Waldmorgen

Noch steht in Glanz der Morgenstern,
Noch deckt die Nacht die Lande:
Nur dort, ganz leis, im Osten fern,
Grau-gelblich steigt's am Rande.
Empor vom Pfühl! Hinaus zum Tor,
Eh' noch Frau Sonne blitzt empor:
Zum Walde will ich eilen
Und sein Erwachen teilen.
O Wunder du – Mittsommernacht!
Du preisest Gott nicht minder,
Als lauten Tages schwüle Pracht,
Nur leiser, duft'ger, linder.
In Lüften hoch der wilde Schwan
Zieht, sehnsuchtsingend, seine Bahn,
Und still durch Busch und Bäume
Gehn ahnungsvolle Träume.
Da regt sich heil'ger Schauer leis
Und schüttelt alle Wipfel,
Wie Ehrfurcht haucht es wunderweis:
Denn schon vom Bergrandgipfel
Schießt fern ein Glanz: es naht das Licht:
Da sinkt Natur aufs Angesicht
Und ehrt mit heil'gem Beben
Gott, der das Licht gegeben.
[509]
Ja, Heil'ges ist, wohin ich schau!
Der Morgenwind ist heilig,
Und heilig ist der Morgentau
Und Goldschrift tausendzeilig,
Die nun erblaßt vor höh'rem Glanz:
Denn nun erschließt der Herrgott ganz
Das Tor der Wolkenfeuchte,
Daß hell die Sonne leuchte.
Da, hoch aufwitternd, aus dem Tann
Der Rothirsch zieht zur Tränke:
Das Häslein legt die Löffel an,
Gleichwie wenn's überdenke,
Ob's noch ein wenig schlummern mag:
Dann schießt's mit hohem Satz zu Tag,
Denn hoch ob Schäfers Pferche
Singt schon die Heidelerche.
Denn diese schlägt das Tagelied
Lang', eh' die andern kommen:
Jüngst sang ein Mann, der log und riet,
Was nie er selbst vernommen,
Der frühste Ton sei Finkenschlag!
Da haben beide in den Tag,
– Ich muß sie Lügen strafen, –
So Mann wie Fink' geschlafen.
Erst Heidelerche, fromm und klar,
Feldlerche dann und Wachtel,
Rotbrust und Rotschwanz, Paar um Paar,
Dann, später um ein Achtel,
Zaunkönig klein, Baumpieper hell:
Der Amsel folgt die Drossel schnell,
Der Kuckuck säumt nicht länger,
Dann schnalzt der Fliegenfänger: –
[510]
Und jetzt erst schlägt der faule Fink':
Bald zetert schrill der Häher,
Der Ringeltäuber rückt nun flink
Im Nest der Täubin näher,
Und Rukuruh! hallt's durch den Tann:
Jetzt hebt's von allen Zweigen an.
So geht der Vöglein Psalter:
Wer's leugnet, irrt, spricht Walther.
Nicht streit' ich gern, noch rühm' ich mich:
Doch muß in Einem Dinge
Der Mann als Meister wissen sich,
Sonst ist sein Wert geringe.
Und Vogelkunde – mit Vergunst –
(Doch auch ein wenig Harfenkunst),
Wer die mir will bestreiten –:
Ein Schwert blitzt mir zur Seiten.
Doch unterdes ich stritt und schalt
– Ganz einsam, sonder Feinde, –
Ward jubelnd wach im weiten Wald
Die ganze Singgemeinde:
Und prächtig rot im Morgenschein,
Verjüngt, strömt hin der alte Main,
Und Erd' und Himmel strahlen
Gleich schimmernden Opalen.
O junger Tag, wie bist du rein,
Gleich heitrer Menschenkindheit!
O bliebe bis zum Abendschein
Dir diese kühle Lindheit:
Laß dieser Stunde Reine nun,
Gott, tief mir in der Seele ruhn:
Taufrisch sei'n meine Pfade:
das spende deine Gnade!
[511]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Dahn, Felix. Gedichte. Balladen. Drittes Buch. Walther von der Vogelweide. Waldmorgen. Waldmorgen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-6863-F