[105] [296]Uber die Tyranney der deutschen Dichtkunst
Ihr Musen helft! Der Verse Tyranney
Ist allzu schwär. O macht uns endlich frey!
Uns plagt ja schon mit seinem Schellenklang
Der Feind von Geist und Witz, der Reim, zu lang,
Der, von den rauhen Barden ausgeheckt,
Die strenge Herrschaft bis auf uns erstreckt.
Was schreibt doch noch der deütsche Dichter-Chor
Für eine Versart sich zur Strafe vor;
Ein Doppelvers, erdacht zu unsrer Pein!
Zu groß für Einen und für Zween zu klein.
Je mehr er hat, je mehr ihm stets gebricht.
Zwelf Füsse helfen ihm zum lauffen nicht.
Ihn macht dem Ohr kein Wechsel angenem,
Und kein geschicktes Maß dem Sinn bequem.
[296]Er trabt betrübt daher mit schwärem Schritt.
Ein gleicher Tact bestimmt ihm jeden Tritt.
Beym Sechsten stellt auch, wenn er lauffen will,
Das strenge Reimgesätz ihn immer still.
Vernunft und Witz entweicht vor seinem Zwang,
Und findt ihn bald zu kurz, und bald zu lang;
Und, wenn sein Tic und Tac beständig schallt,
Gleich einer Glocke, so entschläft man bald.
Schau, wie so oft ein Dichter ängstlich ringt,
Bis nach den Regeln ihm ein Vers gelingt!
Er martert sich, verdreht, versetzt, verschränkt;
Der Sinn wird schwach; die Sprache wird gekränkt.
Ein Einfall fließt. Doch kan er nicht bestehn.
Warum; Zween Füsse fehlen noch zu Zehn.
Was ist zu tuhn? Ein Flickwort kömmt herbey,
Daß die geschworne Zahl nur richtig sey.
Die Zahl ist ganz. Das Werk will doch nicht fort.
Der Abschnidt fällt nicht recht auf seinen Ort.
Nach langer Müh gebihrt man eine Brut,
Von Wind und Luft erfüllt, für Geist und Blut.
Und ist sie nicht an Kraft und Geiste leer,
So zeigt ihr Leib den Zwang nur desto mehr.
Was Wunder! daß der Britten feiner Ohr
Ein Reimgebände sich vorlängst erkohr,
Das, nicht so sehr vom Regelzwang beschränkt,
Sich nach des Dichters Wunsch bequemer lenkt,
Bald hier, bald dort den Abschnidt wechselnd stellt,
Und, wie die Regung will, so laüfft, als hält.