[145] Die sechste Reise 1

Das Grau der Vorzeit hellt sich dem Barden auf.
Er sieht. Ein Sprößling laubt sich vor ihm empor,
Unüberpflanzt, in eig'nem Grunde,
Strecket er Wipfel und Nebenzweige,
Wird Baum, erzeuget Aeste. Sein waldig Haupt
Erraget Wolken, schattet Gebirgen selbst.
Rhein, Weser, Elbe, Weichsel, Donau
Tränken die Tausende seiner Wurzeln.
Er blüh't, und reifet Samen. Der Winde Zug
Verträgt die reifen Körner in Ost und West
Und Süd und Nord. Vom Mutterstamme
Fallen sie ferne, gewinnen Erde.
Ein Korn (vergeßt, o Söhne von Teut, es nicht!
Sind schon dazwischen lange Jahrhunderte)
Flog einst den Rhein hinüber, grub sich
Keimend in sonnenerhitzte Schollen,
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Und trieb Geschoß und Wipfel, und eiferte
Mit seinem Mutterstamme. Gar oft erscholl:
»Und wer, wer ist denn meine Mutter?«
Aus des erregteren Wipfel's Höhen.
Da stürzten Felsenklumpen, dem Wanderer
Unübersteigbar, gräßlich an's Ufer her,
Und jeder Uebergang des Rheines
Barg sich in feindliche Dorngebüsche.
Therese kam. »Wie lange schreckt es noch
Am Rheine?« war ihr Wort, dem Mann' ein Wink,
Der ihre große Seele ganz versteht 2.
Er sah' der Felsenklumpen wilden Sturz,
Der Dorngebüsche feindliches Gewirr'
Mit jener stillen Geisteshoheit an,
Die seiner Herrscher ihn so würdig macht.
Sie schwanden weg.
Wie sollten sie nicht schwinden?
Denn mußte nicht Antonia,
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In welcher sich verjüngt die Göttermutter sah,
Den Weg gebahnet finden,
Um an des Frankenkönig's Hand
Zwei Völker durch ein ewig Band
Der holden Eintracht einzuweih'n,
Und Deutschland's Ehre, Frankreich's Lust zu seyn?
Holder Sonnebot!
Letzter aller Sterne,
Schweb' hinan! Der Tagesgott
Folget dir aus heller Ferne.
Er kömmt! Zwar will er seine Stralen decken,
Sucht Dunkel um sich her zu streu'n.
Allein, wie kann des Lichtes Urquell Schatten wecken,
Er, was er ist, nicht seyn?
Sein klein Gefolg – ja klein, wenn Arbeitsliebe,
Wenn Einsicht, Klugheit, Mäßigkeit,
Wenn Wißbegier und Menschenhuld zurückebliebe,
Das herrlichste Geleit,
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Das schon heran vom nachbarlichen Rheine
Den niegeseh'nen Fremdling schmückt,
Und mehr, als Purpur, Silber, Gold und Edelsteine
Der Franken Aug' entzückt.
Sie steh'n geblendet, rufen: »Dieser wäre,
Der Deutschlands hohen Machtstab hält!
Herr ungezählter Völker, ungezählter Heere,
Der erste dieser Welt?
Er wär' es, den wir ruhig wandeln schauen
Von Menschenfluthen weit umringt,
Als ging' er, fernes Wien! in deinen Frühlingsauen,
Wo jede Kehl' ihn singt?
Er wär's, auf dessen heit'rem Angesichte
Die Güte seelefassend wohnt,
Den Gruß zurücke gibt, dem mindesten Berichte
Mit holdem Danke lohnt?
Er, der in Ludwig's Burg mit gleichem Fuße,
So, wie in Pflügerhütten, steht,
Und von der zartgeliebten Schwester Herzenskusse
Zu siechen Armen geht?
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Nun zusieht, wie gereizt von Waffenruhme
Das Feld im Lustgefechte blitzt,
Nun in der Kunst und Weisheit stillem Heiligthume
Mit Lehrlingsblicke sitzt,
Und nun von Jedem, was er sieht und höret,
Mit solcher Meistereinsicht spricht,
Daß, wer den Einzigen nicht kennen sollte, schwöret:
Er hat nur diese Pflicht! –
Ha Franz und Heinrich, und ihr Ludewige!
Werth bleibt ihr ewig uns und groß;
Doch gönnt der Sonne, die nun stralet, ihre Siege!
Sie stralet mackellos.«
So schallt es von den Thürmen an der Seine
Den fernen Pyrenäen zu,
Und kreis't an zweien Meeren, kehret zu dem Rheine.
Mein Deutschland! horchest du?
Beim Zeugnisse so vieler fremden Zungen
Wie hoch muß dein Entzücken seyn!
Noch einmal sei's empfunden, einmal noch gesungen:
O Fürst! so groß – und mein!
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Heil allen Herrschern, die in seinen Tagen
Allvaters Hand der Erde lieh!
Durch seinen Aufschwung wird ihr Stand emporgetragen.
In Joseph glänzen sie.
Und Heil uns allen deutschen Biederleuten!
Der fühl' ihn mit, der fühlen kann,
Groß ist der Stolz und schön: Ich lebe Joseph's Zeiten,
Bin selbst sein Unterthan!
O Fürst und Mensch! – O Tugendfreund und Weiser,
Der größten Mutter größter Sohn!
Es lohnet Harfe – nein, für einen solchen Kaiser
Hat Harfe keinen Lohn!
So sang ich seine sechste Reise. Doch
Ich fühle, daß mit jeder Reise sich
Mein Adler immer mehr dem Blick' entschwingt.
Mein Spiel erschlafft, und meine Stimme bricht.
Wer hielt's auch mit dem Unerreichlichen?
Ich müßte Joseph unter Barden seyn,
So wie er Joseph unter Fürsten ist.

Fußnoten

1 Nach Frankreich, 1777.

2 Der Fürst, Hof- und Staatskanzler.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Denis, Michael. Gedichte. Gedichte. Josephs Reisen. Die sechste Reise. Die sechste Reise. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-7EAE-7