Der zu früh geborene Dichter

Acht Tage zählt' er schon, eh ihn
Die Amme konnte stillen,
Ein Würmchen, saugend kümmerlich
An Zucker und Kamillen,
[106]
Statt Nägel nur ein Häutchen lind,
Däumlein wie Vogelsporen,
Und jeder sagte: »Armes Kind!
Es ist zu früh geboren!«
Doch wuchs er auf, und mit der Zeit
Hat Leben sich entwickelt,
Mehr als der Doktor prophezeit,
Und hätt' er ihn zerstückelt;
Im zähen Körper zeigte sich
Zäh wilder Seele Streben;
Einmal erfaßt – dann sicherlich
Hielt er, auf Tod und Leben.
In Büchern hat er sich studiert
Hohläugig und zuschanden,
Und durch sein glühes Hirn geführt
Zahllose Liederbanden.
Ein steter Drang – hinauf! hinauf!
Und ringsum keine Palme;
So klomm er an der Weide auf
Und jauchzte in die Alme.
Zwar dünkt ihn oft, bei trübem Mut,
Sein Baldachin von Laube
So köstlich wie ein alter Hut,
Wie 'ne zerrissne Haube;
Allein dies schalt man »eitlen Drang,
Mit Würde abzutrumpfen!«
Und alles was er sah, das sang
Herab vom Weidenstumpfen.
So ward denn eine werte Zeit
Vertrödelt und verstammelt,
Lichtblonde Liederlein juchheit,
Und Weidenduft gesammelt;
Wohl fielen Tränen in den Flaum
[107]
Und schimmerten am Raine,
Erfaßte ihn der glühe Traum
Von einem Palmenhaine.
Und als das Leben ausgebrannt
Und fühlte sich vergehen,
Da sollt' wie Moses er das Land
Der Gottverheißung sehen;
Er sah, er sah sie Schaft an Schaft
Die heil'gen Kronen tragen,
Und drunter all die frische Kraft
Der edlen Sprossen ragen.
Und Lieder hört' er, Melodien,
Wie ihm im Traum geklungen,
Wenn ein Kristall der Gletscher schien,
Und Adler sich geschwungen;
Durch das smaragdne Riesenlaub
Sah er die Lyra blinken,
Und über sie gleich goldnem Staub
Levantes Äther sinken.
O, wie zusammen da im Fall
Die alten Töne schwirrten,
Im Busen die Gefangnen all
Mit ihren Ketten klirrten!
»Ha, Leben, Jahre! und mein Sitz
Ist in den Säulenwänden,
Auch meine Lyra soll den Blitz
Durch die Smaragden senden!«
Ach, arme Frist, an solchem Schaft
Mit mattem Fuß zu klimmen,
Die Sehne seiner Jugendkraft,
Vermag er sie zu stimmen?
Und bald erseufzt er: »Hin ist hin!
Vertrödelt ist verloren!
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Die Scholle winkt, weh mir, ich bin
Zu früh, zu früh geboren!«

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TextGrid Repository (2012). Droste-Hülshoff, Annette von. Gedichte. Gedichte (Die Ausgabe von 1844). Gedichte vermischten Inhalts. Der zu früh geborene Dichter. Der zu früh geborene Dichter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-84CA-B