[101] Eva und der Tod

Der Wintermorgen schien ein Frühlingsmärchen;

der Reif der Zweige sproß im Sonnenschein

am blauen Himmel hin wie Blütenpärchen.


Ein Lüftchen, das sich hob und stumm verfing,

trieb Silberflocken von den hohen Ulmen

des langen Weges, den ich einsam ging.


Ich hörte noch, daß fern ein Schlitten schellte,

dann wurde Schweigen auf dem schweren Schnee;

ich schritt und sann und fühlte nichts von Kälte.


Denn gestern war mir ein geliebtes Wesen

nach heißer Seelennot und Leibesqualen

von einem Sohn, nicht meinem Sohn, genesen.


[102] Und der das Kind von ihr entgegennahm,

empfing ein Pfand des Lebens, nicht der Liebe,

sie aber gab es mit zu später Scham.


Ich suchte tief nach trübem Dankesworte,

da sah ich fern am Ende meines Weges

auf einmal eine schwarze Gitterpforte.


Zu ihren Seiten dehnten sich zwei Mauern,

die waren überwipfelt von Cypressen,

ihr starrer Wuchs erfüllte mich mit Schauern.


Und aus der Pforte traten schwarz und groß

und langsam nach einander sieben Männer;

die kamen langsam, schweigsam auf mich los.


Aus fremdem Lande schienen sie zu sein,

die langen Mäntel, breite weiße Kragen,

und plötzlich rief ich außer mir: Nein! Nein!


Doch aus der Pforte trat da schon ein achter,

der war ganz dürr und größer als die andern,

und stand und nickte, sacht, und immer sachter.


[103] Und eisig lief es mir durch Blut und Bein:

die sieben wollen sich mein Liebstes holen.

Ich stand und bettelte und bebte: Nein!


Und seh durch Thränen, wie die schwarzen Schemen

den Sonnenschein verdunkeln und den Schnee,

und glaube fern ein Lachen zu vernehmen.


Und als ich mir die Augen mühsam reibe,

steht hoch ein nacktes Weib vor jenem Gitter,

mit schwarzem Haar und Blick und braunem Leibe.


Und lacht ganz hell und winkt dem dürren Mann

und hebt im andern Arm ein zappelnd Kindchen

und sieht mich fernher lebensselig an.


O dieses Blickes Herrlichkeit und Hohn,

nur Einer hätte Das wie Ich empfunden:

Du Einziger, mein Detlev, Liliencron!


Ich seh den Dürren ihr entgegenstelzen:

er bückt sich – widerwillig – er verschwindet –

zu ihren Füßen scheint der Schnee zu schmelzen.


[104] Die ganze Landschaft schmilzt, das kleine Kind

schwimmt riesengroß auf sieben schwarzen Strudeln

und lacht mich aus – Mensch! Detlev! war ich blind?


Ich selber lache! meine Wimpern tropfen:

die sieben sind ja nichts als Leichenträger,

die sonst Schuh flicken oder Hosen stopfen!


Und jenes Weib, das ist ja nur die Frau

des Totengräbers, und ihr brauner Kittel

ist keine Haut, ich seh es ganz genau!


Du aber lebst mir, und der Himmel blaut,

und bald ist Frühling, und du wirst mich küssen

trotz deines Sohns, du meine braune Braut!

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TextGrid Repository (2012). Dehmel, Richard Fedor Leopold. Gedichte. Weib und Welt. Eva und der Tod. Eva und der Tod. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/