
Nur Freiheit oder Tod war ihre Wahl.
Da schien dem Missionar der beste Rat,
Von ihren Kindern weit sie zu entfernen,
Wo nimmer ihr der Hoffnung Schimmer naht.
Sie sollt ihr Los am Rio Negro lernen.
Sie lag gefesselt, und es glitt das Boot
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Den Fluß hinauf; sie spähte nach den Sternen.
Sie fühlte nicht die eigne bittre Not,
Sie fühlte Mutterliebe, Kern des Lebens,
Und Fesseln, und sie wünschte sich den Tod.
Die Fesseln sprengt sie plötzlich kräft'gen Strebens,
Da, wo den Stein am Ufer man entdeckt,
Und wirft sich in den Strom und schwimmt, – vergebens!
Sie ward verfolgt, ergriffen, hingestreckt
Auf jenen Stein, geheißen nach der Armen,
Mit deren Schmerzensblut er ward befleckt.
Sie ward gepeitscht, zerfleischet ohn Erbarmen,
Geworfen in das Boot zur weitern Fahrt
Mit auf dem Rücken festgeschnürten Armen.
Javita ward erreicht auf solche Art;
Die wund, gebunden, kaum sich konnte regen,
Ward dort zu Nacht im Fremdenhaus verwahrt.
Es war zur Regenzeit, das wollt erwägen,
Zur Regenzeit, wo selbst der kühnste Mann
Nicht wagt den nächsten Gang auf Landeswegen;
Wo uferlos die Flüsse waldhinan
Gestiegen sind; der Wald, der Nahrung zollte,
Dem Hunger kaum Ameisen bieten kann;
Wo, wer in Urwaldsdickicht dringen wollte,
Und würd er vor dem Jaguar nicht bleich,
Und wenn ihm durchzubrechen glücken sollte,
Versenkt sich fände in ein Schattenreich,
Vom sternenlosen Himmel ganz verlassen,
Dem führerlos verirrten Blinden gleich.
Was nicht der keckste Jäger ohn Erblassen
Nur denken mag, das hat das Weib vollbracht;
An dreißig Meilen mag die Strecke fassen.
Wie sich die Angeschloßne frei gemacht,
Das bleibt in tiefem Dunkel noch verborgen,
Sie aber war verschwunden in der Nacht;
Zu San Fernando fand der vierte Morgen
Sie händeringend um das Haus beflissen,
Das ihre Kinder barg und ihre Sorgen.« –
»O sagt's, o sprecht es aus, daß wir es wissen,
Daß nicht der Mutterliebe Heldin wieder
Unmenschlich ihren Kindern ward entrissen!«
Er aber schwieg, und schlug die Augen nieder,
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Und schien in sich zu beten. Red hinfort
Dem ihn Befragenden zu stehn, vermied er.
Doch, was verschwiegen blieb dem Humboldt dort,
Aus seinem Buche schaurig widerhallt;
Es ward berichtet ihm an andrem Ort.
Sie haben fern nach Osten mit Gewalt
Sie weggeführt, die Möglichkeit zu mindern,
Daß sie erreiche, was ihr alles galt.
Sie haben sie getrennt von ihren Kindern!
Sie konnten, Hoffnung fürder noch zu hegen,
Sie konnten nicht zu sterben sie verhindern.
Und, wie verzweifelnd die Indianer pflegen,
Sie war nicht, seit der letzten Hoffnung Stunde,
Daß Nahrung ein sie nehme, zu bewegen.
So ließ sie sich verhungern! Diese Kunde
Zu der Guahiba und der Christen Bildnis
Erzählet jener Stein mit stummem Munde
Am Atabapo's-Ufer in der Wildnis.

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TextGrid Repository (2012). Chamisso, Adelbert von. Gedichte. Gedichte (Ausgabe letzter Hand). Sonette und Terzinen. Der Stein der Mutter oder der Guahiba-Indianerin. Der Stein der Mutter oder der Guahiba-Indianerin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4D34-9