An Deutschland

Januar 1871.


Nun wirf hinweg den Witwenschleier,
Nun gürte dich zur Hochzeitsfeier,
O Deutschland, hohe Siegerin!
Die du mit Klagen und Entsagen
Durch vierundsechzig Jahr' getragen,
Die Zeit der Trauer ist dahin;
Die Zeit der Zwietracht und Beschwerde,
Da du am durchgeborstnen Herde
Im Staube saßest tiefgebückt,
Und kaum dein Lied mit leisem Weinen
Mehr fragte nach den Edelsteinen,
Die einst dein Diadem geschmückt.
Wohl glaubten sie dein Schwert zerbrochen,
Wohl zuckten sie, wenn du gesprochen,
Die Achsel kühl im Völkerrat,
Doch unter Tränen wuchs im stillen
Die Sehnsucht dir zum heil'gen Willen,
Der Wille dir zur Kraft der Tat.
Und endlich satt, die Schmach zu tragen,
Zerrissest du in sieben Tagen
Das Netz, das tödlich dich umschnürt,
Und heischtest, mit beerztem Schritte
Hintretend in Europas Mitte,
Den Platz zurück, der dir gebührt.
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Und als der Erbfeind dann, der Franze,
Nach deiner Ehren jungem Kranze
Die Hand erhub von Neid verzehrt,
Zur Riesin plötzlich umgeschaffen
Wie stürmtest du ins Feld der Waffen,
Behelmte, mit dem Flammenschwert!
O große, gottgesandte Stunde,
Da deines Haders alte Wunde
Die heil'ge Not auf ewig schloß,
Und wunderkräftig dir im Innern
Aus alter Zeit ein stolz Erinnern,
Ein Bild zukünft'ger Größe sproß!
Wie Erz durchströmte deine Glieder
Das Mark der Nibelungen wieder,
Der Geist des Herrn war über dir,
Und unterm Schall der Kriegsposaunen
Aufpflanztest du, der Welt zum Staunen,
In Frankreichs Herz dein Siegspanier.
Da war dir bald, mit Blut beronnen,
Des Rheins Juwel zurückgewonnen,
Dein Kleinod einst an Kunst und Pracht,
Und dessen leuchtend Grün so helle
In Silber faßt die Moselwelle,
Der lotharingische Smaragd.
O laß sie nicht verglühn im Dunkeln!
Verjüngten Glanzes laß sie funkeln
Ins Frührot deiner Osterzeit!
Denn horch, schon brausen Jubellieder,
Und über deinem Haupte wieder
Geht auf des Reiches Herrlichkeit.
Durch Orgelton und Schall der Glocken
Vernimmst du deines Volks Frohlocken?
Den Heilruf deiner Fürstenschar?
Sie bringen dir der Eintracht Zeichen,
Die heil'ge Krone sondergleichen,
Der Herrschaft güldnen Apfel dar.
[254]
Auf Recht und Freiheit, Kraft und Treue
Erhöhn sie dir den Stuhl aufs neue,
Drum Barbarossas Adler kreist,
Daß du, vom Fels zum Meere waltend,
Des Geistes Banner hoch entfaltend,
Die Hüterin des Friedens seist.
Drum wirf hinweg den Witwenschleier!
Drum schmücke dich zur Hochzeitsfeier,
O Deutschland, mit dem grünsten Kranz!
Flicht Myrten in die Lorbeerreiser!
Dein Bräut'gam naht, dein Held und Kaiser
Und führt dich heim im Siegesglanz.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Heroldsrufe. Von 1866 bis 1871. An Deutschland. An Deutschland. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BD88-1