[262] Nausikaa

1858.


Als Odysseus fortgezogen
Heimwärts vom Phäakenstrand,
Und sein Schiff am Saum der Wogen
Fern im Abendrot verschwand,
Zu des heil'gen Felsens Zinne
Schritt empor Nausikaa,
Die mit kummerschwerem Sinne
Ihren Gastfreund scheiden sah.
Und wo schwarz die Fichten standen
Um Poseidons Säulenhaus,
In des Meeres dumpfes Branden
Lauschte bangend sie hinaus;
In geballten Wolken schwebend
Dräut' ein Wetter dort heran,
Und, die Arme fromm erhebend,
Hub sie so zu flehen an:
»Der du auf kristallnen Stufen
Thronst in heil'ger Finsternis,
Gott des Meers, vernimm mein Rufen
Und des alten Grolls vergiß!
Laß den Helden Rast gewinnen,
Der so glorreich kämpft' und litt!
Ach, mein Denken und mein Sinnen,
Meine Seele nimmt er mit.
Nie vergess' ich jener Stunde,
Da der sturmverschlagne Mann
Dort am Strand im Pappelgrunde
Gleich mein ganzes Herz gewann,
Da ich zu des Vaters Schwelle
Froh den hohen Gast geführt,
Ahnungslos, daß mich der schnelle
Pfeil des Gottes schon berührt.
Ach, und als zu Nacht am Feuer
Seiner Rede Wohllaut floß,
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Märchenhafter Abenteuer
Fremde Welt vor uns erschloß,
Wie berauscht an seinen Lippen
Hing mein Ohr, und froh und bang
Folgt' ich ihm durch Schlacht und Klippen,
Sturmgeheul und Nixensang.
Tage dann in sel'gem Schweigen
Lebt' ich, wie die Blume lebt,
Die dem Helios zu eigen
Nur zu ihm den Blick erhebt.
Wenn sein Lächeln mich getroffen,
Blühte stillbeglückt mein Sinn,
Und in heimlich süßem Hoffen
Schritt ich wie auf Wolken hin.
Schöner Traum, der leichtgewoben
Mich umspielt wie Frühlingswehn,
Nur zu spät, als du zerstoben,
Sollt' ich deinen Ernst verstehn!
Ach, schon unauslöschlich brannte
Mir das Herz in süßer Qual,
Als er sich Odysseus nannte
Und Penelopes Gemahl.
Wohl der Sehnsucht irres Feuer
Barg ich da in tiefster Brust,
Doch er ward mir doppelt teuer,
Seit mir sein Geschick bewußt.
Selbst des Götterzornes Lohen,
Wie sie zückten um sein Haupt,
Zeigten mir die Stirn des Hohen
Reicher nur vom Kranz umlaubt.
Einsam, wenn die Sterne schienen,
Rang ich oft mit meinem Schmerz,
Doch die Kraft, dem Freund zu dienen,
Strömte Balsam in mein Herz.
Ihm die Heimkehr zu erringen
Zu des teuren Eilands Bucht,
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Wob ich, ach, des Segels Schwingen
Für des eignen Glückes Flucht.
Aber nun er fortgezogen,
Schreckt mich, was ich selbst getan;
Wieder seh' ich auf den Wogen,
Strenger Gott, dich furchtbar nahn.
O halt ein, halt ein, Vertilger!
Zügle dieses Sturmes Wehn!
Laß den schwergeprüften Pilger
Nicht am Ziel noch untergehn!
Blind nach seines Feindes Leben
Zückt der Mensch das Racheschwert;
Göttervorrecht ist: Vergeben!
Üb' es heut, er ist es wert!
Oder wenn dich, Erdumfasser,
Nur ein Opfer sühnen kann,
Nimm dies Haupt, o Fürst der Wasser,
Für das seine nimm es an!«
Horch, da braust es durch die Lüfte,
Horch, da saust's im Fichtenhain,
Um des Ufers Felsgeklüfte
Strömt wie Blut des Abends Schein.
Riesenhoch mit Schaumgetriefe
Schwillt der Woge Kamm empor,
Und ein Donner aus der Tiefe
Ruft Gewährung an ihr Ohr.
Und sie nimmt vom Haupt den Schleier,
Und sie löst ihr wallend Haar
Und bekränzt's in stiller Feier
Mit den Lilien vom Altar.
Einen Gruß, indem sie schreitet,
Winkt sie noch ins Abendrot,
Und, die Arme weit gebreitet,
Lächelnd springt sie in den Tod.
Sieh, und wie die Flut mit Kochen
Über ihr zusammenschwillt,
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Ist der alte Fluch gebrochen,
Ist des Gottes Zorn gestillt.
Bei des Mondesaufgangs Helle
Schimmernd liegt die Tiefe da,
Und den Dulder trägt die Welle
Sanft im Schlaf nach Ithaka.

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TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Spätherbstblätter. Vermischte Gedichte. Nausikaa. Nausikaa. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BA41-A