[267] Wiegenlied

Sey willkommen, holder Engel!
In der ersten Lebensblüthe.
Kleines, allerliebstes Wesen!
Sey dem Freunde deines Vaters
Tausend, tausendmal willkommen!
Edler Hauch der Gottheit! lerne
Deiner zarten Körperhülle
Nach und nach dich zu gewöhnen!
Blicke bald nach deiner Mutter,
Die auf deinen Wangen lächelt:
Blicke bald nach deinem Vater,
Der in deinem Auge lebet;
Schmiege dich bald an den weichen
Busen, dem du dich entwandest,
Und umschling mit frohem Stammeln
Deiner Mutter sanften Nacken.
Wann nun dein bemühter Vater
Dem Gedränge seiner Pflichten
Auf ein Weilchen nur entschlüpfet,
Und sich deiner Mutter nahend
Dich von ihrem Halse fodert,
[268]
Damal sträube dich ein wenig
(Denn dieß müßen junge Schönen),
Bis er mit Gewalt dich raubet.
Aber dann, o Engel! küß' ihm
Seine männlichbraunen Wangen,
Küß' ihm weg den Philosophen,
Küß' ihm weg den Staatsgelehrten,
Küß' ihm alles aus der Seele,
Was ihm noch vom Krieger anhängt,
Daß er nichts als Vater bleibe. –
Doch ich singe schon zu lange.
Du beginnest einzuschlummern.
Sollte dieß mein Liedchen wirken? –
Ja! dieß wirken manche Lieder. –
Schlumm're süß, mein holder Engel!

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TextGrid Repository (2012). Denis, Michael. Gedichte. Gedichte. Wiegenlied. Wiegenlied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-7EA8-4