[146] Die Tote

Wenn in Frankreich der König stirbt, so ruft der Herold vom Schlosse herunter: »Der König ist tot, es lebe der König.« Der König ist unsterblich, mag der zufällige Träger der Krone auch, wie jeder Mensch, dem Irdischen seinen Zoll zahlen.

Zu den vielen Ähnlichkeiten, die der Komödiant mit dem König hat, gehört auch die, daß er gleich ihm unsterblich ist. Silvie, die reizende, kindliche, unschuldige Silvie ist gestern gestorben; heute steht sie schon wieder auf der Bühne, in all ihrem Reiz, ihrer Unschuld und Kindlichkeit. Wen kümmert es, wie sie früher hieß, ehe sie zum Theater kam, wie die Silvie, die gestern gestorben ist, früher hieß – falls sie beide überhaupt je eine Zeit in ihrem Leben hatten, wo sie nicht beim Theater waren, wo sie nicht Silvie hießen. Ja, sind sie denn überhaupt zwei verschiedene Mädchen? Die Ludwige und Heinriche in Frankreich unterscheidet man durch Zahlen, die man hinter ihren Namen hängt; aber man spricht nie von einer Silvie der vierzehnten oder fünfzehnten, man spricht immer nur von Silvien; die neunzigjährigen Greise mit Filzschuhen und Nasentropfen haben als junge Leute, wo sie täglich reine Wäsche anzogen, schon Silvien spielen sehen, wie sie das Händchen auf die Stelle legt, wo ihr kleines Herzchen pocht, wie sie sich entfärbt und Tränenbäche aus ihren Augen stürzen – die Greise beschwören, daß sie sich entfärbte und daß Tränenbache stürzten – und wenn die Jünglinge von heute neunzigjährige Greise sein werden, dann wird immer noch die sechzehnjährige Silvie das Händchen auf das Herz legen.

Die Probe ist beendet, es ist niemand mehr auf der Bühne als Silvie, der Dichter und der junge Offizier, der Silvien liebt.

Der Dichter ist nicht mehr ganz jung; schon sind einzelne graue Haare in seinem Bart und Haupthaar zu sehen, zeigen [147] sich an den Augenwinkeln kleine, feine Runzeln. Aber sein Blick ist noch jung, seine Bewegungen, sein Lachen – und auch sein Weinen, sein Glauben und Hoffen; das sagt er selber. Silvie, die sechzehnjährige Silvie, sagt von ihm: »Das ist eben der Reiz bei dem Menschen; so ein kluger Mann ist er, der so viel weiß, und dabei ist er wie ein Kind.«

Der Dichter sagt: »Dort hängt ein altes rostiges Blech an einem Bindfaden; daneben liegt ein abgebrochener Spazierstock. Das ist die Donnermaschine. Für einen Soldo Kolophonium liefert Blitze für zehn Vorstellungen. Jener Sturzbach, der wild vom Felsen herabschäumt, ist aus zerknittertem Silberpapier gemacht. Und was sind unsere Gefühle, die Gefühle der Komödianten? Wenn ein rostiges Blech und eine Prise Kolophonium ein Gewitter erzeugt, was ist dann die Leidenschaft eines Künstlers?«

Silvie blickt verlegen den jungen Offizier an; sie hat noch nie über so etwas nachgedacht; aber sie läßt wenigstens ihre reizenden Füßchen in den ausgeschnittenen Lackschuhen auf seinen rindledernen Stiefeln spielen. Der Offizier bürstet sich mit seiner Taschenbürste den Schnurrbart hoch und erwidert: »Ich war Adjutant bei dem großen Helden, der die Schlacht bei Nördlingen gewonnen hat.« Wie sie begann, da stand er von Tisch auf, wischte sich den Bart und sagte: »Noch nicht einmal die Morgensuppe lassen einen die Kerle in Ruhe fressen.« Silvie lacht, obwohl ihr der Zusammenhang nicht klar wird.

Der Dichter fährt fort: »Ich bin älter, Kinder, als ihr beide zusammen. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann kann ich schon eine schöne Strecke sehen. Was ist mir geblieben? Ich habe oft mit Silvien hier gesessen, mit der, die gestern gestorben ist; wir haben nicht gesprochen; sie war ein gutes Mädchen. Weshalb wir eigentlich hier saßen, weiß ich nicht. Aber das habe ich nun in der Erinnerung, als ob es das Wichtigste [148] in meinem Leben gewesen wäre. Natürlich, vorgestern saßen wir noch hier zusammen; es ist eine so kurze Zeit seitdem verflossen. Morgen wird man sie nun begraben; ich denke noch zuweilen an sie; aber sonst ist es, als ob sie nicht gelebt hätte.«

Silvie wischt sich die Augen und sagt: »Sie hat mir alle ihre Kleider vermacht; es war ein ganzer Koffer voll, und sie hatte sehr schöne Sachen. Dieses Kostüm, das ich heute trage, ist ja auch von ihr.«

Der Dichter sieht sie prüfend an, dann spricht er: »Ja, ich erkenne das Kleid. Dieses Band, das über dem Herzen zu einer Schleife geschlungen ist, habe ich ihr geschenkt. Sie hatte sich das Kleid selber genäht, dann sagte sie zu mir: ›Nun ist alles fertig, nur ein rotes Bändchen fehlt noch, das kommt gerade über dem Herzen zu sitzen, das sollst du mir schenken.‹ Ich hätte ihr ja gern ein ganzes Kleid geschenkt, denn sie war ein gutes Mädchen, aber ich hatte doch kein Geld; das Bändchen konnte ich ihr kaufen. So, nun trägst du das Kleid mit dem Bändchen! Merkwürdig. Auf welche Ideen die Mädchen kommen! Eine andere hätte sich das ganze Kleid gewünscht, wenn sie auch wußte, daß ich kein Geld hatte.«

»Habt ihr denn immer geschwiegen, wenn ihr beisammensaßet?« fragt Silvie. »Wir Andern haben oft heimlich über euch gelacht.«

»Nein, zuweilen erzählte sie auch und fragte«, erwiderte der Dichter. »Sie erzählte mir oft: ›Coraline liebt dich‹, oder auch: ›Bettinette hat sich immer nach dir umgesehen.‹ Sie dachte immer, jedes Mädchen ist in mich verliebt. Ich lachte dann und sprach: ›Ich bin nicht zum Verlieben. Ich bin immer allein gewesen.‹« Silvie blickte still in ihren Schoß. »Wahrhaftig,« fuhr der Dichter zu ihr gewendet fort, »ich glaube, wenn sich wirklich einmal eine in mich verliebte, ich merkte es gar nicht.«

[149] »Ich glaube auch«, sagt ernsthaft Silvie; der junge Offizier lacht; sie wirft ihm einen Blick zu, der ihn erstaunt.

»Ja,« sagt der Dichter, »ist es denn so wichtig, ob wir nun in der Wirklichkeit etwas erleben oder nicht? Was hat dein Feldherr erlebt, als er die Schlacht gewann, was erlebt der Schauspieler, der vielleicht jeden Monat eine neue Liebesgeschichte anspinnt? Ich habe nichts erlebt. Aber nun erinnere ich mich, wie ich hier mit Silvien saß, die nun tot ist; alle Schauspieler waren fortgegangen, wie jetzt; wir waren ganz allein; ich saß auf diesem Stuhl, sie auf dem Bänkchen mir zu Füßen; sie hatte den Arm auf mein Knie gestützt, spielte mit dem roten Bändchen, das ich ihr geschenkt hatte. Der Sonnenschein fiel so, wie jetzt, durch das kleine Fenster schräg auf die Bühne; wir sahen die Sonnenstäubchen tanzen und wirbeln; leise faßte ich ihre Hände und pustete in den schrägen Schein, daß die Stäubchen ganz aufgeregt wurden; dann lachten wir; Silvie hatte so ein schönes Lachen, wenn wir zusammensaßen; schade, sonst hatte sie es nicht; auf der Bühne wäre es reizend gewesen. Einmal, weiß ich, lachte sie so, daß sie sich zuletzt mit beiden Händen die Augen zuhielt; dann ließ sie einen kleinen Spalt zwischen den Fingern und sah mich so schelmisch an, daß ich bei mir dachte, ich möchte sie eigentlich küssen. Aber ich habe es dann doch nicht getan; ich hätte sie erschreckt; sie hatte ja keine Ahnung, daß ich solche Gedanken bei ihr hatte. Ja, das ist nun alles gewesen, und nun ist sie tot. Und ist das nicht so, als ob sie mich geliebt hätte, und ich sie?«

Silvie schwieg, und der junge Offizier war merkwürdig verlegen. Er wischte an einem Flecken, den er auf seinem Ärmel hatte.

»Ich bin nun über fünfzig Jahre alt«, fuhr der Dichter fort. »Ich sehe, wie das Leben vorüberfließt. Du bist nun jung, Silvie; ach, wie manches Mädchen habe ich gesehen, jung wie du und schön und anmutig wie du; dann war es mißmutig [150] geworden oder gleichgültig; und wieder war ein junges Mädchen an der alten Stelle, heiter, zufrieden und anmutig. Auch Silvie ist ja nun tot; und nun bist du, und wo vorgestern noch Silvie saß, da sitzest du, und du trägst dasselbe Kleid, und mein rotes Bändchen, das ich ihr geschenkt, hast du über dem Herzen. Die Menschen, welche immer zu sehr an sich denken, sehen das ja nicht. Aber Silvie sah es auch. Sehr merkwürdig ist das alles.«

Der Dichter verabschiedete sich von den Beiden und ging. Und während er auf der Straße weiter schritt, dachte er, in welchem Irrtum doch die Menschen befangen sind, welche glauben zu leben, wenn sie bloß erleben; und er dachte bei sich: »Wie reich ist mein Leben, denn ich sehe doch alles, das um mich vorgeht, und sehe es genau, weil ich nie beteiligt bin.«

Der junge Offizier sagte zu Silvien: »Der Arme, das Leben wird immer an ihm vorbeigehen. Er sieht nichts. Er hat ja nicht gesehen, daß die tote Silvie ihn geliebt hat.«

»Solch ein Mensch ist er, daß Silvie ihn so geliebt hat, daß er es nicht merkte; so ist Silvie durch ihn geworden«, erwiderte nachdenklich das Mädchen.

Er schob scherzend seinen Arm um ihre Taille und sagte: »Wir wollen ihn träumen lassen, wir leben, wir beide, nicht wahr?«

Sie schüttelte sich leicht, nahm seine Hand und legte sie fort; dann sagte sie: »Laß mich, auch ich liebe ihn.«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Ernst, Paul. Erzählungen. Komödianten- und Spitzbubengeschichten. Die Tote. Die Tote. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A2C2-9