Die Verbannten

1

Woinarowski

1740


(Nach dem Russischen des Relejeff 1)


Ein Reich des Winters starrt das öde Land,
Durch welches sich die breite Lena windet
Zu einem ewig eisumtürmten Strand.
Auf Schnee, auf frosterstarrter Rinde findet
Sich wegbar nur das ausgespannte Moor,
Von dem die weiße Decke kaum verschwindet.
Im weiten Kreise blickt daraus hervor
Ein schwarzer Föhrenwald, und scheinet schier
Auf kaltem Leichentuch ein Trauerflor.
Aus Balken grobgezimmert reihen hier
Sich dunkle Jurten längs dem Fluß: die Stadt
Des Schreckens in der Schrecknisse Revier, –
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Jakutsk, an Kerkers und an Grabes Statt
Bestimmt, die Unglückseligen zu hegen,
Die schon das Leben ausgespieen hat.
Wer ist, der dort auf unbetretnen Wegen
So heimlich düster durch die Nebel schleicht,
Die kalt am Morgen auf das Moor sich legen?
Mit kurzem Kaftan, Gurt und Mütze gleicht
Er dem Kosaken von des Dnjepers Auen;
Das Alter nicht hat so sein Haar gebleicht.
Und die zerstörten Züge! welch ein Grauen
Flößt dieses Antlitz ein! des Henkers Mal
Ist aber auf der Stirne nicht zu schauen. –
Und dort am Walde hält er auf einmal,
Erhebt gen Westen schmerzensüberwunden
Zugleich die Arme mit der Augen Strahl;
Und so wie Blut aus tiefen Herzenswunden,
Entquillt ein Schrei: »O du mein Vaterland!«
Er ist in Waldesdickicht schon verschwunden.
Wer ist, wer war er, eh der Unbestand
Ihn des Geschickes in den Abgrund raffte?
Wie heißt der Waldbewohner? – unbenannt.
Wen her das schwarzverdeckte Fuhrwerk schaffte,
Ein Sarg lebend'ger Toten, ist verschollen,
Und stumm verhüllt sich dieser Rätselhafte.
Um Opfer edlem Wissensdurst zu zollen
Hat Müller zu der Zeit dies Land bereist,
Und zu Jakutsk den Winter dulden wollen.
In dürft'ger Hütte lebt' er und verwaist,
Ein Menschenfreund und Priester der Natur,
Wofür die Nachwelt seinen Namen preist.
Erholung war die Lust der Jagd ihm nur;
Oft lockten in den Forst ihn seine Hunde
Auf leichtem Schneeschuh auf des Rennes Spur.
Des Weges einst vergessen und der Stunde,
Fand er am späten Abend sich allein,
Verirrt, erschöpft, erstarrt in Waldesgrunde.
Die Kälte frißt am Leben, ohne Schein
Hat über ihm der Himmel sich bedeckt,
Er hüllt gefaßt zum letzten Schlaf sich ein;
Und bald hat ein Geräusch ihn aufgeschreckt:
Ein flüchtig scheues Renn durchfliegt den Tann,
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Ein Schuß – es liegt zu Boden hingestreckt.
Und dort erscheint er, der den Schuß getan,
Der Sträfling, dessen Anblick sonderbar
Den Unerschrockensten verwirren kann.
Er starrt ihn an und zweifelt, ob sich dar
Errettung bietet, oder ihn bedroht
Vom wilden Schützen andere Gefahr?
Und schnell bestimmt den Zweifelnden die Not:
»Blick her und übe du Barmherzigkeit,
Ein Mensch wie du erwartet hier den Tod.
Gib auf den Weg zur Stadt mir dein Geleit,
Ich bin verirrt.« Drauf jener: »Hör ein Wort:
Die Nacht wird dunkel und der Weg ist weit.
Nicht aber fern ist meine Jurte dort;
Geschlagen hat auch dich des Schicksals Tücke,
Es bietet dir mein Elend einen Port.
Da ruhest du und hoffst und träumst von Glücke,
Ich aber ruhe, hoffe, träume nicht,
Und scheint der Morgen, führ ich dich zurücke.«
Und ob den Worten staunend, die der spricht,
Erhebet Müller sich und folgt dem Alten,
Der durch die Wildnis ihm die Bahnen bricht.
Beschwerlicher wird stets der Pfad zu halten;
Sie schreiten schweigend zu, der Urwald schweigt,
Nachhallend nur von frostgerißnen Spalten.
Die Nacht hat sich gesenkt, die Kälte steigt,
Und Müller unterliegt den Mühen fast,
Als spät und einsam sich die Jurte zeigt.
Sie treten ein; der Jäger sorgt mit Hast
Des Feuers Macht aufs neue zu beleben,
Die knisternd bald das dürre Reisig faßt.
Und wie die Flammen lodernd sich erheben,
Erschimmern an den Mauern Waffen blank,
Die ringsher Widerschein der Lohe geben.
Der Wirt beschickt die Lampe, rückt die Bank
Dem Herde näher und den Tisch herbei,
Den er versorgend deckt mit Speis und Trank.
Er grüßt den Gast; es setzen sich die zwei,
Der Wärme sich zu freuen und der Speise,
Und aus dem Herzen quillt die Rede frei.
Gar inhaltschwere Worte läßt der Greise
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In dieser weltvergeßnen Wildnis hallen,
Die Nachklang wecken möchten aus dem Eise:
»Du bist ein Deutscher; alle Schranken fallen,
In denen ich vor Russen mich verbaut,
Die Sprache meines Herzens darf erschallen.
Und nun erschreckt mich meiner Stimme Laut,
Der halbvergessen spät herauf beschwört
Den Traum, dem jung und gut ich einst vertraut.
Dich hat nicht so wie mich der Traum betört,
Doch träumt ihr auch im Schlaf, wann mächt'gen Klanges
Ihr Deutsche solches Wort erdröhnen hört.
Du wirst mich fassen. Freiheit! Freiheit! klang es
Am Dnjeper durch die Ebnen wundervoll;
Der Ton erweckte mich, mein Herz verschlang es.
Des manngewordnen Jünglings Busen schwoll,
Ich fand dem Heldenfürsten mich gesellt,
Aus dessen Mund der mächt'ge Ruf erscholl.
Erkenne, den das Elend so entstellt, –
Ich war Mazeppas Freund in meinen Tagen,
Und Woinarowski nannte mich die Welt.
Nicht langsam schmerzlich will ich wieder sagen,
Was in das Buch mit ehrnem Griffel schon
Der Genius der Zeiten eingetragen.
Man weiß genug, wie Karl, des Sieges Sohn,
Verwegen unsern Zwingherrn lang bekriegte,
Und fast erschütterte der Zaren Thron.
Wie noch mit unserm Blut der Schwede siegte,
Als wir Ukrainer schlugen seine Schlachten
Und falsch die Hoffnung kurze Zeit uns wiegte.
Weh über uns! daß wir an Fremde dachten,
Wo eigne Kraft für eignes Recht nur galt;
Ein Bund der Sünde war es, den wir machten.
Pultawa, deine Donner sind verhallt,
Ein Flüchtling ist der Schwede, wir vernichtet
Erliegen zähneknirschend der Gewalt.
Kein Kreuz steht auf dem Hügel aufgerichtet,
Worunter du, Mazeppa, moderst nun,
Dem Türken um die Spanne Grund verpflichtet.
Mir ward es nicht zu Teil bei dir zu ruhn;
Der deinen letzten Hauch ich eingesogen,
Ich hatte nichts beim Türken mehr zu tun.
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Als sich gelegt des wilden Krieges Wogen,
Wollt ich zu meinem Weibe heim mich schleichen,
Von namenloser Sehnsucht hingezogen.
Mein armes Land! ein Anblick sonder Gleichen!
Rings lagen ausgestellt zum Fraß den Raben
Der Besten meines Volks zerteilte Leichen.
Wie Wut ich bei dem Anblick weinte, haben
Die Schergen mich ergriffen, fortgeführt,
In diese Wüstenei mich zu vergraben.
Ich glaube, daß du weinst, du bist gerührt;
Ich habe solchen Tau seit vielen Jahren
In diesen dürren Höhlen nicht verspürt.
Als ich gewürfelt mit dem großen Zaren,
Und Lieb und Haß im Busen noch gestrebt,
Da hab ich wohl gewußt, was Tränen waren.
Ich bin erstorben nun, und kaum erhebt
Sich schweifend noch mein Blick nach Westen hin,
Das Land begehrend, wo ich einst gelebt.
Und doch, wie immer ich gebrochen bin,
Wie meine Brust erkaltet und zerrissen,
Es glimmt der heil'ge Funken noch darin.
Du Guter, hast in meinen Finternissen
Teilnehmend und gerührt auf mich gesehen;
Du sollst mein heimlich Heiligstes noch wissen.
Komm mit hinaus. – Dort wo die Föhren stehen,
Des Mondes Sichel wirft den blassen Schein,
Dort wirst das dunkle Kreuz du ragen sehen.
Ich lade dich zur Lust des Schmerzens ein,
Die letzte, heil'ge, so ich treu erfunden;
Du bist am Ort, hier ruhet ihr Gebein.
Als von der Heimat spurlos ich verschwunden,
Hat sich mein Weib mit Liebesheldenmut
Mich in der Welt zu suchen unterwunden.
Und irreschweifend hat sie nicht geruht,
Zwei Jahre sind der Dulderin verstrichen,
Bis sie gefunden ihr verlornes Gut.
Doch ihre schon verzehrten Kräfte wichen,
Und als der Winter kam, da ging's zu Ende,
Da ist in meinen Armen sie erblichen.
Hier haben aufgerissen meine Hände
Den harten durchgefrornen Schoß der Erde,
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Und ihr gegeben meine letzte Spende.
Und hier, bei meinem Lieb- und Lebensherde,
Hier ist es, wo ich dir auf heil'gem Grunde
Mein andres Heiligtum vertrauen werde.
Die letzten Worte, die mit blassem Munde
Mazeppa vor dem staunenden Genossen
Prophetisch ausrief in der Sterbestunde:
›Was wir geträumt, noch war es nicht beschlossen;
Laß eine Zeit noch laden Schuld auf Schuld,
Sich dehnen und entkräften den Kolossen;
Umfassen eine halbe Welt – Geduld!
Im Spiegelschein der Sonnen eitel schimmern
Das Herz von Übermut geschwellt – Geduld!
Ihn wird der Zorn des Himmels doch zertrümmern.
Gott heißt Vergeltung in der Weltgeschichte
Und läßt die Saat der Sünde nicht verkümmern.‹«
Der Alte schwieg. Auf seinem Angesichte,
Dem schaurig wiederum erstarrten, schwand
Der Strahl, der es erhellt mit flücht'gem Lichte.
Und Müller wunderbar ergriffen stand
Gedankenvoll zur Seite dem Gefährten,
Und drückte stumm dem Schweigenden die Hand.
Die beiden endlich sich besinnend, kehrten
Zur Siedelei zurück, wo halbverglommen
Des Herdes letzte Gluten sich verzehrten.
Da sprach der Greis; »Laß itzt den Schlaf dir frommen,
Der mich vergessen hat seit langen Jahren;
Die Nacht verstreicht, der junge Tag wird kommen;
Der führt zurück dich zu der Menschen Scharen,
Wo dieser Nacht Erinnrung dir verbleicht;
Ich werd im wunden Herzen sie bewahren.«
Vergessen mochte Müller nicht so leicht;
Er hat ihn oft besucht, und oft dem Sohne
Der Schmerzen lindernd milden Trost gereicht;
Hat vor der Zarin Anna höchstem Throne
Für ihn gebeten, und für sich begehrt
Des Alten Gnade nur zu eignem Lohne.
Als wiederum der Winter wiederkehrt,
Wird Antwort von der Zarin ihm zu Teile:
»Dir ist, was du gebeten hast, gewährt.«
Die Lust des Glücklichen kennt keine Weile,
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Nach jenem Walde hin! er hält sich kaum,
Betreibend schnell die Fahrt mit freud'ger Eile.
Die Narte rennbespannt durchfliegt den Raum,
Sie macht im Walde vor der Jurte Halt;
Er überläßt sich noch dem süßen Traum.
Er ruft dem Freunde zu; der Ruf verhallt –
So schaurig stumm, die Türe dort verschneit! –
Er tritt hinein: das Innre leer und kalt. –
Kein Feuer brannte hier seit langer Zeit;
Er späht umher: des Jägers Waffen hangen
Vollzählig, wohlgeordnet dort gereiht.
Wo ist, der hier gehauset, hingegangen? –
Er suchet ihn mit düstrer Ahnung Schauern
Am Grab, das seines Herzens Herz empfangen.
Wie Bilder auf der Fürsten Gräbern trauern,
So sieht er sonder Regung dort gebannt
Ein Jammerbild am Fuß des Kreuzes kauern.
Gestützt auf beide Hände, hingewandt
Gen Westen, starr das Angesicht, das bleiche:
Das war, den Woinarowski man genannt.
Schon halb verschüttet war vom Schnee die Leiche.

Fußnoten

1 Das Gedicht Woinarowski von Relejeff, seinem Freunde Bestujeff zugeeignet, erschien zu St. Petersburg im Jahre 1825. Relejeff bestieg bald darauf als Verschworener und Empörer das Blutgerüst, und Bestujeff ward nach Sibirien verbannt.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Chamisso, Adelbert von. Gedichte. Gedichte (Ausgabe letzter Hand). Sonette und Terzinen. Die Verbannten. 1. Woinarowski. 1. Woinarowski. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4EC7-8