12.

Nordostwind hatten wir, die See ging hoch;
Die Wogen rollten an mit schäum'gem Kamme
Und spritzten gischend auf am Hafendamme,
Der Tag sah durch Gewölk, das flatternd zog.
Da schrittst auch du den Quaderpfad entlang,
Ins straffe Tuch die herbe Fülle schmiegend,
Den schlanken Leib auf leichten Hüften wiegend,
Beschwingt und fest der kleinen Füße Gang.
Und plötzlich fiel ein Strahl aus Wolken da
Und zeigt' auf deiner Stirne mir die Güte
Und zeigte mir im Auge dein Gemüte,
Das frisch und scheu doch in die Welt noch sah.
So standest du und sogest tief gestillt
Den feuchten, kühlen Hauch, von Wind und Wogen
Wie eine Meereslilie sanft gebogen,
Geschloßnen Mädchentums ein reizend Bild.
Mir aber schwoll das Herz, mein Atem flog,
Ich wußt', ich würde nie dich wiedersehen,
Und doch war mir so wohl, so wohl geschehen –
Nordostwind hatten wir, die See ging hoch.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Gedichte und Gedenkblätter. Lieder aus alter und neuer Zeit. 12. [Nordostwind hatten wir, die See ging hoch]. 12. [Nordostwind hatten wir, die See ging hoch]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B733-F