Erster Teil
Vielleicht würde ich bei der Erzählung meines Geschlechts ebenso beredt oder geschwätzig als andre sein, wenn ich anders viel zu sagen wüßte. Meine Eltern sind mir in den zartesten Jahren gestorben, und ich habe von meinem Vater, einem Livländischen von Adel, weiter nichts erzählen hören, als daß er ein rechtschaffener Mann gewesen ist und wenig Mittel besessen hat.
Mein Vetter, der auch ein Landedelmann war, doch in seiner Jugend studiert hatte, nahm mich nach meines Vaters Tode zu sich auf sein Landgut und erzog mich bis in mein sechzehntes Jahr. Ich habe die Worte nicht vergessen können, die er einmal zu seiner Gemahlin sagte, als sie ihn fragte, wie er es künftig mit meiner Erziehung wollte gehalten wissen. »Vormittags«, fing er an, »soll das Fräulein als ein Mann und nachmittags als eine Frau erzogen werden.« Meine Muhme hatte mich sehr lieb, zumal weil sie keine Tochter hatte, und sie sah es gar nicht gern, daß ich, wie ihre jungen Herren, die Sprachen und andere Pedantereien, wie sie zu reden pflegte, erlernen sollte. Sie hätte mich dieser Mühe gern überhoben; allein ihr Gemahl wollte nicht. »Fürchten Sie sich nicht«, sprach er zu ihr, »das Fräulein lernt gewiß nicht zu viel. Sie soll nur klug und gar nicht gelehrt werden. Reich ist sie nicht, also wird sie niemand als ein vernünftiger Mann nehmen. Und wenn sie diesem gefallen und das Leben leicht machen helfen soll, so muß sie klug, gesittet und geschickt werden.« Dieser rechtschaffene Mann hat keine Kosten an mir gesparet; und ich würde gewiß noch etliche Jahre eher vernünftig geworden sein, wenn seine Frau einige Jahre eher gestorben wäre. Sie hat mich zwar in Wirtschaftssachen gar nicht unwissend gelassen; allein sie setzte mir zu gleicher Zeit eine Liebe zu einer solchen Galanterie in den Kopf, bei der man sehr glücklich eine stolze Närrin werden kann. Ich war freilich damals noch nicht alt; allein ich war alt genug, eine Eitelkeit an mich zu nehmen, zu der unser Geschlecht recht versehen zu sein scheint. Aber zu meinem Glücke starb meine Frau Base, ehe ich noch das zehnte Jahr erreicht hatte, und gab meinem Vetter durch ihren Tod die Freiheit, mich desto sorgfältiger zu erziehen und die übeln Eindrücke wieder auszulöschen, welche ihr Umgang und ihr Beispiel in mir gemacht hatten. Ich hatte von Natur ein gutes Herz, und er durfte also nicht sowohl wider meine Neigungen streiten als sie nur [9] ermuntern. Er lieh mir seinen Verstand, mein Herz recht in Ordnung zu bringen, und lenkte meine Begierde zu gefallen nach und nach von solchen Dingen, die das Auge einnehmen, auf diejenigen, welche die Hoheit der Seele ausmachen. Er sah, daß ich wußte, wie schön ich war; um desto mehr lehrte er mich den wahren Wert eines Menschen kennen und an solchen Eigenschaften einen Geschmack finden, die mehr durch einen geheimen Beifall der Vernunft und des Gewissens als durch eine allgemeine Bewunderung belohnt werden. Man glaube ja nicht, daß er eine hohe und tiefsinnige Philosophie mit mir durchging. O nein, er brachte mir die Religion auf eine vernünftige Art bei und überführte mich von den großen Vorteilen der Tugend, welche sie uns in jedem Stande, im Glücke und Unglücke, im Tode und nach diesem Leben bringt. Er hatte die Geschicklichkeit, mir alle diese Wahrheiten nicht sowohl in das Gedächtnis als in den Verstand zu prägen. Und diesen Begriffen, die er mir beibrachte, habe ich's bei reifern Jahren zu verdanken gehabt, daß ich die Tugend nie als eine beschwerliche Bürde, sondern als die angenehmste Gefährtin betrachtet habe, die uns die Reise durch die Welt erleichtern hilft. Ich glaube auch gewiß, daß die Religion, wenn sie uns vernünftig und gründlich beigebracht wird, unsern Verstand ebenso vortrefflich aufklären kann, als sie unser Herz verbessert. Und viele Leute würden mehr Verstand zu den ordentlichen Geschäften des Berufs und zu einer guten Lebensart haben, wenn er durch den Unterricht der Religion wäre geschärft worden! Ich durfte meinem Vetter nichts auf sein Wort glauben, ja er befahl mir in Dingen, die noch über meinen Verstand waren, so lange zu zweifeln, bis ich mehr Einsicht bekommen würde. Mit einem Worte, mein Vetter lehrte mich nicht die Weisheit, mit der wir in Gesellschaften prahlen, oder, wenn es hoch kommt, unsere Ehrbegierde einige Zeit stillen, sondern die von dem Verstande in das Herz dringt und uns gesittet, liebreich, großmütig, gelassen und im stillen ruhig macht. Ich würde nichts anders tun als beweisen, daß mein Vetter seine guten Absichten sehr schlecht bei mir erreicht hätte, wenn ich mir alle diese schönen Eigenschaften beilegen und sie als meinen Charakter den Lesern aufdringen wollte. Es wird am besten sein, wenn ich mich weder lobe noch tadle und es auf die Gerechtigkeit der Leser ankommen lasse, was sie sich aus meiner Geschichte für einen Begriff von meiner Gemütsart machen wollen. Ich fürchte, wenn ich meine Tugenden und Schwachheiten noch so aufrichtig bestimmte, daß [10] ich doch dem Verdachte der Eigenliebe oder dem Vorwurfe einer stolzen Demut nicht würde entgehen können.
Ich war sechzehn Jahre alt, da ich an den schwedischen Grafen von G. verheiratet wurde. Mit dieser Heirat ging es folgendermaßen zu. Der Graf hatte in dem Livländischen Güter, und zwar lagen sie nahe an meines Vetters Rittersitze. Das Jahr vor meiner Heirat hatte der Graf nebst seinem Vater eine Reise aus Schweden auf diese Güter getan. Er hatte mich etlichemal bei meinem Vetter gesehen und gesprochen. Ich hatte ihm gefallen, ohne mich darum zu bestreben. Ich war ein armes Fräulein; wie konnte ich also auf die Gedanken kommen, einen Grafen zu fesseln, der sehr reich, sehr wohlgebildet, angesehen bei Hofe, schon ein Obrister über ein Regiment und vielleicht bei einer Prinzessin willkommen war? Doch daß ich ihm nicht habe gefallen wollen, ist unstreitig mein Glück gewesen. Ich tat gelassen und frei gegen ihn, weil ich mir keine Rechnung auf sein Herz machte, anstatt daß ich vielleicht ein gezwungenes und ängstliches Wesen an mich genommen haben würde, wenn ich ihm hätte kostbar vorkommen wollen. In der Tat gefiel er mir im Herzen sehr wohl; allein so sehr ich mir ihn heimlich wünschen mochte, so hielt ich's doch für unmöglich, ihn zu besitzen.
Nach einem Jahre schrieb er an mich, und der ganze Inhalt seines Briefes bestund darinnen, ob ich mich entschließen könnte, seine Gemahlin zu werden und ihm nach Schweden zu folgen. Sein Herz war mir unbeschreiblich angenehm, und die großmütige Art, mit der er mir's anbot, machte mir's noch angenehmer. Es gibt eine gewisse Art, einem zu sagen, daß man ihn liebt, welche ganz bezaubernd ist. Der Verstand tut nicht viel dabei, sondern das Herz redet meistens allein. Vielleicht wird man das, was ich sagen will, am besten aus seinem Briefe selber erkennen:
»Mein Fräulein!
Ich liebe Sie. Erschrecken Sie nicht über dieses Bekenntnis, oder wenn Sie ja über die Dreistigkeit, mit der ich's Ihnen tue, erschrecken müssen: so bedenken Sie, ob dieser Fehler nicht eine Wirkung meiner Aufrichtigkeit sein kann. Lassen Sie mich ausreden, liebstes Fräulein. Doch was soll ich sagen? Ich liebe Sie; dies ist es alles. Und ich habe Sie von dem ersten Augenblicke an geliebet, da ich Sie vor einem Jahre gesehen und gesprochen habe. Ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß ich mich bemüht habe, Sie zu vergessen, weil [11] es die Umstände in meinem Vaterlande verlangten; aber alle meine Mühe ist vergebens gewesen und hat zu nichts gedienet, als mich von der Gewißheit meiner Liebe und von Ihren Verdiensten vollkommen zu überzeugen. Ist es möglich, werden Sie durch meine Zärtlichkeit beleidiget? Nein, warum sollte Ihnen die Liebe eines Menschen zuwider sein, dessen Freundschaft Sie sich haben gefallen lassen. Aber werden Sie es auch gelassen anhören, wenn ich Ihnen mein Herz noch deutlicher entdecke? Darf ich wohl fragen, ob Sie mir Ihre Liebe schenken, ob Sie mir als meine Gemahlin nach Schweden folgen wollen? Sie sind zu großmütig, als daß Sie eine Frage unbeantwortet lassen sollten, von deren Entscheidung meine ganze Zufriedenheit abhängt. Ach, liebste Freundin, warum kann ich nicht den Augenblick erfahren, ob ich Ihrer Gewogenheit würdig bin, ob ich hoffen darf? Überlegen Sie, was Sie, ohne den geringsten Zwang sich anzutun, einem Liebhaber antworten können, der in der Zärtlichkeit und Hochachtung gegen Sie seine größten Verdienste sucht. Ich will Ihr Herz nicht übereilen. Ich lasse Ihnen zu Ihrem Entschlusse soviel Zeit, als Sie verlangen. Doch sage ich Ihnen zugleich, daß mir jeder Augenblick zu lang werden wird, bis ich mein Schicksal erfahre. Wie inständig müßte ich Sie nicht um Ihre Liebe bitten, wenn ich bloß meiner Empfindung und meinen Wünschen folgen wollte! Aber nein, es liegt mir gar zuviel an Ihrer Liebe, als daß ich sie einem andern Bewegungsgrunde als Ihrer freien Einwilligung zu danken haben wollte. So entsetzlich mir eine unglückliche Nachricht sein wird, so wenig wird sie doch meine Hochachtung und Liebe gegen Sie verringern. Sollte ich deswegen ein liebenswürdiges Fräulein hassen können, weil sie nicht Ursachen genug findet, mir ihr Herz auf ewig zu schenken? Nein, ich werde nichts tun, als fortfahren, Sie, meine Freundin, hochzuschätzen, und mich über mich selbst beklagen. Wie sauer wird es mir, diesen Brief zu schließen! Wie gern sagte ich Ihnen noch hundertmal, daß ich Sie liebe, daß ich Sie unaufhörlich liebe, daß ich in Gedanken auf Ihre geringste Miene bei meinem Bekenntnisse Achtung gebe, aus Begierde, etwas Vorteilhaftes für mich darinnen zu finden! Leben Sie wohl! Ach, liebstes Fräulein, wenn wollen Sie mir antworten?«
Der Vater des Grafen hatte zugleich an meinen Vetter geschrieben. Kurz, ich war die Braut eines liebenswürdigen Grafen. Ich wollte wünschen, daß ich sagen könnte, was von der Zeit an in meinem [12] Herzen vorging. Ich hatte noch nie geliebt. Wie unglaublich wird dieses Bekenntnis vielen von meinen Leserinnen vorkommen! Sie werden mich deswegen wohl gar für einfältig halten, oder sich einbilden, daß ich weder schön noch empfindlich gewesen bin, weil ich in meinem sechzehnten Jahre nicht wenigstens ein Dutzend Liebeshändel zählen konnte. Doch ich kann mir nicht helfen. Es mag nun zu meinem Ruhme oder zu meiner Schande gereichen, so kann man sich darauf verlassen, daß ich noch nie geliebt hatte, ob ich gleich mit vielen jungen Mannspersonen umgegangen war. Nunmehr aber fing mein Herz auf einmal an zu empfinden. Mein Graf war zwar auf etliche vierzig Meilen von mir entfernt; allein die Liebe machte mir ihn gegenwärtig. Wo ich stand, da war er bei mir. Es war nichts Schöneres, nichts Vollkommeneres als er. Ich wünschte nichts als ihn. Ich fing oft mit ihm an zu reden. Er erwies mir in meinen Gedanken allerhand Liebkosungen, und ich weigerte mich mit einer verschämten Art, sie anzunehmen. Vielen wird dieses lächerlich vorkommen, und ich habe nicht viel dawider einzuwenden. Eine unschuldige, eine recht zärtliche Braut ist in der Tat eine Kreatur aus einer andern Welt, die man nicht ohne Erstaunen betrachten kann. Ihr Vornehmen, ihre Sprache, ihre Mienen, alles wird zu einem Verräter ihres Herzens, je sorgfältiger sie es verbergen will. Ich aß und trank beinahe viele Wochen nicht, und ich blühete doch dabei. Ich sage es im Ernste, daß ich glaube, die Liebe kann uns einige Zeit erhalten. Ich ward viel reizender, als ich zuvor gewesen war.
Mein Vetter machte sich nunmehr mit mir auf die Reise nach Schweden. Es begleiteten mich verschiedene junge Herren und Fräuleins einige Meilen, und der Abschied von ihnen ward mir gar nicht sauer. Unsre Reise ging glücklich vonstatten; und es ist mir auf einem Wege von etlichen vierzig Meilen nicht das geringste begegnet, außer daß mir jeder Augenblick bis zum Anblicke meines Grafen zu lange ward.
Ich kam also, wie ich gesagt habe, in Begleitung meines Vetters glücklich auf dem Landgute des Grafen an. Ich fand ihn viel liebenswürdiger, als er mir vor einem Jahre vorgekommen war. Man darf sich darüber gar nicht verwundern. Damals wußte ich noch nicht, daß er mich liebte; itzt aber wußte ich's. Eine Person wird gemeiniglich in unsern Augen vollkommner und verehrungswürdiger, wenn wir sehen, daß sie uns liebt. Und wenn sie auch keine besondern Vorzüge hätte, so ist ihre Neigung zu uns die [13] Vollkommenheit, die wir an ihr hochschätzen. Denn wie oft lieben wir nicht uns in andern? Und wo würde die Beständigkeit in der Liebe herkommen, wenn sie nicht von unserm eigenen Vergnügen unterhalten würde?
Mein Bräutigam, mein lieber Graf, erwies mir bei meiner Ankunft die ersinnlichsten Liebkosungen; und ich glaube nicht, daß man glückseliger sein kann, als ich an seiner Seite war. Unser Beilager wurde ohne Gepränge, mit einem Worte, sehr still, aber gewiß sehr vergnügt vollzogen. Manches Fräulein wird diese beiden Stücke nicht zusammenreimen können. Dem zu Gefallen muß ich eine kleine Beschreibung von meinem Beilager machen. Ich war etwan acht Tage in Schweden und hatte mich völlig von der Reise wieder erholet, als mein Graf mich bat, den Tag zu unserer Vermählung zu bestimmen. Ich versicherte ihn, daß ich die Ehre, seine Gemahlin zu heißen, nie zu zeitig erlangen könnte; doch würde mir kein Tag angenehmer sein als der, den er selber dazu ernennen würde. Wir setzten, ohne uns weiter zu beratschlagen, den folgenden Tag an. Er kam des Morgens zu mir in mein Zimmer und fragte mich, ob ich noch entschlossen wäre, heute seine Gemahlin zu werden. Ich antwortete ihm mit halb niedergeschlagnen Augen und mit einem freudigen und beredten Kusse. Ich hatte nur einen leichten, aber wohlausgesuchten Anzug an. »Sie gefallen mir vortrefflich in diesem Anzuge«, fing der Graf zu mir an. »Er ist nach Ihrem Körper gemacht, und Sie machen ihn schön. Ich dächte, Sie legten heute keinen andern Staat an.« – »Wenn ich Ihnen gefalle, mein lieber Graf,« versetzte ich, »so bin ich schön genug angeputzt.« Ich war also in meinem Brautstaat, ohne daß ich's selber gewußt hatte. Wir redten den ganzen Morgen auf das zärtlichste miteinander. Ich trat endlich an das Clavecin und spielte eine halbe Stunde und sang auf Verlangen meines Grafen und meines eigenen Herzens dazu. Auf diese Art kam der Mittag herbei. Der Vater meines Grafen (denn die Mutter war schon lange gestorben, und die einzige Schwester auch) kam nebst meinem Vetter zu uns. Sie statteten ihren Glückwunsch ab und sagten, daß der Priester schon zugegen wäre. Wir gingen darauf herunter in das Tafelzimmer. Die Trauung ward sehr bald vollzogen, und wir setzten uns zur Tafel, nämlich wir viere und der Priester. Die Tafel war etwan mit sechs oder acht Gerichten besetzt. Dieses waren die Anstalten meiner Vermählung. Sie wird mancher Braut lächerlich und armselig vorkommen. Gleichwohl war ich sehr wohl damit zufrieden. Ich war ruhig, oder, [14] besser zu reden, ich konnte recht zärtlich unruhig sein, weil mich nichts von dem rauschenden Lärmen störte, der bei den gewöhnlichen Hochzeitfesten zur Qual der Vermählten zu sein pflegt. Nach der Tafel fuhren wir spazieren, und zwar zu dem Herrn R., der meinen Gemahl auf seinen Reisen begleitet hatte und itzt auf einem kleinen Landgute, etliche Meilen von uns, wohnte. Mein Gemahl liebte diesen Mann ungemein. »Hier bringe ich Ihnen«, fing er zu ihm an, »meine liebe Gemahlin. Ich habe mich heute mit ihr trauen lassen. Ist es nicht wahr, ich habe vortrefflich gewählt? Sie sollen ein Zeuge von meinem und ihrem Vergnügen sein; kommen Sie, und begleiten Sie uns wieder zurück!« Wir fuhren also in seiner Gesellschaft wieder auf unser Landgut zurück, ohne uns aufzuhalten. Kurz, der Abend verstrich ebenso vergnügt als der Mittag.
Itzt wundre ich mich, daß ich meinen Gemahl noch nicht beschrieben habe. Er sah bräunlich im Gesichte aus und hatte ein Paar so feurige und blitzende Augen, daß sie einem eine kleine Furcht einjagten, wenn man sie allein betrachtete. Doch seine übrige Gesichtsbildung wußte dieses Feuer so geschickt zu dämpfen, daß nichts als Großmut und eine lebhafte Zärtlichkeit aus seinen Mienen hervorleuchtete. Er war vortrefflich gewachsen. Ich will ihn nicht weiter abschildern. Man verderbt durch die genauen Beschreibungen oft das Bild, das man seinen Lesern von einer schönen Person machen will. Genug, mein Graf war in meinen Augen der schönste Mann.
Nicht lange nach unserer Vermählung mußte mein Gemahl zu seinem Regimente. Sein Vater, der bei einem hohen Alter noch munter und der angenehmste Mann war, wollte mir die Abwesenheit meines Gemahls erträglich machen und reisete mit mir auf seine übrigen Güter. Auf dem einen traf ich eine sehr junge und schöne Frau an, die man für die Witwe des Oberaufsehers der Güter ausgab. Die Frau hatte so viel Reizendes an sich und so viel Gefälliges und Leutseliges in ihrem Umgange, daß ich ihr auf den ersten Anblick gewogen und in kurzer Zeit ihre Freundin ward. Ich bat, sie sollte mich wieder zurückbegleiten und bei mir leben. Sie sollte nicht meine Bediente, sondern meine gute Freundin sein. Und wenn sie nicht länger bei mir bleiben wollte, so wollte ich ihr eine ansehnliche Versorgung schaffen. Sie nahm diesen Antrag mit Tränen an und schützte bald ihren kleinen Sohn, bald die Lust zu einem stillen Leben vor, warum sie mir nicht folgen könnte. Sie ging mir indessen nicht von der Seite und bezeigte so viel Ehrerbietung [15] und Liebe gegen mich, daß ich sie hundertmal bat, mir zu sagen, womit ich ihr dienen könnte. Allein sie schlug alle Anerbietungen recht großmütig aus und verlangte nichts, als meine Gewogenheit. Der alte Graf wollte wieder fort, und indem mich die junge Witwe an den Wagen begleitete, so sah ich ein Kind in dem untersten Gebäude des Hofes am Fenster stehen. Ich fragte, wem dieses Kind wäre. Die gute Frau kam vor Schrecken ganz außer sich. Sie hatte mich beredt, daß ihr Sohn unlängst die Blattern gehabt hätte. Und damit ich mich nicht fürchten sollte, so hatte sie mir ihn bei meinem Dasein, ungeachtet meines Bittens, nicht wollen sehen lassen. Allein ich sahe, daß diesem Knaben nichts fehlte, und ich ließ nicht nach, bis man ihn vor mich brachte. Hilf Himmel! wie entsetzte ich mich, als ich in seinem Gesichte das Ebenbild meines Gemahls antraf. Ich konnte kein Wort zu dem Kinde reden. Ich küßte es, umarmte zugleich seine Mutter und setzte mich den Augenblick in den Wagen. Der alte Graf merkte meine Bestürzung und entdeckte mir mit einer liebreichen Aufrichtigkeit das ganze Geheimnis. »Die Frau,« sprach er, »die Sie gesehen haben, ist die ehemalige Geliebte Ihres Gemahls. Und wenn Sie dieses Geständnis beleidiget, so zürnen Sie nicht sowohl auf meinen Sohn als auf mich. Ich bin an der Sache schuld. Ich habe ihn von Jugend auf mit einer besondern Art erzogen, die Ihnen in manchen Stücken ausschweifend vorkommen dürfte. Mein Sohn mußte in mir nicht sowohl seinen Vater, als seinen Freund lieben und verehren. Er durfte mich nicht fürchten, als wenn er mir etwas verschwieg. Daher gestund er mir alles, und ich erhielt dadurch Gelegenheit, ihn von tausend Torheiten abzuziehen, ehe er sie beging, oder doch, ehe er sich daran gewöhnete. Ich wußte, ehe ich meinen Sohn auf Reisen schickte, daß er ein gewisses Frauenzimmer von bürgerlichem Stande liebte, welches meine Schwester als eine Waise sehr jung zu sich genommen und, weil das Kind viel Lebhaftigkeit besaß, in der Gesellschaft ihrer einzigen Tochter wohl hatte erziehen lassen. Mein Sohn hatte mir aus dieser Liebe nie ein Geheimnis gemacht. Er bat mich, da er seine Reisen antrat, daß ich ihm erlauben möchte, dieses Frauenzimmer als seine gute Freundin mitzunehmen. Kurz, ich war entweder zu schwach, ihm diese Bitte abzuschlagen, oder ich willigte mit Fleiß darein, um ihn von den gefährlichen Ausschweifungen der Jugend durch ihre Gesellschaft abzuhalten. Und dieses ist ebendas Frauenzimmer, das Sie itzt gesehen und nach der gemeinen Rede für eine Witwe [16] gehalten haben. Sie besitzt sehr gute Eigenschaften, und ich habe ihr zehntausend Taler ausgesetzt, damit sie heiraten kann, wenn es ihr beliebet. Für ihren Sohn habe ich auch etwas Gewisses zu seiner Erziehung bestimmt. Und wenn Ihnen diese Frau gefährlich scheint, so will ich sie binnen wenig Tagen nach Livland auf meine Güter schicken und ihr daselbst alle mögliche Versorgung verschaffen.«
Man glaube ja nicht, daß ich die ehemalige Geliebte meines Gemahls zu hassen anfing. Nein, ich liebte sie, und die Liebe besänftigte die Eifersucht. Ich bat, daß er sie mit einer anständigen Heirat versorgen und sie entfernen möchte. Bei unserer Zurückkunft traf ich meinen Gemahl schon an. So sehr ich von der Gewißheit seiner Liebe versichert war, so konnte ich doch nicht ruhig werden, bis ich ihn durch allerhand kleine Kaltsinnigkeiten nötigte, ein Geheimnis aus mir herauszulocken, das mein Herz nicht umsonst entdecket haben wollte. Er erschrak und beklagte sich über die Unvorsichtigkeit seines Vaters, daß er mich an einen Ort geführt hätte, der unsrer Zärtlichkeit so nachteilig sein könnte. Er gab den Augenblick Befehl, daß man dieses Frauenzimmer nebst ihrem Sohne entfernen und alles, was sie verlangte, zu ihrem Unterhalte ausmachen sollte. Dieses geschah auch binnen acht Tagen. Ich konnte keine deutlichere Probe von seiner Treue verlangen, und es war mir unmöglich, ihn wegen dieser Sache auch nur einen Augenblick zu hassen, ob ich mich gleich von aller Unruhe nicht freisprechen will.
Er gestund mir, daß er dieses Frauenzimmer gewiß zu seiner Gemahlin erwählet haben würde, wenn er die Einwilligung vom Hofe hätte erhalten können. In der Tat verdiente sie dieses Glück so wohl als ich. Ich sah beinahe keinen Vorzug, den ich vor ihr hatte, als daß ich adlig geboren war. Und wie gering ist dieser Vorzug, wenn man ihn vernünftig betrachtet! Sie hatte sich gar nicht aus Leichtsinn ergeben. Die Ehe war der Preis gewesen, für den sie ihr Herz und sich überlassen hatte. Der Vater des Grafen hatte die Liebe und die Wahl seines Sohnes gebilliget. Sie kannte das edelmütige Herz ihres Geliebten. Sie war von der Aufrichtigkeit seiner Zärtlichkeit überzeugt. Ein Frauenzimmer, das sich unter solchen Umständen in eine vertrauliche Liebe einläßt, verdienet eher Mitleiden als Vorwürfe. Mein Gemahl erzählte mir einen Umstand, der Karolinens Wert, so will ich seine Geliebte künftig nennen, sehr verschönert. Sobald sie gesehen, daß er die Einwilligung, [17] sich mit ihr zu vermählen, nicht würde erhalten können, ohne dabei sein Glück in Gefahr zu setzen und die Gnade des Hofes zu verlieren, so hatte sie sich des Rechts auf sein Herz freiwillig begeben. Er zeigte mir folgenden Brief von ihr, der mich wegen seines großmütigen Inhalts ungemein gerühret hat.
»Mein lieber Graf!
Ich höre, daß man Ihnen den Entschluß, mich für Ihre Gemahlin zu erklären, sehr sauer macht. Sie dauern mich, weil ich gewiß weiß, daß Sie mich lieben, und daß Sie ebensoviel Überwindung brauchen, mir Ihr Wort nicht zu halten, als es mich Mühe kostet, meine Ansprüche auf das edelste und großmütigste Herz fahren zu lassen. Doch wenn ich einmal meinen Graf verlieren soll, so will ich ihn mit Ruhm verlieren. Kurz, mein liebster Graf, ich opfre Ihrem Glücke und Ihrem Stande meine Liebe und meine Zufriedenheit auf und vergesse das schmeichelhafte Glück, Ihre Gemahlin zu werden, auf ewig. Sie sind frei und können sich zu einer Wahl entschließen, welche Ihnen nur immer gefällt. Ich bin alles zufrieden, wenn ich nur sehe, daß Sie glücklich wählen und die Zufriedenheit an der Seite Ihrer Gemahlin erhalten, die ich Ihnen durch meine Liebe habe verschaffen wollen. Dieses ist, wie der Himmel weiß, mein größter Wunsch. Und was gehört mehr zu der Aufrichtigkeit eines solchen Wunsches, als daß man Sie liebt? Ich mache Ihnen nicht den geringsten Vorwurf. Sie haben in meinen Augen Ihr Wort vollkommen gehalten; denn ich bin überzeugt, daß Sie es erfüllen würden, wenn es bei Ihnen stünde. Ich werde mich auch nie über mich selbst beklagen. Ich bin die Ihrige unter der Bedingung gewesen, daß Sie mich einst öffentlich dafür erklären würden. Ich habe Ihnen also bei aller meiner Zärtlichkeit doch nie meine Tugend aufgeopfert. Nein, das Andenken meiner Liebe wird mir allemal die größte Beruhigung geben, so traurig auch mein künftiges Schicksal der Welt vorkommen wird. Vermählen Sie sich, mein lieber Graf, und denken Sie künftig nur an mich als an Ihre Freundin. Diese Belohnung verdiene ich. Leben Sie wohl, und lassen Sie mir auf einem Ihrer Güter einen Platz anweisen, wo ich nebst meinem Sohne in der Stille leben kann. Verlieren Sie weiter kein Wort. Ich bleibe bei meinem Entschlusse, Ihnen zu beweisen, daß ich Ihr Glück meiner Wohlfahrt vorziehe. Leben Sie wohl, mein lieber Graf!«
[18] Karolinens großmütigem Entschlusse hatte ich's also zu danken, daß mir der Graf zuteil worden war. Sie hatte sich nach diesem Briefe nicht mehr als noch einmal von ihm sprechen lassen und sich sogleich auf das Landgut begeben, wo ich sie antraf. Er versicherte mich, daß er sie seit anderthalb Jahren nicht gesehen, und ich hätte ihr gern das Vergnügen gegönnt, den Grafen vor ihrer Abreise nach Livland noch einmal zu sprechen, wenn es der Wohlstand hätte erlauben wollen.
Mein Graf verdoppelte seine Bemühungen, mir zu gefallen; und der Himmel weiß, daß er der liebenswürdigste Mann war, den man kaum zärtlicher und edler denken konnte. Er war vernünftig und gesittet gewesen, ehe er ein Soldat geworden war, und daher hatte er nicht das geringste von dem Rohen und Wilden an sich genommen, das dieser Lebensart sonst eigen zu sein pflegt. Er war die Gutheit und Menschenliebe selbst, und dennoch ward er im ganzen Hause so gefürchtet, daß der kleinste Wink an seine Leute die Wirkung des nachdrücklichsten Befehls tat. Er schien mir vollkommen zu gehorchen; es war ihm unmöglich, mir etwas abzuschlagen; er hielt alles für genehm, was ich verlangte. Allein mitten in dieser zärtlichen Untertänigkeit wußte er sich bei mir in einer gewissen Ehrfurcht zu erhalten, daß ich bei aller meiner Herrschaft nicht sowohl meinen Willen als vielmehr sein Verlangen in Gedanken zu Rate zog und in der Tat nichts unternahm, als was er befohlen haben würde, wenn er hätte befehlen wollen. Er war der ordentlichste Mann in seinen Geschäften und band sich doch selten an die Zeit. Er arbeitete, sobald er sich geschickt zur Arbeit fühlete, und arbeitete so lange fort, als er sich in dieser Verfassung merkte. Allein er ließ auch von seinen Verrichtungen nach, sobald er keine Lust mehr dazu verspürete. Daher war er stets munter, weil er sich niemals zu sehr ermüdete, und hatte stets Zeit zu den Vergnügungen übrig, weil er die Zeit niemals mit vergebnen Bemühungen, zu arbeiten, verschwendete. Er hatte eine sehr schöne Bibliothek auf seinen Reisen gesammlet. Ich verstund Französisch und etwas Latein und Italienisch. Der Büchersaal ward mir in kurzer Zeit an der Seite meines Gemahls der angenehmste Ort. Er las mir aus vielen Büchern, die teils historisch, teils witzig, teils moralisch waren, die schönsten Stellen vor und brachte mir seinen guten Geschmack unvermerkt bei. Und ob ich's gleich nicht allemal sagen konnte, warum eine Sache schön oder nicht schön war, so war doch meine Empfindung so getreu, daß sie mich selten betrog. Unsere [19] Ehe selbst war nichts als Liebe und unser Leben nichts als Vergnügen. Wir hatten fast niemanden zu unserm Umgange als uns. Mein Gemahl unterhielt mich, ich ihn, und unser alter Vater uns alle beide. Dieser Mann von siebenzig Jahren vertrat die Stelle von sechs Personen. Seine Erfahrung in der Welt, seine brauchbare Gelehrsamkeit und sein zufriednes und redliches Herz machten ihn stets munter und belebt in seinen Gesprächen. Ich kann sagen, daß ich diesen Greis in drei Jahren fast keine Stunde unruhig gesehen habe; denn so viele Jahre waren in meiner Ehe verstrichen, als er starb. Gott, wie lehrreich war das Ende dieses Mannes! Er bekam sieben Tage vor seinem Tode Schwulst in den Beinen. Diese trat immer weiter, und er sah mit jedem Tage sein Ende näher kommen. Er fragte den Arzt, wie lange es noch mit ihm dauren würde. »Wahrscheinlicherweise«, antwortete dieser, »über drei Tage nicht.« – »Recht gut«, versetzt der alte Graf. »Gott sei gedankt, daß meine Wallfahrt so glücklich abgelaufen ist! Also habe ich nur noch drei Tage von dem Leben zuzubringen, von dem ich meinem Schöpfer Rechenschaft geben soll? Ich werde sie nicht besser anwenden können, als wenn ich durch meine Freudigkeit den Meinigen ein Beispiel gebe, wie leicht und glückselig man stirbt, wenn man vernünftig und tugendhaft gelebt hat.« Er ließ darauf alle seine Bediente zusammenkommen. Er rühmte ihre Treue und bat sie als ein Vater, daß sie die Tugend stets vor Augen haben sollten. »Ich«, fing er an, »bin euer Herr und Aufseher gewesen. Der Tod hebt diesen Unterschied auf, und ich gehe in eine Welt, wo ihr so viel als ich sein werdet, und wo ihr für die Erfüllung eurer Pflichten ebenso viel Glück erhalten werdet, als ich für die Erfüllung der meinigen. Lebt wohl meine Kinder! Wer mich lieb hat und mir vor meinem Tode noch ein Vergnügen machen will, der verspreche mir mit der Hand, daß er meine Lehren und meine Bitten erfüllen will.« Er befahl darauf, einem jedweden eine gewisse Summe Geldes auszuteilen. Er ließ diesen und den folgenden Tag die meisten von seinen Untertanen zu sich kommen und redete mit ihnen ebenso wie mit seinen Bedienten. Wem er Geld zu seiner Nahrung vorgestrecket hatte, dem erließ er's; und alle durften sich etwas von ihm ausbitten. Die Anzahl der Armen war sehr klein; denn er hatte seine Wohltaten und seine Vorsorge gegen die Untertanen nicht bis an sein Ende versparet. Man kann sich die Wehmut dieser Leute leicht vorstellen. Ein jeder beweinte in ihm den Verlust eines Vaters. Nach dieser Verrichtung fragte der sterbende [20] Graf, ob noch jemand in seinem Hause wäre, der nicht Abschied von ihm genommen hätte. Ich sagte ihm, daß ich niemanden wüßte, außer die Soldaten, die mein Gemahl bei sich hätte. »Auch diese«, sagte er, »sind mir liebe Leute. Sie brauchen am meisten, den Tod kennen zu lernen, weil sie ihn vor andern unvermutet gewärtig sein müssen. Laßt sie herein kommen!« Hierauf traten vier Leute herein, denen die Wildheit und Unerschrockenheit aus den Augen sah. Der alte Graf redete sie liebreich an; und er hatte kaum angefangen, so weinten diese dem Anscheine nach so beherzte und barbarische Männer wie die Kinder. Er fragte sie, wie lange sie gedienet hätten. Sie hatten fast alle zwanzig Jahre die Waffen getragen. »O,« fing der Graf an, »ihr verdient, daß ihr die Ruhe des Lebens schmeckt, weil ihr die Unruhe so lange ausgehalten habt. Mein Sohn mag euch den Abschied erteilen. Und ihr sollt euch in meinem Dorfe niederlassen und, solange ihr lebet, noch so viel bekommen, als eure ordentliche Löhnung austrägt.« Einer von diesen Leuten hat nach dem meinem Gemahle einen sehr wichtigen Dienst geleistet.
Die Nacht vor seinem letzten Ende brach nunmehr an. Er fragte den Doktor noch einmal um die Zeit seines Todes, und er hörte mit der größten Standhaftigkeit, daß er kaum vierundzwanzig Stunden noch auf der Welt sein würde. Er forderte darauf zu essen. Er aß und ließ sich auch ein Glas Wein reichen. »Gütiger Gott!« fing er an, »es schmeckt mir bei meinem Ende noch so gut, als es mir vor funfzig Jahren geschmeckt hat. Hätte ich nicht mäßig gelebt, so würden meine Gefäße zu dieser Erquickung nicht mehr geschickt sein. Nun«, fuhr er fort, »will ich mich zu meinem Aufbruche aus der Welt noch durch einige Stunden Schlaf erholen.« Er schlief drei Stunden. Alsdann rief er mich und bat, ich sollte ihm aus seinem Schreibetische ein gewisses Manuskript holen. Dieses war ein Verzeichnis seines Lebens seit vierzig Jahren. Und dieses mußte ich ihm bis zu anbrechendem Tage vorlesen. Als wir fertig waren, so tat er das brünstigste Gebet zu Gott und dankte ihm für die Güte und Liebe, welche er ihn in der Welt hatte genießen lassen, auf eine ganz entzückende Weise und bat, daß er ihn in der künftigen Welt die Wahrheit und Tugend, der er hier unvollkommen nachgestrebt, möchte vollkommen erreichen lassen. Er ließ seinen Sohn rufen, nahm uns beide in die Arme und fing an zu weinen. »Dieses«, sagte er, »sind seit vierzig und mehr Jahren die ersten Tränen, die ich vergieße. Sie sind keine Zeichen meiner Wehmut und Furchtsamkeit, [21] sondern meiner Liebe. Ihr habt mir mein Leben angenehm gemacht; allein das Glück, das ich nach meinem Tode hoffe, macht mir den Abschied von euch sehr erträglich. Liebt getreu und genießt das Leben, das uns die Vorsehung zum Vergnügen und zur Ausübung der Tugend geschenkt hat.« Er gab mir noch allerhand Regeln, wie ich meine Kinder ziehen sollte, wenn unsre Ehe fruchtbar sein würde. Und in eben der Bemühung, auch seine Nachkommen durch eine weise Vorsorge noch glücklich zu machen, starb er.
Wir lebten darauf noch einige Jahre in der größten Zufriedenheit auf unserm Landgute. Endlich erhielt mein Gemahl Befehl, am Hofe zu erscheinen, und ich folgte ihm dahin.
Ich war kaum bei Hofe angekommen, so ward ich verehrt und bewundert. Es war, wie es schien, niemand schöner, niemand geschickter und vollkommener als ich. Ich konnte vor der Menge der Aufwartungen und vor dem süßen Klange der Schmeicheleien kaum zu mir selber kommen. Zu meinem Unglücke bekam mein Gemahl Ordre zum Marsche, und ich mußte zurückbleiben. Es hieß, ich sollte ihm bald nachfolgen; allein es vergingen drei Monate, ehe ich ihn zu sehen bekam. Ich hatte meine ganze Philosophie nötig, die ich bei meinem Vetter, meinem Gemahle und seinem Vater gelernt hatte, wenn ich nicht eitel und hochmütig werden wollte. Die Ehre, die mir allenthalben erwiesen ward, war eine gefährliche Sache für eine junge und schöne Frau, die den Hof zum ersten Male sah.
Ein gewisser Prinz von S..., der bei Hofe alles galt, der schon eine Gemahlin und unstreitig nicht die erlaubtesten Absichten gegen mich hatte, suchte sich die Abwesenheit meines Gemahls zunutze zu machen. Er bediente mich bei aller Gelegenheit mit einer ungemeinen Ehrerbietung und mit einem Vorzuge, der recht prächtig in die Augen fiel. Er wagte es zuweilen, mir von einer Neigung zu sagen, die ich verabscheute. Dennoch wußte ich der Ehrerbietung, die er stets mit untermengte, nicht genug zu widerstehen. Ich war so treu, als man sein kann; allein vielleicht nicht strenge genug in dem äußerlichen Bezeigen. Hierdurch machte ich den Prinzen nur beherzter. Er kam an einem Nachmittage unangemeldet zu mir. Er machte mir allerhand kleine Liebkosungen; doch bei der ersten Freiheit, die er sich herausnahm, sagte ich zu ihm: »Erlauben Sie mir, daß ich es Ihrer Gemahlin darf melden lassen, daß Sie bei mir sind, damit sie mir das Glück ihrer Gegenwart auch [22] gönnt!« – »Sie ist schon in den Gedanken bei mir«, fing er an. – »Und mein Gemahl«, antwortete ich, »ist auch bei mir, wenn er gleich im Felde ist.« Darauf machte er mir ein frostig Kompliment und ging fort. Wie rachgierig dieser Herr war, wird die Folge ausweisen.
Mein Gemahl kam wieder zurück, und nach seiner Ankunft ward ihm der Hof verboten. Dieses war die erste Rache eines beleidigten Prinzen. Wir gingen darauf auf unser Landgut. Ich entdeckte meinem Gemahle ohne Bedenken die Ursache der erlittenen Ungnade und bat ihn tausendmal um Vergebung. »Ich bin sehr wohl«, sprach er, »mit meinem Unglücke zufrieden. Fahren Sie nur fort, mich durch Ihre Tugend zu beleidigen; ich will Ihnen zeitlebens dafür danken. Ich habe es vorausgesehen, daß Ihnen der Hof gefährlich sein würde. Ich konnte mir einbilden, daß man Sie bewundern, und daß Ihr Herz der Versuchung der Lobsprüche und Ehrenbezeugungen nicht gleich den ersten Augenblick widerstehen würde. Die erlittene Ungnade ist nichts als ein Beweis, daß ich eine liebenswürdige und tugendhafte Frau habe.«
Wir lebten auf unserm Landgute so ruhig und zärtlich als jemals. Und damit wir den Verlust unsers klugen Vaters desto weniger fühlten, so nahm mein Gemahl seinen ehemaligen Reisegefährten, den Herrn R..., zu sich. Er war noch ein junger Mann, der aber in einer großen Gesellschaft zu nichts taugte, als einen leeren Platz einzunehmen. Er war stumm und unbelebt, wenn er viel Leute sah. Doch in dem Umgange von drei oder vier Personen, die er kannte, war er ganz unentbehrlich. Seine Belesenheit war außerordentlich und seine Bescheidenheit ebenso groß. Er war in der Tugend und Freundschaft strenge bis zum Eigensinne. So traurig seine Miene aussah, so gelassen und zufrieden war er doch. Er schlug kein Vergnügen aus; allein es schien, als ob er sich nicht so wohl an den Ergötzlichkeiten selbst als vielmehr an dem Vergnügen belustigte, das die Ergötzlichkeiten andern machten. Sein Verlangen war, alle Menschen vernünftig und alle Vernünftige glücklich zu sehen. Daher konnte er die großen Gesellschaften nicht leiden, weil er so viel Zwang, so viel unnatürliche Höflichkeiten und so viel Verhinderungen, frei und vernünftig zu handeln, darinnen antraf. Er blieb in allen seinen Handlungen uneigennützig und gegen die Glücksgüter und gegen alle Ehrenstellen fast gar zu gleichgültig. Die Schmeichler waren seine ärgsten Feinde. Und er glaubte, daß diese Leute der Wahrheit und den guten Sitten mehr Schaden täten als [23] alle Ketzer und Freigeister. Einem geringen Manne diente er mit größern Freuden als einem vornehmen. Und wenn man ihn um die Ursache fragte, so sagte er: »Ich fürchte, der Vornehme möchte mich bezahlen und durch eine reiche Belohnung mich zu einem Lastträger seiner Meinungen und zu einem Beförderer seiner Affekten erkaufen wollen.« Er hatte einen geschickten Bedienten, der ihm aber des Tages nicht mehr als etliche Stunden aufwarten durfte. Als er seinen Herrn in unsrer Gegenwart einmal fragte, ob er nichts zu tun hätte, so sagte er: »Denkt Ihr denn, daß Ihr bloß meinetwegen und meiner Kleider und Wäsche wegen in der Welt seid? Wollt Ihr denn so unwissend sterben, als Ihr geboren seid? Wenn Ihr nichts zu tun habt, so setzt Euch hin und überlegt, was ein Mensch ist, so werden Euch Beschäftigungen genug einfallen.« Er gab ihm verschiedene Bücher zu lesen. Und wenn er ihn auskleidete, so mußte er ihm allemal sagen, wie er den Tag zugebracht hätte. »Wer sich schämt,« sagte er, »einen Menschen vernünftig und tugendhaft zu machen, weil er geringe ist, der verdient nicht, ein Mensch zu sein.« Mein Gemahl liebte den Herrn R... als seinen Bruder, und wir beschlossen niemals etwas Wichtiges, ohne ihn zu Rate zu ziehen.
Um diese Zeit bekam mein Gemahl Befehl zum Marsche, weil Schweden mit der Krone Polen in einen Krieg verwickelt wurde. Nunmehr ging mein Elend an. Mein Gemahl hatte einen engen und gefährlichen Paß verteidigen sollen. Allein er hatte das Unglück gehabt, ihn und fast alle seine Mannschaft zu verlieren. Man glaubte, der Prinz von S..., der mit zu Felde war, hätte ihn mit Fleiß zu dieser gefährlichen Unternehmung bestimmt, um ihn zu stürzen. Genug, mein Gemahl ward zur Verantwortung gezogen. Man gab ihm schuld, er hätte seine Pflicht nicht in acht genommen, und es ward ihm durch das Kriegsrecht der Kopf abgesprochen. Gott, in welch Entsetzen brachte mich folgender Brief von meinem Gemahle!
»Lebt wohl, liebste Gemahlin, lebt ewig wohl! Es hat der Vorsicht gefallen, meinen Tod zu verhängen. Er kömmt mir nicht unvermutet; doch würde mich die Art meines Todes erschrecken, wenn ich meinen Ruhm mehr in der Ehre der Welt als in einem guten Gewissen suchte. Gerechter Gott! Ich soll durch das Schwert sterben, weil ich es nicht beherzt genug für das Vaterland geführt habe. Der Himmel weiß, daß ich unschuldig bin. Und fünf Wunden, [24] die ich bei meiner Gegenwehr empfangen habe, mögen Zeugen sein, ob ich meiner Pflicht nachgelebt. Der Prinz von S..., den Ihr durch Eure Tugend beleidiget habet, ist ohne Zweifel die Ursache meines gewaltsamen Todes. Vergebt es ihm, daß er Euch Euren Gemahl entreißt. Es ist weit weniger, als wenn er Euch Eure Tugend entrissen hätte. Lebt wohl, meine Gemahlin, und betet, daß ich bei dem Anblicke meines Todes so beherzt sein mag, als ich itzt bin! Meine Wunden sind gefährlich. Wollte Gott, daß sie tödlich wären und mich der Schmach entrissen, als ein Verbrecher vor den Augen der Welt zu sterben. In fünf Tagen soll mein Urteil vollstreckt werden. Nehmet von dem redlichen R... in meinem Namen Abschied. Er wird Euch in Eurem Unglücke nicht verlassen. Ich habe den König in einem Bittschreiben ersucht, daß er Euch meine Güter lassen soll; aber ich glaube nicht, daß es geschehen wird. Seid unbekümmert, meine Getreue! Flieht, wohin Ihr wollt, nur daß Ihr den Nachstellungen des Prinzen entgeht. Lebt wohl! Ach, wenn doch der fünfte Tag schon da wäre! O, warum muß ich denn ein Schlachtopfer meiner Feinde werden? Doch es ist eine Schickung. Ich will meinen Tod mit Standhaftigkeit erwarten. Lebt noch einmal wohl, liebste Gemahlin! Ich fühle den Augenblick eine außerordentliche Schwachheit in meinem Körper ... Mein Feldprediger kömmt. Ich will ihn bitten, daß er Euch diesen Brief zustellen läßt. Faßt Euch. Ich liebe Euch ewig, und ich sehe Euch in der künftigen Welt gewiß wieder.«
Meinen Schmerz über diese Nachricht kann ich nicht beschreiben. Die Sprachen sind nie ärmer, als wenn man die gewaltsamen Leidenschaften der Liebe und des Schmerzes ausdrücken will. Ich habe alles gesagt, wenn ich gestehe, daß ich etliche Tage ganz betäubt gewesen bin. Alle Trostgründe der Religion und der Vernunft waren bei meiner Empfindung ungültig, und sie vermehrten nur meine Wehmut, weil ich sah, daß sie solche nicht besänftigen konnten. Der angesetzte Todestag meines Gemahls brach an. Ich brachte ihn mit Tränen und Gebete zu und fühlte den Streich mehr als einmal, der meinem Gemahle das Leben nehmen sollte. Niemand stund mir in meinem Elende redlicher bei als der Herr R... Er klagte und weinte mit mir und erwarb sich durch seine Traurigkeit den Vorteil, daß ich die Trostgründe anhörte, mit denen er mich nunmehr anfing aufzurichten.
Binnen acht Tagen kam der Reitknecht meines Gemahls und [25] brachte mir die Post, daß sein Herr drei Tage vor dem Tage des Urteils an seinen Wunden gestorben wäre. Diese Nachricht vergnügte mich, so betrübt sie war, doch unendlich. »So ist er denn als ein Held an seinen Wunden gestorben!« rief ich aus. »So hat er die traurigen Zubereitungen zu einem gewaltsamen Tode, welche ärger als der Tod selber sind, nicht mitansehen dürfen! Nunmehr bin ich ruhig!« Ich fragte, ob man ihn ohne Schimpf zur Erden bestattet hätte. Er sagte mir, daß dieses gar nicht hätte geschehen können, weil in der Nacht, da er gestorben wäre, die Feinde das Dorf angefallen und das Bataillon, bei dem mein Gemahl gefangen gesessen, genötiget hätten, sich in der größten Eil' und mit Verlust zurückzuziehen. In ebendieser Unordnung wäre er mitgewichen, und der Feldprediger von meines Gemahls Regiment hätte ihm Gelegenheit geschafft, mit einem Detachement zurückzugehen und mir die Nachricht und etliche Kleinodien von meinem Gemahle zu überbringen.
Der Feldprediger hatte selbst an mich geschrieben und mir in meines Gemahls Namen geraten, Schweden so bald zu verlassen, als es möglich wäre, damit ich nicht der Rache des Prinzen oder seiner Wollust weiter ausgesetzt sein möchte. Der Befehl wegen der Einziehung unserer Güter war, wie ich erfuhr, schon vor meines Gemahls Tode unterzeichnet worden. Ich entschloß mich also zur Flucht und bat den Herrn R..., Schweden mit mir zu verlassen. Wir gaben in unserm Hause eine Reise auf die andern Güter vor und nahmen nichts als die Schatulle, in welcher etwan tausend Dukaten waren (denn mein Gemahl hatte sein bares Vermögen der Krone vorgestreckt), nebst dem Geschmeide und den Kleinodien mit uns. Alles Silbergeschirr ließen wir im Stiche und kamen in Begleitung des vorhin gedachten Reitknechts und des Bedienten des Herrn R..., glücklich über die Grenzen. Wir erfuhren bald darauf, daß man die Güter eingezogen, und daß man mir etliche Meilen hatte nachsetzen lassen. Wir waren nunmehr in Livland; allein ich war deswegen noch nicht sicher. Der Prinz wollte mich in seiner Gewalt haben. Mein Vetter, der mich nach Schweden gebracht hatte, war tot, und ich wußte nicht, welches Land ich zu meinem Aufenthalte aussuchen sollte. Mein getreuer Begleiter sollte mein Ratgeber werden. Er schlug mir Holland vor, weil er in Amsterdam Freunde hatte, und er versicherte mich, daß es mir an diesem Orte gefallen würde. »Hier können Sie sich«, sagte er, »ein paar Jahre aufhalten, bis sich die Umstände in Schweden ändern. [26] Vielleicht glückt es Ihnen, daß Sie durch Vorbitte mit der Zeit einen Teil von Ihres Gemahls Vermögen zurückbekommen.«
Die Furcht, in des rachgierigen Prinzen Hände zu fallen, machte mir alle Länder angenehmer als mein Vaterland. Ich entschloß mich also, mit ihm nach Amsterdam zu gehen, und ich wünschte, daß mich die ehemalige Geliebte meines Gemahls dahin begleiten möchte. Wir waren etwa achtzehn Meilen von ihr entfernet; denn wir bildeten uns ein, daß sie noch auf meines Gemahls Gütern wäre, die er in Livland hatte. Herr R... reisete also dahin ab, um sich nach ihr zu erkundigen. Er war kaum weg, so brachte mir der Reitknecht die Nachricht, daß er Karolinen in der Kirche des Dorfes, in welchem ich mich ingeheim aufhielt, gesehen, aber nicht gesprochen hätte. Ich schickte ihn fort, und binnen wenig Stunden sah ich sie zu meinem größten Vergnügen bei mir. Sie hatte binnen den acht Jahren, da ich sie nicht gesehen, etwas von ihren äußerlichen Reizungen, doch nichts von ihrer Annehmlichkeit im Umgange verloren. Ich erzählte ihr mein Schicksal und fragte sie, ob sie mit mir nach Amsterdam gehen wollte. Sie vergoß tausend Tränen über mein Unglück und über die Liebe, die ich noch gegen sie hatte. »Sie verfahren«, sprach sie, »gar zu liebreich mit mir. Sie bezeigen mir die stärkste Gewogenheit und hätten doch vielleicht Ursache, mich zu hassen. Ich halte es für mein größtes Unglück, daß ich Ihnen nicht folgen kann; allein ich bin seit einem Jahre – denn so lange ist es, daß ich mich von Ihres Gemahls Gütern an diesen Ort begeben habe – sehr krank gewesen, und Sie werden mir es leicht ansehen, daß es mir unmöglich ist, eine so weite Reise mit Ihnen zu tun. Indessen schwöre ich Ihnen zu, daß mich, wofern ich wieder gesund werde, nichts in der Welt abhalten soll, Ihnen nachzufolgen. Und damit ich Sie von der Gewißheit meines Versprechens desto stärker überführe, so will ich Ihnen meinen Sohn mitgeben, wenn er Ihnen nicht zur Last wird. Er ist bei mir. Ich habe mir für das Geld, das der Herr Vater Ihres Gemahls zu meiner und meines Kindes Erhaltung ausgesetzt hat, ein kleines Landgut hier in diesem Dorfe gekauft, und ich biete es Ihnen nicht allein zu ihrem Aufenthalte, sondern mit dem größten Vergnügen zu Ihrem Eigentume an. Wollte Gott! Sie blieben unerkannt bei mir, wie ruhig wollten wir nicht leben! Das Verlangen, Ihnen zu dienen, sollte mich wieder gesund und munter machen.«
Ich wagte es, mich auf ihren kleinen Rittersitz zu begeben. Ich traf keinen Reichtum, keinen Überfluß da an; aber Ordnung und [27] Bequemlichkeit, die von dem guten Geschmacke der Besitzerin zeugten. Ich fand eine Menge schöner Bücher in ihrer besten Stube. Und sie war so bescheiden, daß sie sagte, sie gehörten ihrem Sohne, da ich doch leicht merken konnte, daß sie ihr selber zugehörten. Es waren fast alle die französischen und schwedischen Bücher, welche mein Gemahl hochzuhalten pflegte, und ich konnte leicht erraten, wem sie diesen guten Geschmack zu danken hatte. Unter ihrem Spiegel hing das Bildnis meines Gemahls. Sobald sie merkte, daß mir's in die Augen fiel, so überreichte sie mir's zum Geschenke und gestund mir, daß sie es selber gemalet hätte; denn sie konnte vortrefflich in Miniatür malen. Ich hielt es für eine Grausamkeit, sie um dieses Andenken zu bringen. Darum bat ich sie, das Bild noch einmal zu malen und dieses so lange zu behalten.
Ihr Sohn war noch nicht völlig dreizehn Jahre alt. Er war ein sehr artiger und lebhafter Knabe. Sie hatte ihn schon in seinen zartesten Jahren einem geschickten Manne zur Aufsicht anvertraut und ihn itzt nur auf etliche Wochen zu sich kommen lassen, weil sie wegen der anhaltenden Krankheit ihr Ende vermutet. Sie gestund mir zu gleicher Zeit, daß sie von meinem verstorbenen Gemahle auch eine Tochter gehabt hätte. Sie wäre mit ihr in Holland darniedergekommen und hätte sie bei ihrem Bruder, einem Kaufmanne im Haag, teils auf sein Bitten, teils aus andern Ursachen zurückgelassen; dieses Kind aber wäre in seinem sechsten Jahre gestorben, wie ihr Bruder geschrieben hätte. »Ich wollte wünschen,« fuhr sie fort, »daß Sie Ihren Aufenthalt in Holland bei meinem Bruder nehmen könnten. Doch, soviel ich weiß, ist er nicht mehr in den besten Umständen. Ich habe lange keine Nachricht von ihm und weiß nicht, ob er sich von seinem starken Bankerotte wieder erholet hat oder nicht.«
Der Herr R... kam unterdessen von seiner vergebenen Reise wieder. Es war Zeit, daß wir uns von einem Orte wegmachten, wo wir länger nicht wohl verborgen bleiben konnten. Ehe wir noch fortgingen, so starb der Bediente des Herrn R..., dessen Verlust uns nicht wenig daurete. Dieser redliche Mensch gab seinem Herrn vor seinem Tode vierhundert Stück Dukaten. »Dieses Geld«, sagte er, »habe ich in Ihrem Dienste und durch Ihre Freigebigkeit gesammlet, und ich bin froh, daß ich es Ihnen wiedergeben kann. Ihrer Güte, Ihrem Unterrichte und Ihrem Exempel habe ich's zu danken, daß ich itzt gelassen und freudig sterben kann. Wenn Sie nur wieder einen Menschen hätten, auf den Sie sich verlassen [28] könnten.« So gewiß ist's, daß man auch den niedrigsten Menschen edelmütig machen kann, wenn man ihn nicht bloß als seinen Bedienten und Sklaven, sondern als ein Geschöpf ansieht, das unserer Aufsicht anvertraut und zu einem allgemeinen Zwecke nebst uns geboren ist.
Wir verließen nunmehr Karolinen in Begleitung ihres Sohnes. Sie versprach, sobald es möglich wäre, uns zu folgen und ihr Landgütchen zu verkaufen. Wir kamen glücklich in Amsterdam an. Der Vetter des Herrn R..., bei dem wir uns aufhalten wollten, war zwar gestorben, doch lebte seine Tochter noch. Sie kannte den Herrn R..., sobald sie ihn sah: denn er war, wie ich schon gesagt habe, mit meinem Gemahle ehedem durch Holland gereiset. Sie nahm uns sehr gütig auf, und ihr Ehemann war ebenfalls ein vernünftiger und dienstfertiger Mann. Ich entdeckte mich ihnen und bat, daß sie meinen Stand nicht allein verschwiegen halten, sondern ihn auch vergessen und mich nicht mehr als eine Gräfin, sondern als eine unglückliche Freundin betrachten möchten. Sie hatten von dem Schicksale meines Gemahls schon durch die Zeitungen gehöret. Und wenn ich auch keine Eigenschaften gehabt hätte, mich bei diesen Leuten in Gewogenheit und Ansehen zu setzen, so war doch mein Unglück schon die beste Empfehlung. Ja, ich erfuhr, daß ein großes Unglück in den Gemütern vieler Menschen fast ebendie Wirkung hervorbringt, welche sonst ein großes Glück zu verursachen pflegt. Man schätzt uns hoch, weil wir viel erlitten oder viel verloren haben, und man macht unsern Unfall zu unserm Verdienste, sowie man oft unser Glück, ob wir gleich dazu nichts beigetragen haben, als unsre Vollkommenheit ansieht. Mit einem Worte, diese Leute erwiesen mir, ehe ich sie noch kannte, mehr Hochachtung und Gefälligkeit, als ich fordern konnte. Sie gaben mir einen ganzen Teil von ihrem Hause zu meiner Wohnung ein: ich nahm aber nicht mehr als ein paar Zimmer. Und damit ich diesen guttätigen Leuten nicht zur Last werden möchte, so entdeckte ich dem Herrn R..., daß ich willens wäre, meine Juwelen zu Gelde zu machen und das Geld in die Handlung seiner Frau Muhme zu legen. Er sagte, daß er es mit seinen vierhundert Dukaten, die ihm sein Bedienter gegeben, schon also gemacht hätte. Mein dienstwilliger Wirt verhandelte die Juwelen für zwölftausend Taler und sagte, daß er mir keine Interessen, sondern den ordentlichen Gewinst davon abgeben wollte; der bei der Rechnung in seinem Handel auf dieses Kapital fallen würde. Ich bat ihn, daß er mir keine Rechnung [29] ablegen, sondern mich und meine beiden Reisegefährten anstatt der Interessen erhalten sollte. Ich lebte hier so ruhig, daß ich mir keinen andern Ort wünschte. Herr R... hatte den Sohn von Karolinen bei sich. Weil er kein Amt hatte, so gab er sich selber eins und zog diesen jungen Menschen mit so vieler Sorgfalt auf, als ein Mann tun kann, der in dem Bewußtsein edler Absichten und nützlicher Taten seine Belohnung sucht. Und wie sehr würden nicht die Großen viel niedrige und unberühmte Männer beneiden, wenn sie die Belohnung kennten, welche solchen Leuten das Gedächtnis ihrer rühmlichen Absichten und guten Taten zu schenken pflegt! Er unterrichtete den jungen Menschen in den Sprachen und Künsten und brachte ihm die edelsten Meinungen von der Religion und Tugend bei. Was sein Unterricht nicht tat, das richtete sein Exempel aus. Der Schüler ward seinem Lehrer ähnlich und belohnte dessen Mühe durch einen fähigen Verstand und durch ein gutes Herz. Ich brachte meine Zeit meistens mit Studieren zu, wenn anders ein Frauenzimmer ohne Eitelkeit dieses von sich sagen kann. Ich redte des Tages gemeiniglich eine Stunde mit unserm jungen Schüler und suchte ihm das Wohlanständige beizubringen, das junge Mannspersonen oft am ersten von einem Frauenzimmer lernen können. Ich suchte sein flüchtiges und feuriges Wesen der Jugend durch meine Ernsthaftigkeit zu mäßigen. Ich tat stets fremd gegen ihn und stellte verschiedne Personen vor, damit er meinen Umgang nicht zu gewohnt werden und in meiner Gesellschaft immer etwas Neues finden sollte. Mit der Tochter meiner Wirtin, welche ein Mädchen von etwa acht Jahren war, vertrieb ich mir manche Stunde. Ich lehrte sie Französisch, zeichnen, sticken und auch singen. Kurz, ich führte eine sehr ruhige Lebensart. Mein Wirt und seine Frau bequemten sich nach meinem Geschmacke und lernten mir die Vergnügungen ab, mit welchen sie mich unterhalten wollten. Sie brachten mich niemals in große Gesellschaften. Sie störten mich nicht in meiner Einsamkeit, als bis ich gestört sein wollte. Ich durfte weder befehlen noch bitten, wenn ich ein Vergnügen haben wollte. Ich durfte nur wählen. Man hielt mich in unserm Hause für eine Anverwandtine der Wirtin. Und wer sonst mit mir umging, wußte es auch nicht besser. Mein verschwiegner Stand nötigte mich also nicht, den glänzenden und sehr beschwerlichen Charakter einer Standesperson in Gesellschaften zu behaupten, und dieses zu meinem großen Vorteile. Hätte man gewußt, daß ich eine Gräfin wäre, so würde man, anstatt mich [30] zu bewundern, nur mein Gutes für einen notwendigen Anteil meines Standes angesehen haben. Oder wenn es hoch gekommen wäre, so würde man mich nur verehret haben, da man mich gegenteils itzt zugleich verehrte und liebte und meinen Umgang suchte.
Vier Jahr hatte ich nunmehr in Amsterdam zugebracht und zu verschiedenen Malen an Karolinen geschrieben und sie an ihr Versprechen, zu mir zu kommen, erinnert; allein sie blieb aus.
Ihr Sohn sollte sich nunmehr eine Lebensart erwählen, welche er wollte. Er bezeigte Lust zu dem Soldatenstande, und der Herr R... war so wenig dawider, daß er seine Wahl vielmehr billigte. »Gesittete und geschickte Leute«, sagte er, »sind nirgends nötiger und nützlicher, als wo es viele Ungesittete gibt. Werden Sie ein Soldat und zeigen Sie, daß man unerschrocken, tapfer, strenge – und doch auch weise, vorsichtig und liebreich sein kann. Solange Sie die Religion und ein gutes Gewissen haben werden, so lange werden Sie den Tod zwar nicht gleichgültig ansehen, aber doch ohne Entsetzen erwarten und nie aus Zagheit vermeiden. Dieses ist die wahre Tapferkeit.« Wir kauften ihm eine Fähndrichsstelle; und er ging zu seinem Regiment ab, welches nachmals an die Grenze von Holland zu stehen kam.
Nunmehr kommt eine von den wundersamsten Begebenheiten meines Lebens, welche mir von Leuten, die den Stand lieben und die Menschen nicht nach ihren Neigungen und Eigenschaften, sondern stets nach der Geburt und nach dem Range untereinander vergleichen, schwerlich wird vergeben werden. Ich war noch in meinen besten Jahren, und die Annehmlichkeiten in meiner Bildung waren noch nicht verloren gegangen oder höchstens zum Teile nur so verloschen wie die kleinen Züge in einem Gemälde, die man nicht sehr vermißt. Es fanden sich verschiedene Holländer von Ansehen und großem Vermögen, die mich zur Frau begehrten. Allein ihr Suchen war umsonst. Wer einen so liebenswürdigen und vortrefflichen Gemahl als ich gehabt, konnte in der Liebe wohl etwas eigensinnig sein. Ob nun gleich keiner von meinen Freiern seine Absicht erreichte, so weckten sie doch die Erinnerung von der Süßigkeit der Liebe bei mir wieder auf. »Du willst,« dachte ich, »um dieser Herren los zu werden, dich selbst zu einer Wahl entschließen.« Diese Ursache zu einer Ehe ist etwas weit hergeholet. Indessen war es gewiß, daß ich sie bei mir selber vorwand, weil es mein Herz haben wollte. Der Herr R... kam an einem Nachmittage [31] zu mir auf meine Stube und fragte mich, ob ich mich bald der Ehe zum besten entschlossen hätte. »Raten Sie mir denn,« sprach ich, »daß ich wieder heiraten soll?« – »Nicht ehe,« versetzte er, »als bis ich sehe, daß es Ihnen Ihr eigen Herz geraten hat. Sie kennen meine Aufrichtigkeit, und Sie wissen, daß ich nichts für ein Glück halte, was man nicht verlangt und freiwillig wählt. Unter der großen Anzahl Männer, die sich um Ihr Herz bemühen, gefällt mir keiner besser als der Herr von der H..., nicht deswegen weil er sehr gelehrt ist, sondern weil er außer seinen Wissenschaften und seiner wichtigen Bedienung sehr viele Vorteile hat, die ihm Liebe erwerben und ihn zur Liebe geschickt machen. Ich habe gewiß Recht, daß er ein liebenswürdiger Mann ist; allein diesem Urteile dürfen Sie darum nicht trauen. Ich betrachte den Mann zwar nach einerlei Begriffen mit Ihnen, aber nicht nach einerlei Empfindungen. Ich liebe ihn als einen Freund, und als ein Freund kann er Ihnen angenehm und liebenswert vorkommen, aber darum noch nicht als ein Ehemann. Unser Herz ist oft so beschaffen, daß es die Liebe gegen eine angenehme Person zurückhält, sobald es auf das genaueste mit ihr verbunden werden soll. Vielleicht«, fuhr er fort, »gefällt Ihnen einer von den andern Herren besser zur Liebe, ob Ihnen dieser gleich zu einem guten Freunde besser gefällt.«
Ich versicherte ihn, daß ich mich seines Rats bedienen würde, sobald ich meine eigne Neigung zu Rate gezogen hätte. »Warum«, fuhr ich fort, »heiraten Sie denn nicht?« – »O,« sagte er, »ich würde es gewiß getan haben, wenn meine Umstände und die Liebe mir zur Ehe geraten hätten. Die Liebe und meine Philosophie sind einander gar nicht zuwider. Eine recht zufriedne Ehe bleibt, nach allen Ansprüchen der Vernunft, die größte Glückseligkeit des gesellschaftlichen Lebens. Zeigen Sie mir eine Person, die mir anständig ist, und die Ihnen die Versicherung gibt, daß sie mich zu besitzen wünscht: so werde ich sie, sobald ich sie kenne, mit der größten Zufriedenheit zu meiner Gattin wählen. Wir haben alle eine Pflicht, uns das Leben so vergnügt und anmutig zu machen, als es möglich ist. Und wenn es wahrscheinlich ist, daß es durch die Liebe geschehen kann, so sind wir auch zur Liebe und Ehe verbunden.« – »Allein«, versetzte ich, »Sie haben ja, solange ich Sie kenne, gegen unser Geschlecht sehr gleichgültig zu sein geschienen; wie kömmt es denn, daß Sie der Liebe itzt das Wort reden?« – »Ich bitte,« sprach er, »vermengen Sie die Bescheidenheit nicht mit der Gleichgültigkeit. Ich weiß, daß man dem andern mit seiner Liebe oft so [32] beschwerlich fallen kann als mit seinem Hasse. Und aus diesem Grunde bin ich stets behutsam, aber darum nicht gleichgültig gegen das Frauenzimmer.« – »Ich weiß eine Person,« hub ich an, »die Sie liebt, und ich glaube nicht, daß sie Ihnen mißfallen wird. Allein deswegen weiß ich auch noch nicht, ob es eben diejenige ist, mit der Sie das genauste Band der Liebe schließen wollen.« Er ward bestürzt und fragte mich wohl zehnmal, wer sie wäre. Ich hielt ihn lange auf, und endlich versprach ich ihm, daß er sie nachmittage zu sehen bekommen sollte. Nachmittage schickte ich ihm mein Porträt und schrieb ein Billett ungefähr dieses Inhalts an ihn:
»So hat die Person in ihrer Jugend ausgesehn, die Sie liebt. Erst hat sie nur Freundschaft und Erkenntlichkeit gegen Sie empfunden. Die Zeit und Ihr Wert hat diese Regungen in Liebe verwandelt. Der liebste Freund meines Gemahls hat das erste Recht auf mein Herz. Sie sind so großmütig und tugendhaft mit mir umgegangen, daß ich Sie lieben muß. Antworten Sie mir schriftlich! Entschuldigen Sie sich nicht mit Ihrem Stande! Sie haben die Verdienste; was geht die Vernünftigen die Ungleichheit des Standes an? Um die Unvernünftigen dürfen wir uns nicht kümmern, weil hier niemand von meinem Stande weiß.«
Er kam den Augenblick zu mir. Und ebender Mann, der sowohl bei meines Gemahls Lebzeiten als nach seinem Tode nie so getan hatte, als ob er mir eine Liebkosung erweisen wollte, wußte mir itzt seine Zärtlichkeit mit einer so anständigen und einnehmenden Art zu bezeigen, daß ich ihn würde zu lieben angefangen haben, wenn ich ihn noch nicht geliebt hätte. »Nunmehr«, sagte er, »haben Sie mir das Recht gegeben, Ihnen mein Herz sehen zu lassen. Und nunmehr kann ich Ihnen ohne Fehler das gestehen, was mich die Ehrerbietung sonst hat verschweigen heißen. Ich habe an das Glück, das Sie mir itzt anbieten, wie der Himmel weiß, kaum gedacht. Und wenn ich auch daran gedacht hätte, so würde mich meine wenige Eigenliebe niemals diesen Gedanken haben fortsetzen lassen. Es fehlt zu meiner Zufriedenheit nichts, als daß Sie mich überzeugen, daß ich Ihrer wert bin: so will ich mich für den glücklichsten Menschen schätzen.« Kurz, wir gingen zu unserer Wirtin, wir sagten ihr unsern Entschluß, und sie war nebst ihrem Manne über diese unvermutete Nachricht ausnehmend erfreut. Unsere kleinen Kapitale hatten sich binnen sechs Jahren in der [33] Handlung fast um noch einmal soviel vermehret, und wir hätten beide sehr gemächlich davon leben können. Allein unser freundschaftlicher Wirt wollte uns nicht aus seinem Hause lassen. Er behielt unser Geld und erwies uns wie zuvor alle mögliche Gefälligkeiten. Also war Herr R... mein Gemahl oder, wenn ich nicht mehr standesmäßig reden soll, mein lieber Mann. Ich liebte ihn, wie ich aufrichtig versichern kann, ganz ausnehmend und so zärtlich als meinen ersten Gemahl. An Gemütsgaben war er ihm gleich, wo er ihn nicht noch in gewissen Stücken übertraf. Aber an dem Äußerlichen kam er ihm nicht bei. Er war wohlgewachsen; allein er hatte gar nicht das Einnehmende an sich, das gleich auf das erstemal rührt. Nein, man mußte ihn etlichemal gesehen, man mußte ihn gesprochen haben, wenn man ihm recht gewogen sein wollte. Ich will deswegen nicht behaupten, daß er sich für alle Frauenzimmer geschickt haben würde. Genug, er gefiel mir, und ich fand jeden Tag in seinem Umgange eine neue Ursache, ihn zu lieben. Er war nahe an vierzig Jahre, und er hatte seit der Zeit, daß ich ihn bei meinem Gemahle kennen lernen, sich gar nicht von Person geändert. Seine ordentliche und stille Lebensart erhielten ihn so gesund, als ob er erst zu leben anfing. Wer war glücklicher, als wir! Unser Glück fiel niemanden in die Augen, und desto ruhiger konnten wir es genießen. Wir lebten, ohne zu befehlen und ohne zu gehorchen. Wir durften niemanden von unsern Handlungen Rechenschaft geben als uns selbst. Wir hatten mehr, als wir begehrten, und also genug, andern wohlzutun. Wir hatten eine Gesellschaft, die sich zu unsern Neigungen schickte. Wir lebten an dem volkreichsten Orte in der größten Stille. Dieses war unser Verlangen. Wir konnten uns beide mit dem edelsten Zeitvertreibe, mit Lesen und Denken, unterhalten. Wir studierten, ohne daß uns deswegen jemand bewundern sollte. Wir studierten zu unserer eigenen Ruhe. Und daß ich alles mit einmal sage, wir wußten in unsrer Ehe von keinem andern Wechsel, als von Gefälligkeiten und Gegengefälligkeiten. Viele können es nicht vertragen, wenn sie die Liebe verehlichter Personen so zärtlich abgeschildert sehen als die Liebe zwischen unverehelichten, weil man sieht, daß die meisten Ehen die Liebe eher auslöschen als vermehren. Doch solche Leute wissen nicht, was Klugheit und Behutsamkeit in der Ehe für Wunder tun können. Sie erhalten die Liebe und befördern ihren Fortgang, wie das Herz durch seine Bewegung den Umlauf des Geblüts. Es ist wahr, eine beständige und sich stets gleiche Zärtlichkeit ist in der Ehe [34] nicht möglich. Doch wenn nur auf beiden Seiten eine gegründete Liebe vorhanden ist, so kann sie bis in die spätesten Jahre feurig und lebhaft bleiben. Unsere Empfindungen können wohl etwas abnehmen, allein diese Abnahme heißt wenig. Derjenige hat allemal genug Vergnügen, solange er so viel hat, als das Maß seiner Empfindungen verlangt. Genug, wir sind nach vielen Jahren noch so verliebt ineinander gewesen, als wenn wir uns erst zu lieben angefangen hätten. Man denke ja nicht, weil wir die Wissenschaften liebten, daß wir an uns nur unsere Seelen geliebt hätten! Ich habe bei allen meinen Büchern über die metaphysische Geisterliebe nur lachen müssen. Der Körper gehört so gut als die Seele zu unserer Natur. Und wer uns beredet, daß er nichts als die Vollkommenheiten des Geistes an einer Person liebt, der redet entweder wider sein Gewissen, oder er weiß gar nicht, was er redet. Die sinnliche Liebe, die bloß auf den Körper geht, ist eine Beschäftigung kleiner und unfruchtbarer Seelen. Und die geistige Liebe, die sich nur mit den Eigenschaften der Seele gattet, ist ein Hirngespinste hochmütiger Schulweisen, die sich schämen, daß ihnen der Himmel einen Körper gegeben hat, den sie doch, wenn es von den Reden zu der Tat käme, um zehn Seelen nicht würden fahren lassen.
Ich komme wieder zu meiner Geschichte. Wir lebten, wie ich gesagt habe, so vergnügt, als man nur leben kann. Wir meldeten Carlsonen – so hieß Karolinens Sohn, der Fähndrich – unsere Heirat und baten ihn, daß er uns besuchen sollte, wenn es möglich wäre; denn wir hatten ihn nun wohl in vier Jahren nicht gesehen. Er schrieb uns, daß er Leutnant geworden wäre, daß es ihm sehr wohl ginge, und daß er sich vor wenig Wochen mit einem Frauenzimmer, die ihm zu Gefallen das Kloster heimlich verlassen, verheiratet hätte. Von ihrem Stande könnte er uns nichts sagen, weil sie in dem sechsten Jahre in das Kloster gekommen und darinnen bloß unter dem Namen Mariane bekannt gewesen wäre. Sie möchte indessen von dem niedrigsten Herkommen sein: so wäre sie doch so liebenswürdig, daß er sich nur einen hohen Stand wünschen wollte, um seine Geliebte dareinsetzen zu können. Denn Carlson wußte nichts weiter von seiner Geburt, als daß sein Vater ein Aufseher auf den Gütern meines ersten Gemahls gewesen und ihm jung gestorben wäre. Er bat uns unbeschreiblich, daß wir nach dem Haag kommen sollten, von welchem Orte er itzt nur etliche Meilen weit in dem Quartiere stünde. Diese Nachricht erschreckte uns fast mehr, als sie uns erfreuete. Wir vermuteten bei dieser Ehe zwar [35] genug Liebe, aber nicht genug Überlegung. Indessen schickten wir ihm etliche hundert Dukaten, daß er seine Umstände desto bequemer einrichten könnte. Wir versprachen auch, ihn so bald zu besuchen, als es die Jahreszeit und meine Umstände erlauben würden; denn ich war mit einer Tochter darniedergekommen. Wir reiseten den folgenden Frühling nach dem Haag ab. Wir fanden an unserm Carlson und seiner Frau ein Paar Eheleute, die einander wert waren. Sie war blond und hatte ein Paar große blaue und schmachtende Augen, die sich zu schämen schienen, daß sie die Verräter von einem sehr zärtlichen Herzen sein sollten. Und wenn auch die übrigen Teile ihres Gesichts nicht so ausnehmend wohlgestaltet und recht abgemessen gewesen wären: so hätte sie doch bloß ihrer Augen wegen den Namen einer Schönheit verdient. Von ihrem Verstande will ich nicht viel sagen. Sie war in dem Kloster erzogen. Ihr unschuldiges und aufrichtiges Herz hätte auch den Mangel des Witzes tausendmal ersetzt, wenn sie gleich weniger Einsicht gehabt hätte, als sie in der Tat hatte. Es hing ihr noch etwas Schüchternes aus dem Kloster an; allein selbst diese Schüchternheit schickte sich so wohl zu ihrer Unschuld, daß man sie ungerne würde vermißt haben. Ja, ich sage noch mehr, man liebte sogar an ihr die Schüchternheit; so wie oft ein Fehler unter gewissen Umständen zu einer Schönheit werden kann.
Ich suche die Worte vergebens, mit denen ich ihre Zärtlichkeit gegen ihren Mann beschreiben will. Man stelle sich einen sehr einnehmenden, feurigen und blühenden Mann (denn dieses war Carlson) und dann ein von Natur zärtliches Frauenzimmer vor, die von Jugend auf eine Nonne gewesen war, und bei der die süßen Empfindungen nur desto mächtiger geworden waren, weil sie an der strengen Lebensart und an den Regeln einer hohen Keuschheit einen beständigen Widerstand gefunden hatten: so wird man die inbrünstige und schmachtende Liebe dieser jungen Frau einigermaßen denken können. Ich war sowohl mit unsers Carlsons Wahl zufrieden als mein Mann, und wir vergnügten uns an der Zufriedenheit dieses Paares so sehr, daß wir nicht wieder von ihnen kommen konnten. Wir ließen Geld aus Amsterdam kommen und blieben ein ganzes Jahr und länger bei diesen zärtlichen Eheleuten. Nichts fehlte uns, als Carlsons redliche Mutter. Wir hatten Briefe von ihr, daß es sich mit ihrer Gesundheit gebessert hätte, und daß sie imstande wäre, bald zu uns zu kommen. Wir schickten auch den Reitknecht, der mir ehemals die Post von meines Gemahls Tode [36] gebracht hatte, fort, daß er sie abholen und zu uns bringen sollte. Er hatte sie bereits unterwegs angetroffen, und sie war bei uns, ehe wir es vermuteten. Sie zeigte sich recht vergnügt, und sie ward durch die Freude über ihres Sohnes Glück und mein Vergnügen alle Tage belebter und munterer. Indessen versicherte uns diese rechtschaffene Frau, daß ihr Vergnügen gar zu groß sei, als daß es lange Bestand haben könnte. Mariane ward mit einer Tochter entbunden. Auch dieses diente uns zu einer neuen Freude. Doch je mehr wir Ursache hatten, mit Marianen zufrieden zu sein, desto begieriger wurden wir, etwas Gewisses von ihrer Herkunft zu erfahren. Gleichwohl war alle unsere angewandte Mühe vergebens, uns dieses Geheimnis zu entdecken. Mariane hatte ihrem Manne zuliebe das Kloster heimlich verlassen, und wir mußten bei unserer Nachforschung sehr behutsam gehen, damit wir sie nicht in Gefahr setzten, entdeckt zu werden. Im Kloster fertigte man diejenigen, die wir insgeheim nachfragen ließen, mit der Antwort ab, daß ihnen Marianens Stand und Geburt unbekannt wäre, daß sie in ihrem sechsten Jahre von einem gemeinen Manne in das Kloster gebracht worden, der ein gewisses Geld zu ihrer Erziehung dagelassen und nichts gesagt hätte, als daß sie die Tochter eines unglücklichen Holländers wäre, der sie nicht in der reformierten Religion erziehen lassen wollte. Vielleicht könnte er der Äbtissin mehr vertraut haben, diese aber wäre tot. Kurz, wir erfuhren nichts, und es konnte sein, daß man in dem Kloster selbst nichts Gewisses von Marianens Herkunft wußte. Denn wie viele Kinder werden nicht unter einem fremden Namen in die Klöster gebracht und durch unbekannte Hände erhalten!
Endlich mußten wir uns doch entschließen, wieder nach Amsterdam zurückzugehen. Unsere Umstände forderten diese Trennung. Karoline begleitete uns nach dem Haag. Sie erkundigte sich hier, ob sie nicht jemanden antreffen könnte, der ihr von ihrem Bruder Andreas Nachricht geben könnte. Allein sie erfuhr nichts weiter, als was wir schon wußten, nämlich, daß er nach seiner Frauen Tode unglücklich in seiner Handlung geworden und, weil er sein Vermögen eingebüßet hätte, mit einem Schiffe nach Ostindien gegangen wäre, sein Glück von neuem zu versuchen. Wir blieben noch etliche Tage in dem Haag und nahmen unsere Reisegelder in Empfang. Und eben da wir fort wollten, ließ uns der Kaufmann, der sie uns ausgezahlt hatte, sagen, daß in Amsterdam vor etlichen Tagen ein Ostindienfahrer, und auf diesem Schiffe zugleich Herr [37] Andreas, der Kaufmann, nach dem wir ehedem gefragt hätten, zurückgekommen und heute bei ihm gewesen wäre. Diese Zeitung war zu wichtig, als daß wir unsere Reise hätten fortsetzen sollen, ohne den Herrn Andreas zu sprechen. Aber wollte der Himmel, daß wir ihn in unserm Leben nicht gesehen hätten! Er kam den andern Tag zu uns. Karolinens erste Frage war, warum er ihr denn vor seiner Abreise nach Ostindien nichts Ausführliches von dem Tode ihrer Tochter geschrieben hätte? »Ist denn Mariane tot?« rief er. – »Was willst du denn mit der Mariane?« versetzte seine Schwester. »Meine Tochter hieß ja, wie ich, Karoline. Wo ist sie denn? Ist sie nicht tot? Ach, wenn doch dieses Gott wollte!« – »Ja doch,« sprach Andreas, »ich weiß es wohl, sie hieß Karoline; aber aus Liebe zu meiner Frau, und weil ich sie an Kindes Statt angenommen hatte, nennte ich sie nach meiner Frau Mariane. Ich will dir alles erzählen; aber versprich mir, daß du mir auch alles vergeben willst. Meine liebe Frau starb mir, wie ich dir vor zehen Jahren gemeldet habe. Mariane war ebenfalls tödlich krank, und ich hielt sie schon für verloren. Allein es besserte sich mit ihr. Indessen nötigte mich mein Bankerott, mein Glück anderwärts zu versuchen. Ich ging nach Ostindien. Du weißt, daß ich der katholischen Religion zugetan bin. Ich liebte deine Tochter, oder vielmehr meine an Kindes Statt angenommene Mariane, recht väterlich. Um sie nun teils in meiner Religion erziehen zu lassen, teils sie wohl zu versorgen: so nahm ich, was ich noch hatte, und tat dieses liebe Kind vor meiner Abreise, und ohne jemandem etwas zu sagen, in ein Kloster an der Grenze der Österreichischen Niederlande. Ich war eben im Begriffe, dahin zu reisen, um zu sehen, ob Mariane noch lebte, als ich hierher gerufen ward. Ich kann nicht länger warten, ich muß wissen, ob sie noch lebt. Komm mit«, sprach er zu Karolinen. »Wir wollen den Augenblick in das Kloster fahren. In drei Tagen sind wir wieder hier.« Und ohne ein Wort weiter zu sprechen, gingen sie beide fort. Mein Mann und ich hatten kaum das Herz, uns anzusehen, geschweige zu reden. Ein heimlicher Schauer lief mir durch alle Glieder. »Gott! was soll das werden,« fing endlich mein Mann an: »Mariane, das Kloster – und nicht weit von der Grenze! Was sind dieses für entsetzliche Nachrichten! Ach, der arme, der unglückliche Carlson! Möchte doch dieses Mal unsere Mutmaßung falsch sein! Wäre doch Andreas wieder da, oder wäre er vielmehr nimmermehr wieder nach Europa gekommen! Seine Gegenwart wird uns ganz gewiß das traurige Geheimnis[38] offenbaren, das uns ewig hätte verborgen bleiben sollen. Wird nicht Karoline, um ihre Tochter wiederzufinden, sie als Frau aus den Armen ihres eignen Sohnes reißen müssen?« Mit diesen grausamen Vorstellungen quälten wir uns, bis Andreas mit seiner Schwester, der Karoline, wieder zurückkam. Ihr Anblick ließ uns zu unserm Unglücke die Sache auf einmal erraten. Karoline zerfloß fast in Tränen. Sie tat untröstlich, und ihr Bruder, als ein harter Mann, ließ zwar äußerlich keine Traurigkeit spüren; allein er saß ganz betrübt. Wir konnten aus beiden lange Zeit kein Wort bringen. Sie hatten, mit einem Worte, in dem Kloster erfahren, daß eine Nonne, mit Namen Mariane, welche um das und das Jahr (Tag und Jahr traf beides ein) in das Kloster gebracht wäre, vor anderthalb Jahren dasselbe heimlich verlassen und, soviel man wüßte, sich mit einem jungen von Adel verheiratet hätte. Was war zu tun? Wir mußten, anstatt nach Amsterdam zu reisen, wieder zurück nach Carlsons Quartier. Wir sahen alle viere nur mehr als zu gewiß, daß diese Nonne niemand anders als Carlsons Frau sein würde. Doch man müßte das menschliche Herz nicht kennen, wenn man glaubte, daß wir zu unserm Troste keine Ausflüchte gewußt hätten. Eine Nachricht, von der uns die Gewißheit erschreckt und das Gegenteil erfreut, mag noch so wahrscheinlich sein, als sie will, so sind wir doch sinnreich genug, sie zweifelhaft zu machen. »Sollte ich«, sagte Karoline, »denn mein Kind, mein leiblich Kind, nicht kennen? Sollte es denn keine Ähnlichkeit mit mir haben?« Gleichwohl hatte sie es verlassen, da es kaum einige Monate alt gewesen war. »Ein junger von Adel,« fing mein Mann oft unterwegs an, »ein junger von Adel? Wenn hat sich denn Carlson dafür ausgegeben? Er ist viel zu bescheiden, als daß er sich einen Stand andichten sollte, in dem er nicht erzogen worden ist.« – »Nein, nein,« sprach ich, »das wolle Gott nicht! Hätte er sich auch für einen Edelmann ausgegeben, warum hätte er nicht gesagt, daß er ein Offizier wäre? Vielleicht ist in ebendem Jahre noch ein Kind in das Kloster gekommen, das ebenfalls den Namen Mariane gehabt hat.« Andreas, der der Philosophie wegen nicht nach Ostindien gereiset war, meinte, es läge schon in der Natur, daß ein Paar so nahe Blutsfreunde einander nicht als Mann und Frau lieben könnten. Ich glaube, daß wir uns alle Augenblicke auf dieser Reise widersprachen, ohne es zu merken. Voll Zittern und Hoffnung kamen wir also bei unserm Carlson wieder an. Wir hatten uns vorgenommen, recht behutsam zu gehen und die Ursache unserer Zurückkunft [39] weder ihm noch ihr merken zu lassen. Wir wollten sagen, daß wir aus Vergnügen über die Ankunft des Herrn Andreas wieder mit umgekehrt wären. Wenn auch, sprachen wir alle, Mariane die rechte Mariane sein sollte: so würden diese zärtlichen Eheleute doch beide in Verzweiflung geraten, wenn wir ihnen dieses traurige Geheimnis auf einmal entdeckten. »Nein,« fing ich an, »wir bringen Marianen auf diese Art um das Leben. Ist sie die wahre Karoline: so will ich sie bitten, daß sie mir zuliebe auf einige Zeit mit nach Amsterdam reisen soll. Ihr Mann wird ihr dies Vergnügen nicht abschlagen. Ist sie einmal in Amsterdam: so wird es Zeit sein, ihr das Geheimnis nicht sowohl zu entdecken, als es sie nach und nach selbst entdecken zu lassen. Weiß es Mariane: so soll es Carlson auch erfahren. Er muß sie in seinem Leben nicht wieder zu sehen bekommen. Dieses wird der einzige Trost sein, mit dem wir ihm in seinem mitleidenswürdigen Irrtume beistehen können. Er kennt die Religion und hört die Vernunft. Die Tochter aus dieser unglücklichen Ehe will ich erziehen lassen, damit Mariane den traurigen Beweis einer so zärtlichen und nunmehr unerlaubten Liebe nicht vor Augen hat.« In dieser Beratschlagung langten wir bei Carlson an. Er trat in die Türe, indem wir ankamen, und lief uns mit Verwunderung entgegen. Wir heiterten unsere Gesichter so gut auf, als es möglich war, und sagten ihm, daß Herr Andreas, Karolinens Bruder, den wir in dem Haag von seiner Wiederkunft aus Indien angetroffen hätten, die Ursache unserer Zurückkunft wäre. Wer war froher als er! Wir traten in die Stube zu seiner Marine. Kaum hatte Andreas Marianen erblickt: so fiel er ihr um den Hals und schrie mit einem entsetzlichen Tone: »Ach, daß Gotter barme, sie ist es, sie ist es! Ich unglücklicher Mann, ich bin an allem schuld!« Dieses war die Erfüllung von dem Vorsatze, bei der Sache behutsam zu gehen. Karoline lief, als verzweifelnd, zur Türe hinaus. Mariane wollte sich von dem Andreas losmachen; allein er ließ sie nicht aus seinen Armen. Ich hatte nicht so viel Gewalt über mich, daß ich hingehen und ihn von ihr losreißen konnte. Carlson blieb auf einer Stelle stehen und fragte hundertmal, was es wäre. Mein Mann wollte es ihm sagen und kehrte doch bei jedem Wort wieder ein. Mariane kam endlich auf mich zu. Ich sollte ihr entdecken, was es wäre. Ich fing an zu reden, ohne zu wissen was. Ich bat sie um Vergebung. Ich versicherte sie meiner ewigen Freundschaft. Ich umarmte sie. Dieses war es alles. Indessen kam ihr Mann und wollte sie aus meinen Armen nehmen. [40] »Nein, nein,« schrie ich. »Mariane ist nicht Ihre Frau, Mariane ist Ihre Schwester.« In diesem Augenblicke sank Mariane nieder, und ich erwachte darüber, wie aus einem unruhigen Schlafe. Ich und mein Mann waren am ersten wieder bei uns selbst. Wir brachten Marianen auf ein Bette, und sie erholte sich aus einer Ohnmacht, um in die andere zu fallen. Wir brachten sie den ganzen Tag nicht wieder zu sich selbst.
Mein Mann war indessen nach Karolinen gegangen, die wir, seitdem sie aus der Stube gelaufen war, nicht wieder gesehen hatten. Er hatte sie in dem Gartenhause auf den Knien angetroffen. Ich will gleich auf den anderen Tag kommen. Das Gewaltsame unsers Affekts hatte sich gelegt, und sich statt dessen das Bange der Traurigkeit eingestellt. Tränen und Seufzer, welche die Bestürzung gestern zurückgehalten, hatten nun ihre Freiheit, und wir suchten unsern Trost in Klagen und im Mitleiden. Carlson kam vor das Bette seiner Mariane, und mit ihm Wehmut, Furcht, Scham, Reue und gekränkte Zärtlichkeit. Es war erbärmlich anzusehen, wie sich diese beiden Leute gegeneinander bezeigten. Die Religion hieß sie die Liebe der Ehe in Schwester- und Bruderliebe verwandeln, und ihr Herz verlangte das Gegenteil. Sie hatten einander unbeschreiblich geliebt. Sie waren noch in dem Frühlinge ihrer Ehe, und sie sollten dieses Band itzt ohne Anstand zerreißen. Sie hatten einander in ihrem Leben nicht gesehen, und also kam ihnen die Vertraulichkeit nicht zu Hilfe, die sonst die Liebe unter Blutsverwandten auszulöschen pflegt. Ihre Natur selbst tat den Ausspruch zu ihrem Besten. Wie konnten sie etwas in sich fühlen, das ihre Liebe verdammte, da sie den Zug der Blutsfreundschaft nie gefühlt hatten. »Ach, mein Bruder,« rief Mariane einmal über das andere aus, »verlaßt mich, verlaßt mich! Unglückseliger Gemahl, fangt mich an zu hassen. Ich bin Eure Schwester. Doch nein! Mein Herz sagt mir nichts davon. Ich bin Euer, ich bin Euer. Uns verbindet die Ehe. Gott wird uns nicht trennen.« Ihr Gemahl war nicht besser gesinnt. Er hörte die Stimme der Leidenschaften, um den Befehl der Religion nicht zu hören. Er hütete sich genau, sie nicht seine Schwester zu nennen. Er hieß sie seine Mariane. Er war beredt und unerschöpft in Klagen, die bis in das Herz drangen, weil sie das Herz hervorbrachte. Er fing zuweilen mitten in seinen Klagen an zu philosophieren, und wie man leicht glauben kann, sehr eigennützig. Er erwies, daß ihre Ehe vor Gott erlaubt wäre, wenn sie auch die Welt verdammte. Und er tat doch nichts, als daß er [41] zehnmal nacheinander sagte, daß sie öffentlicht verbunden wären, und daß nichts als der Tod dieses Bündnis trennen sollte. Er wünschte unzähligemal in der Sprache des Affekts, daß Andreas gestorben sein möchte, ehe er den Atem zur Entdeckung dieses Geheimnisses hätte schöpfen können. Dieser saß da, als ob er sein Todesurteil anhören sollte. Ich glaube, daß er gern mit etlichen Jahren von seinem Leben das zerstörte Vergnügen dieser Zärtlichkeit wiedererkauft hätte. Karoline trat endlich zu Marianen an das Bette und hieß Carlsonen weggehen. »Meine Tochter,« fing sie an, »ich habe dich wiedergefunden, um dich aus den Armen deines Bruders zu reißen. Wollte Gott, daß ich dieser betrübten Pflicht zeitlebens hätte überhoben sein können! Vielleicht ist es die Strafe, daß ich ..., doch Gott hat es verhänget. Ihr seid beide keines Verbrechen schuldig. Eure Unwissenheit rechtfertigt eure Liebe, und die Gewißheit verbeut sie nunmehr. Ich bin eure Mutter und liebe euch als meine Kinder; aber ich verabscheue euch, wenn ihr das Band der Ehe dem Bande des Bluts vorzieht.« Die Anrede war sehr fromm; allein sie war zu heftig und zu früh angebracht. Sie weckte die Verzweiflung in beiden von neuem auf. Mein Mann erwählte einen gelindern Weg, die zärtlichen Gemüter zu besänftigen. Er bediente sich eines Scheingrundes, der in der Stunde des Affekts ebensoviel Kraft zu haben pflegt als die Wahrheit. Er sagte, es wäre eine Gewissenssache, die wir nicht entscheiden könnten. Wir wollten den Ausspruch verständigen Gottesgelehrten überlassen. Er glaubte, daß die Ehe vielleicht noch stattfinden könnte. Dieses war eine Arznei, welche die Wehmut der beiden Leute verminderte und zugleich ihrer Liebe Widerstand tat. Sie entschlossen sich, sich dem Ausspruche der Geistlichen zu unterwerfen; aber gewiß nicht aus Überzeugung, sondern aus Verlangen, desto ruhiger ihre Liebe fortsetzen zu können. Wir machten uns indessen ihre Bereitwilligkeit zunutze und ermunterten Marianen, uns, sobald es ihre Umstände zuließen, nach Amsterdam zu folgen; vielleicht wäre es möglich, daß man von Rom Dispensation erlangen könnte. Ihr Mann sollte sich Urlaub auf ein halb Jahr ausbitten und, wenn er ihn erhielte, uns nachkommen. Alles dieses ließen sich die beiden Leute gefallen. Es strichen einige Tage dahin, und Mariane war in den Umständen, die Reise mit anzutreten. Indem wir uns dazu anschickten: so erhielt Carlson Ordre, sich unverzüglich und bei Verlust seiner Stelle zu dem Regimente zu verfügen, weil es marschieren sollte. Diese Nachricht tat eine ungleiche [42] Wirkung. Carlson war darüber erfreut, und Mariane ward von neuem niedergeschlagen. Kaum sahe sie seine Zufriedenheit über diese Post: so machte sie ihm die grausamsten Vorwürfe. Sie hieß ihn einen Ungetreuen, der ihrer los zu sein wünschte. Sollte man wohl glauben, daß eine Frau, die da wußte, daß ihr Mann ihr Bruder war, noch auf einen solchen Verdacht fallen könnte? Allein, was ist in der Liebe und in dem Traume wohl unmöglich? Wir sahen also leider nur mehr als zu deutlich, wie heftig Mariane ihren Mann noch liebte, und wie sie in ihrem Herzen nichts weniger beschlossen hatte, als ihn fahren zu lassen. Carlson versicherte sie mit den größten Beteuerungen, daß er sie noch unendlich liebte, und daß er über die Nachricht zum Marsche nur deswegen vergnügt wäre, weil er ihn als eine Gelegenheit ansähe, die der Himmel bestimmt hätte, der Sache den Ausschlag zu geben. »Vielleicht«, sprach er, »verliere ich mein Leben, wenn es zu einem Feldzuge kömmt. Und wer ist alsdann glücklicher als wir? Soll ich den Tod nicht geringer schätzen als die Qual, Euch zu sehen und nicht zu lieben? Und wollt Ihr nicht lieber mit Gewalt von mir getrennet sein, als die Pein ausstehen, mich freiwillig zu verlassen und doch diese Freiheit niemals von Eurer Liebe zu erhalten? Seid getrost, liebe Mariane! Komme ich wieder zurück: so ist es ein Zeichen, daß der Himmel unsere Ehe billiget. Verliere ich mein Leben: so ist es ein Beweis, daß Ihr einen Mann verloren habt, der nur Euer Bruder, und nicht Euer Ehemann sein sollte.« Welche glückselige Dienste leistet nicht der Irrtum in gewissen Umständen! und wie gut ist es nicht oft, daß wir das Vergnügen haben, uns selbst zu betrügen! Genug, Carlsons Irrtum war in Ansehung des Erfolgs vortrefflich. Er beruhigte ihn und endlich auch Marianen. Sie ließen die Sache auf den Himmel ankommen; und sie versprachen sich von diesem Richter nichts, als was sie wünschten. Sie flehten Gott um Beistand an, nicht anders, als ob ihnen die Menschen unrecht täten. Kurz, sie waren voll Zuversicht und Vertrauen, die alle Wahrheit nicht würde zuwege gebracht haben. Carlson reisete fort, als ob er in dem Treffen seine Mariane gewinnen sollte, und Mariane tat so gesetzt, als ob sie ihn von sich ließe, um ihn auf ewig wiederzubekommen. Sobald er fort war, so folgte sie uns ganz getrost nebst ihrer Tochter und ihrer Mutter nach Amsterdam. Andreas, der sich in Ostindien wieder ein kleines Vermögen erworben hatte, blieb in dem Haag, um von neuem seinen Handel anzufangen, wozu ihm Karoline einen Teil von ihren Geldern gab, [43] die sie aus Deutschland mitgebracht hatte. Wir trafen unsern gütigen Wirt in Amsterdam noch in seinen vorigen Umständen an. Wir gaben Marianen für Carlsons Frau aus, und Karoline war seine Mutter.
In wenig Monaten erhielten wir die Nachricht, daß Carlson zwar nicht gegen den Feind, sondern an einer hitzigen Feldkrankheit geblieben wäre. Karoline, ich und mein Mann bedauerten ihn sehr; aber wenn wir an seine Ehe dachten; so war uns sein Tod eine erwünschte Nachricht. Denn wer konnte die gefährliche Sache besser schlichten als der Tod? Die Aussprüche der Geistlichen würden ganz gewiß wider diese Ehe gewesen sein. Und Mariane und ihr Mann hätten entweder einander nicht verlassen oder ohne einander das unglückseligste Leben geführet. Gleichwohl war uns für Marianen noch sehr bange. Sie hatte sich zwar dem Endurteile des Himmels ergeben; aber, wie ich schon erinnert, in keiner andern Hoffnung, als daß es vorteilhaft für sie ausfallen würde. Wir sahen, daß Marianens Verzweiflung von neuem wieder aufwachen würde. Dennoch mußte sie es erfahren. Wir ließen sie auf unser Zimmer rufen, und mein Mann nahm es über sich, ihr ihres Mannes Tod zu entdecken. »Nicht wahr, Mariane,« fing er an, »Sie erraten schon, was ich Ihnen hinterbringen will? Erschrecken Sie nur, denn Sie müssen doch erschrecken. Hier ist ein Brief aus dem Lager.« – »Sagen Sie mir nichts mehr«, versetzte Mariane. »Ich kann den Inhalt des Briefs schon wissen. Mein Gemahl ist tot. Ich unglückselige Frau! Doch bin ich zufrieden, daß mir ihn nicht die Welt, sondern der Himmel entzogen hat. Nun sehe ich, daß es Gott nicht hat haben wollen. Wie ist er denn gestorben? Ist er im Treffen geblieben?«
Wir erstaunten über diese unvermutete Gelassenheit, die einer Gleichgültigkeit nicht unähnlich sah. Wir hatten uns auf die besten Trostgründe vergebens gefaßt gemacht. Gleichwohl wußten wir auch nicht, ob wir Marianen trauen durften. Indessen tat sie gelassen und betrauerte ihren Mann mehr durch stille Tränen, als durch eine tobende Wehmut und Ungeduld. In etlichen Tagen erhielten wir wieder einen Brief, und die Aufschrift war Carlsons Hand. Soll ich's aufrichtig gestehen, so erschrak ich weit mehr, daß er noch lebte, als ich zuerst über seinen Tod erschrocken war. Gott, dachte ich, was wird dieses wieder werden? Carlson wird seiner Krankheit wegen das Lager verlassen und wohl gar abgedankt haben. Die Liebe wird ihn wieder zu Marianen rufen. Mariane nur [44] war vor Freuden ganz außer sich. Der Brief war an sie, und sie brach ihn nicht etwa gleich auf. O nein, so viel Zeit ließ ihr ihre vergnügte Unruhe nicht. Sie gab ihn uns auch nicht zu erbrechen. Sie behielt ihn in den Händen als einen unbekannten Schatz, den man nicht eröffnen will, bis man sich zehnmal vorgestellet hat, wieviel darinnen sein könnte. Da sie ihn endlich erbrach: so war der Brief schon viele Wochen älter, als derjenige, der uns Carlsons Tod berichtet hatte. Kurz, es war ein Abschiedsbrief an Marianen. Ich will die Abschrift hersetzen.
»Liebste Mariane!
Dieses sind seit vier Wochen die ersten Stunden, da ich mich besinnen und Euch meine Krankheit melden kann. Wie glückselig bin ich, daß ich krank gewesen und dem Tode so nahegekommen bin ohne beides zu wissen! Wieviel würde ich Eurentwegen binnen der Zeit ausgestanden haben, wenn ich meiner mächtig gewesen wäre! Gott sei für diese Art des Todes gedankt! Ich bin völlig ausgezehrt, völlig entkräftet. Und ich sehe die Stunden, da ich mir wieder bewußt bin, für nichts als Augenblicke an, die mir Gott gönnt, mich noch einmal in der Welt und in meiner eignen Seele umzusehen und an das Zukünftige zum letzten Male zu denken. So lebt denn wohl, Mariane, lebt ewig wohl! Beweint mich nicht als Euren Mann, sondern als Euern Bruder! Trauriger Name! Verschweigt unserer Tochter unser Schicksal, wenn sie leben bleibt. Verbergt es, wenn es möglich ist, vor Euch selbst. Mein Gewissen macht mir keinen Vorwurf, daß ich Euch geliebt habe; allein es beunruhiget mich, daß ich Euch nach der traurigen Entdeckung als meine Frau zu lieben nicht habe aufhören wollen. Gott, wieviel anders denken wir auf dem Todbette als in unserm Leben! Was sieht nicht unsere Vernunft, wieviel sieht sie nicht, wenn unsere Leidenschaften stille und entkräftet sind! Ja, ja, ich sterbe, ich sterbe getrost. Doch Gott! ich soll Euch nicht wiedersehen? Ich soll Euch verlassen, liebste Mariane? Ich soll sterben? Welche entsetzliche Empfindungen fangen itzt in mir an zu entstehen! Ach, ich kann nicht mehr schreiben! – So weit war ich vor einer halben Stunde gekommen. Ich bin wieder beruhiget. Die Liebe zum Leben hat sich zum letzten Male geregt. Lebt wohl, meine Mariane! Grüßt meine Mutter und meine beiden großmütigen Freunde. Mein liebster Freund Dormund, den Ihr so vielmal bei mir gesehen habt, ist itzt bei mir. Er will mich nicht eher verlassen, als bis ich tot bin. [45] Könnt Ihr Euch entschließen, wieder zu lieben: so vergeßt nicht, daß Euer sterbender Mann Euch niemanden gegönnet hat als ihm. Er wird Euch meine Uhr mit Eurem Porträt überbringen. Die andern Sachen habe ich meinen armen Soldaten geschenkt. Ich fühle meinen Tod. Lebt wohl!«
Sobald sie gesehen hatte, daß es ein Abschiedsbrief war, und daß sie sich in der bei dem Titel gefaßten Hoffnung betrogen: so ging das Wehklagen erst recht an. Ich will ihre Trostlosigkeit und etliche schlimme Folgen, die für sie und uns daraus entstunden, nicht erzählen. Es sind Umstände, an denen wir teilnahmen, weil wir gleichsam dareingeflochten waren. Sie waren in Ansehung unserer Empfindung wichtig. Allein ich würde übel schließen, wenn ich glauben wollte, daß sie deswegen dem Leser merkwürdig vorkommen und ihn rühren würden: Ich will daher vieles übergehen.
Wir lebten wieder ruhig. Es schien, als ob uns der Himmel mit Gewalt reich machen wollte. Unsere Kapitale brachten mehr ein, als wir verlangten, und weit mehr, als wir brauchten. Und ich dachte nicht einmal daran, meine bei der Krone stehenden Gelder zu fordern. Ich war vielmehr ruhig, wenn ich nicht an dieses Land denken durfte. Über dieses war es auch durch den Krieg ganz erschöpft und entblößt. Genug, ich lebte unbekannt und zufrieden. Ich war die Frau eines angenehmen und klugen Mannes. Das Unglück, das uns zeither betroffen, hatte unsere Gemüter gleichsam aufgelöset, die Ruhe nunmehr desto stärker zu schmecken. Man dürfte fast sagen, wer lauter Glück hätte, der hätte gar keines. Es ist wohl wahr, daß das Unglück an und für sich nichts Angenehmes ist; allein es ist es doch in der Folge und in dem Zusammenhange. Wenigstens gleichet es den Arzeneien, die unserm Körper einen Schmerz verursachen, damit er desto gesünder wird.
Mitten in unsrer Zufriedenheit, die nunmehr über ein Jahr gedauert hatte, kam Herr Dormund, Carlsons guter Freund, und überbrachte Marianen die in dem Briefe erwähnte goldne Uhr mit ihrem Porträt. Mariane hatte ihn oft bei ihrem Manne, wir ihn aber noch gar nicht gesehen. Doch was brauchte er zu seiner Empfehlung mehr, als den Namen eines guten Freundes von unserm Carlson? Er war ein Holländer von Geburt, und von Person sehr angenehm. Er gewann unsere Vertraulichkeit sehr bald. Er war ein Stabsoffizier, hatte nunmehr abgedankt und wollte von seinen Renten für sich leben. Er war noch jung. Er hatte nicht studiert; allein er hatte [46] doch etlichen Büchern und dem Umgange einen gewissen Witz zu danken, der im Anfange sehr einnahm. Er konnte etliche Sprachen und auch gut Deutsch. Er ließ sich in Amsterdam nieder, und wir konnten seine Absicht leicht merken. Mariane war sein Wunsch, und Mariane verdiente in der Tat, daß man ihrentwegen Feld und Hof verließ. Sie war noch vollkommen schön. Das Unglück hatte ihr von ihren äußerlichen Reizungen nichts entzogen und zu der Schönheit ihres Gemüts noch vieles hinzugesetzt. Sie war durch den Umgang nur noch liebenswürdiger geworden. Sie war erst achtzehn oder neunzehn Jahr alt und noch in ihrem völligen Frühlinge. Dormund wußte sich bald bei ihr gefällig zu machen. Vielleicht liebte sie in dem Freunde ihres verstorbenen Mannes noch ihren Mann. Genug, er gewann ihr Herz. Sie kam einmal zu mir und fing mit einer viel bedeutenden Stimme an: »Madame, es wäre doch wohl billig gewesen, daß wir Herr Dromunden die Uhr, die er mir von meinem Manne überbracht, zu einem Andenken gelassen hätten. Ich würde es gewiß getan haben, wenn mein Porträt nicht darinne gewesen wäre; allein so schickt's sich wohl nicht.« Ich verstund diese Sprache sehr gut. »Mariane,« sagte ich, »was machen Sie sich für ein Bedenken, dem Ihr Porträt zu geben, dem Sie unstreitig Ihr Herz schon überlassen haben? Ich merke, Sie wollen Herrn Dormunden gern eine Gefälligkeit erweisen, die das Ansehen einer Erkenntlichkeit haben sollte, ob sie gleich die Liebe zum Grunde hat. Ich will Ihnen bald aus der Sache helfen. Geben Sie mir die Uhr! Es wird sich schon eine Gelegenheit zeigen, die nicht studiert läßt; bei der ich sie ihm anbieten kann.« Auf die Übergabe der Uhr folgte bald die Übergabe des Herzens. Mariane ward Dormunden zuteil, und sie schienen beide einander zum Vergnügen geboren zu sein. Und wenn ja Mariane ihren Mann zuweilen beunruhigte: so geschahe es doch aus einem Grunde, den ein Ehemann schwerlich übelnehmen kann. Ihr Fehler war die Eifersucht, der erbliche Fehler unsers Geschlechts. Ich besinne mich, daß Mariane einmal mit Tränen auf meine Stube kam. Sie konnte vor Wehmut nicht reden, und ich befürchtete, das größte Unglück von ihr zu hören. Allein, was kam endlich heraus? Sie seufzete über die Gleichgültigkeit ihres Ehemannes und hätte lieber von seiner Untreue gesprochen. Ich fragte nach der Ursache. Da erfuhr ich folgende Kleinigkeiten. Ihr Mann hätte kurz vorher Briefe geschrieben; sie wäre zu ihm an den Tisch getreten; sie hätte ihn einigemal recht zärtlich geküsset, er aber hätte ihr weder mit [47] einem Gegenkuß noch mit einem Blicke geantwortet, sondern immer fortgeschrieben, nicht anders, als wenn er sie nicht sehen wollte. »Ach Gott!« fuhr sie fort, »wer weiß, an wen der Untreue schreibt?« – »Konnten Sie denn nichts in dem Briefe lesen?« fing ich an. – »Nein, nichts, nichts, als daß der Anfang hieß: ›Mein Herr‹«. Wer sollte wohl glauben, daß eine vernünftige Frau keine andere Ursache zur Eifersucht nötig hätte, als so eine? Doch, warum kann ich noch fragen? Wie oft tut nicht die Liebe einen Schritt über die Grenzen der Vernunft! Und wenn dieser Schritt getan ist: so hilft es nichts, daß wir eine gute Vernunft haben. Überhaupt entstehen wohl die meisten Uneinigkeiten, die in der Ehe vor kommen, aus Kleinigkeiten. Sie heißen im Anfange nichts; allein sie nehmen im Fortgange unsere Einbildung und andere Dinge zu Hilfe, und werden alsdann wichtige Ursachen zur Gleichgültigkeit oder zur Eifersucht.
Marianens Ehe hatte nunmehr etwa drei Vierteljahre gedauret, als ihr Mann gefährlich krank ward. Er stund zween Monate große Schmerzen aus, und man merkte sehr deutlich, daß ihn eine Gemütsunruhe ebenso stark quälte als die Krankheit. Er bat seine Frau oft mit Tränen, daß sie ihn verlassen sollte. Er konnte auch Karolinen nicht leiden, viel weniger Marianens Kind, das sie mit Carlsonen erzeuget hatte. Ich und mein Mann sollten ohne Aufhören bei ihm bleiben und ihm Trost zusprechen. Er wollte getröstet sein, und wir wußten doch nicht, was ihn beunruhigte, viel weniger hatten wir das Herz, ihn zu fragen. Sein Ende schien immer näher herbeizukommen, und die Ärzte selbst kündigten es ihm an. Es war um Mitternacht, da er uns beide plötzlich zu sich rufen ließ. Er rang halb mit dem Tode. Alles mußte aus der Stube. Darauf fing er mit gebrochenen und erpreßten Worten an, sich und die Liebe auf das abscheulichste zu verfluchen. Gott, wie war uns dabei zumute! Er nannte sich den größten Missetäter, den die Welt gesehen hätte. »Ich bin«, schrie er, »Carlsons Mörder. Ich habe ihm mit eigener Hand Gift beigebracht, um Marianen zu bekommen. Ich Unsinniger! Welche Gerechtigkeit, welches Urteil wartet auf mich! Ich bin verloren! Ich sehe ihn, ich sehe ihn! Bringt mich um«, rief er wieder. Mein Mann redte ihm zu, er sollte sich besinnen, er würde in einer starken Phantasie gelegen haben. »Nein, nein,« rief er, »es ist mehr als zu gewiß. Mein Gewissen hat mich lange genug gemartert. Ich bin der Mörder meines besten Freundes; ich Barbar! ich Bösewicht! Carlson besserte sich nach dem Abschiedsbriefe an [48] Marianen wieder; und weil ich mir schon Hoffnung auf seinen Tod und auf Marianen gemacht hatte: so brachte ich ihm Gift bei.« Mein Mann nahm alle seine Vernunft und Religion zu Hilfe, und suchte diesem Unglückseligen damit beizustehen. Seine Verzweiflung wollte sich nicht stillen lassen. Er verlangte Marianen noch einmal zu sehen und ihr seine Bosheit selbst zu entdecken. Wir baten ihn um Gottes willen, daß er Marianen diese Tat nicht offenbaren sollte; er würde seinem Gewissen dadurch nichts helfen und durch sein Bekenntnis nur noch einen Mord begehen. Mariane kam, ehe sie gerufen ward. Dormund redete sie an; allein sie hörte und sah vor Wehmut nicht. Er nahm sie bei der Hand und wollte das entsetzliche Bekenntnis wiederholen. Ich hielt ihm den Mund zu. Wir fingen an zu beten und zu singen. Doch er schrie nur desto mehr. Mariane mußte es erfahren, was er getan hatte. Er wiederholte seinen Mord umständlich. Er berief sich auf den Regimentsfeldscherer und auf den Feldmedicum, die Carlsonen, weil er es befohlen, nach seinem Tode geöffnet und das Gift gefunden und geglaubt hatten, daß er sich selbst damit vergeben. Mariane geriet in eine ordentliche Raserei. Sie stieß die grausamsten Namen wider ihn aus. Wir mußten sie endlich mit Gewalt beiseite bringen. Er schlief zween Tage und Nächte nacheinander, ohne sich zu ermuntern. Wir glaubten auch gewiß, daß er nicht wieder aufwachen würde; allein er erholte sich. Wir kamen zu ihm. Wir mußten ihn als einen Mörder hassen; doch die allgemeine Menschenliebe verband uns auch zum Mitleiden. Er war ruhiger als zuvor und bat uns mit tausend Tränen um Vergebung. Er versicherte uns, wenn er leben bliebe, daß er uns nicht zum Entsetzen vor den Augen herumgehen, sondern sich den entlegensten Ort zu seinem Aufenthalte und zur Reue über seine Schandtat aussuchen wollte. Er bat, daß wir ihn Marianen nicht möchten wiedersehen lassen. Diese war auch schon in unsrer Wohnung; denn Dormund hatte ein Haus allein bezogen. Wir hatten nun genug an Marianen zu trösten und konnten Dormunden in zween Tagen nicht besuchen. Doch hörten wir, daß es sich besserte. Mein Mann ging den dritten Tag zu ihm. Allein Dormund war fort und hatte folgenden Brief an ihn zurückgelassen:
»Ich gehe so weit, als mich die Rache des Himmels kommen läßt. Mariane soll mich nicht wieder sehen! O Gott, wozu kann einen nicht die Liebe verleiten! Der Schatten meines ermordeten Freundes [49] wird mich auf allen Schritten verfolgen. Doch ich will lieber alles ausstehen, als diesen Mord durch einen Selbstmord häufen. Verfluchen Sie mein Gedächntis in Ihrem Herzen. Ich bin es wert; doch entdecken Sie meine Schande der Welt nicht! Ich bin bestraft genug, daß ich Marianen und ihre großmütigen Freunde verlassen muß. Ich will wieder in den Krieg gehen. Vielleicht verliere ich bald ein Leben, das mir eine Marter ist. Mein zurückgelassenes Vermögen soll Marianen. Wollte Ihnen doch Gott die Freundschaft vergelten, die Sie mir in meiner Krankheit erwiesen haben! Doch Sie haben sie ja einem Unmenschen erwiesen. Ich bin nicht wert, daß Sie mich bedauern. Ach, die unglückselige Mariane!«
Dormund war fort, ohne daß wir wußten, wohin. Unsere Mariane war in eine ordentliche Schwermut geraten. Sie weinte Tag und Nacht, und wir mußten ihr auf einmal zwo Adern schlagen lassen. Sie schlief in meiner Stube und versicherte mich, daß ihr viel besser zumute wäre, und daß sie diese Nacht wohl zu schlafen hoffte. Der Morgen wies diese Prophezeiung aus. Ich warf kaum die Augen auf ihr Bette: so sah ich ganze Ströme Blut davon herunterlaufen. Was konnte ich anders vermuten, als daß ihr die Adern im Schlafe aufgegangen sein würden? Mariane lag in einem fühllosen Schlummer, oder vielmehr in einer Ohnmacht. Ich schrie nach Hilfe, und wir banden ihr die Adern zu. Das Entsetzlichste war, daß die Binden nicht abgefallen, sondern mit Fleiß aufgemacht zu sein schienen. Mariane kam gegen Abend etwas wieder zu sich. Sie gestund, daß sie die Binden aus Lust zum Tode selbst aufgemacht hätte, und wünschte nichts mehr, als daß ihr Ende bald dasein möchte. Sie küßte mich und sank, ohne ein Wort weiter zu reden, in einen Schlummer, und in etlichen Stunden darauf war sie tot.
Mir ging es wie denen Leuten, die in einer Gefahr heftig verwundet werden und es doch nicht eher fühlen, bis sie aus der Gefahr sind. Sobald Mariane tot war: so ging erst meine Marter an. Ich hätte mir lieber die Schuld von ihrem Tode beigemessen, weil ich dieselbe Nacht nicht genauer auf sie Achtung gegeben hatte. Allein welche menschliche Klugheit kann alles voraussehen? Ich hatte Marianen in der Tat zur Heirat mit Dormunden geraten. Ich sah, daß dieser Mann schuld an ihrem Selbstmorde war. Ich dachte an Marianens Schicksal in der andern Welt. Und ich würde noch tausendmal mehr ausgestanden haben, wenn mir die Liebe zu Marianen verstattet hätte, sie für unglücklich zu halten. Ihre Mutter war noch [50] weit gelaßner als ich. Ich weiß nicht, wem sie ihren Beistand zu danken hatte; vermutlich der Religion. Sie sah alles für ein Verhängnis an, dessen Ursachen sie nicht ergründen könnte. Sie tröstete sich mit der Weisheit und Güte des Schöpfers und verherrlichte ihr Unglück durch Standhaftigkeit. Es ist gewiß, daß der Beistand der Religion in Unglücksfällen eine unglaubliche Kraft hat. Man nehme nur den Unglücklichen die Hoffnung einer bessern Welt: so sehe ich nicht, womit sie sich aufrichten sollen.
Unser Unglück schien nunmehr besänftiget zu sein. Wir schmeckten die Ruhe eines stillen Lebens nach und nach wieder. Wir kehrten zu unsern Büchern zurück, und die Liebe versüßte uns das Leben und benahm den traurigen Erinnerungen des Vergangenen ihre Stärke. Mein Mann schrieb um diese Zeit ein Buch: »Der standhafte Weise im Unglück«. Etwan ein Vierteljahr nach Marianens Tode starb unser Wirt, und seine Frau hatte auch bereits die Welt verlassen. Dieser Todesfall machte eine große Veränderung in unsern Umständen. Wir mußten unsre Kapitale übernehmen, die durch Dormunds Verlassenschaft sehr hoch angewachsen waren. In der Tat war dieses eine sehr große Last für uns. Weder ich noch mein Mann noch Karoline wußten recht mit dem Gelde umzugehen. Und ich glaube, wir hätten eher die Hälfte weggeschenkt, als daß wir es in unserer Verwahrung hätten behalten sollen. Andreas, Karolinens Bruder, hatte wieder eine Handlung in dem Haag angefangen. Wir schenkten ihm einige tausend Taler, und von dem übrigen Gelde boten wir ihm die Hälfte in seine Handlung an; mit der andern Hälfte dienten wir guten Freunden. Wenn die Vorsichtigkeit bei dem Gelde eine Tugend ohne Ausnahme ist: so muß ich sagen, daß wir oft nachlässig damit umgingen. Es war uns oft genug, es hinzugeben, wenn wir wußten, daß derjenige, der uns darum bat, ein rechtschaffner Mann war, der das Geld nötiger brauchte als wir. Ein Wort galt bei meinem Manne soviel als ein Wechsel. Wir haben in der Tat auf diese Art viel Geld eingebüßt; aber wir sind niemals darum betrogen worden. Unsre Schuldner hatten ein gutes Herz; aber wenig Glück. Sie wollten gern wiederbezahlen, je mehr sie unsere Dienstfertigkeit sahen. Und sie machten uns durch ihre Aufrichtigkeit freigebig, wenn wir es auch von Natur nicht gewesen wären. Man glaubt es kaum, was es für ein Vergnügen ist, wenn man wackern Leuten dienen kann. Und es gehört, wie mich deucht, weit mehr Überwindung dazu, das Vermögen, zu dienen, zurückzuhalten als es zu befriedigen.
[51] Endlich verließen wir aus verschiednen Ursachen Amsterdam und wandten uns mit unserer Tochter nebst Karolinen und Carlsons Tochter nach dem Haag zu dem Herrn Andreas. Unser verstorbener Wirt hatte uns bei seinem Tode seine Tochter als die unsrige anbefohlen. Diese nahmen wir also mit uns. Ihr Vermögen blieb in Amsterdam in guten Händen. Dieses Frauenzimmer, welches nunmehr etwan funfzehn Jahr alt war, sah eben nicht schön aus: sie hatte aber sehr gute natürliche Gaben. Sie gefiel, ohne daß sie sich einbildete, gefallen zu haben. Die Artigkeit vertrat bei ihr die Stelle der Schönheit. Und wenn man die Wahl hat, ob man ein schönes Frauenzimmer, das nicht artig ist, oder ein artiges, das nicht schön ist, lieben soll: so wird man sich leicht für das letzte entschließen. Ich kann ohne Prahlerei sagen, daß ich dieses Kind, welches Florentine hieß, meistens erzogen hatte. Und wenn ich gestehe, daß sie außerordentlich viel Geschicklichkeit besaß: so will ich nicht sagen, daß ich sie ihr beigebracht, sondern ihr nur zur Gelegenheit gedienet habe, sich solche zu erwerben. Sie hatte Karolinen und dem Umgange mit meinem Manne sehr vieles zu danken. Sie war mehr unter Mannspersonen als unter ihrem Geschlechte aufgewachsen. Dieses halte ich allemal für ein Glück bei einem Frauenzimmer. Denn wenn es wahr ist, daß die Mannspersonen in dem Umgange mit uns artig und manierlich werden: so ist es ebenfalls wahr, daß wir in ihrer Gesellschaft klug und gesetzt werden. Ich meine aber gar nicht solche Mannspersonen, die insgemein für galant ausgeschrien werden, und die sich bemühen, ein junges Mädchen durch niederträchtige Schmeicheleien zu vergöttern; die ihm durch jeden Blick, durch jede Bewegung des Mundes und der Hand von nichts als einer abgeschmackten Liebe sagen. Solche Leute müssen freilich nicht die Sittenlehrer der Frauenzimmer werden, wenn man haben will, daß eine junge Schöne keine Närrin werden soll. Mir wäre es am wenigsten zu vergeben gewesen, wenn ich Florentinen nicht so wohl erzogen hätte, als es sein kann, da ich Zeit, Gelegenheit und ihre gute Fähigkeit vor mir hatte und seit ihrem siebenten Jahre fast beständig um sie gewesen war. Ihre guten Eigenschaften machten sie nachgehends zur Frau eines Mannes, der in Holland eine der höchsten Ehrenstellen bekleidete, und an dem sein Stand noch das wenigste war, was ihn groß und hochachtungswert machte. Doch ich will von unserer Florentine ein andermal reden!
Wir waren kaum einige Monate in dem Haag: so lief ein Schiff aus [52] Rußland mit Waren für unsern Andreas ein. Er bat uns, daß wir mit an Bord gehen und die Ladung ansehen möchten. Wir ließen uns diesen Vorschlag gefallen und fuhren dem ankommenden Schiffe etwan eine halbe Stunde auf der See entgegen.
Nunmehr komme ich auf einen Perioden aus mei nem Leben, der alles übertrifft, was ich bisher gesagt habe. Ich muß mir Gewalt antun, indem ich ihn beschreibe; so sehr weigert sich mein Herz, die Vorstellung einer Begebenheit in sich zu erneuern, die ihm so viel gekostet hat. Ich weiß, daß es eine von den Haupttugenden einer guten Art zu erzählen ist, wenn man so erzählt, daß die Leser nicht die Sache zu lesen, sondern selbst zu sehen glauben und durch eine abgenötigte Empfindung sich unvermerkt an die Stelle der Person setzen, welcher die Sache begegnet ist. Allein ich zweifle, daß ich diese Absicht erhalten werde. Wir fuhren, wie ich gesagt habe, dem ankommenden Schiffe eine halbe Stunde entgegen. Es waren zehn bis zwölf deutsche Reisende auf demselben, und auch etliche Russen. Diese stiegen in unserm Angesichte ans Land und gratulierten dem Herrn Andreas zur glücklichen Ankunft seines Schiffes, weil sie hörten, daß er der Herr davon war. Andreas, der die See stets in Gedanken hatte, hörte ihnen begierig zu. Nur mir ward die Zeit zu lang. Ich trat daher mit meinem Manne auf die Seite und bat ihn, daß er wieder zurückfahren möchte. Da ich noch mit ihm rede, so kömmt einer von den Passagieren auf mich zugesprungen, umarmt mich und ruft: »Ja, ja, Sie sind es, ich habe meinen Augen nicht trauen wollen; aber Sie sind meine liebe Gemahlin.« Er drückte mich einige Minuten so feste an sich, daß ich nicht sehen konnte, wer mir diese Zärtlichkeit erwies. Das Schrecken kam darzu, und ich glaubte nicht anders, als daß ein unsinnig Verliebter mich angefallen hätte. Aber, ach Himmel! wen sah ich endlich in meinen Armen? Meinen Grafen in russischer Kleidung, meinen ersten Mann, den ich zehen Jahre für tot gehalten hatte. Ich kann nicht sagen, wie mir ward. So viel weiß ich, daß ich kein Wort aufbringen konnte. Mein Graf stund und weinte. Er erblickte endlich seinen ehemaligen Freund als meinen itzigen Mann. Er umarmte ihn; doch von beiden habe ich kein Wort gehört oder vor Bestürzung nichts verstehen können. Unser Wagen hielt gleich neben uns. Nach diesem lief ich zu, ohne meine beiden Männer mitzunehmen; aber beide folgten mir nach. Ich umarmte den Grafen unzähligemal in dem Wagen; was ich ihm aber gesagt habe, das ist mir unbekannt. Wir waren nunmehr in unserer [53] Behausung, und ich fing an, mich wieder selbst zu verstehen. Mein Graf bezeigte eine unendliche Zufriedenheit, daß er mich wiedergefunden hatte, und zwar an einem Orte, wo er mich am wenigsten vermutet. Er sagte mir wohl tausendmal, daß ich noch ebenso liebenswürdig wäre, als da er mich verlassen hätte. Sein Vergnügen war um desto stärker, weil er mich für tot gehalten hatte, da ich ihm auf etliche Briefe nicht geantwortet. Er glaubte, ich hätte es erfahren, daß er noch am Leben wäre. Kurz, er hatte von mir ebensowenig gewußt als ich von seinem Leben. Herr R.. hatte uns verlassen, ohne daß wir es gemerkt. Wir waren also ganz allein. Mein Graf erzählte mir sein gehabtes Schicksal, davon ich bald reden will, und verlangte nunmehr zu wissen, wie es mir gegangen wäre. Er fragte mich hundertmal, und ich konnte ihm mit nichts als Tränen und Umarmungen antworten. Liebe und Scham machten mich sprachlos. Einen Mann hatte ich wiedergefunden, den ich ausnehmend liebte, und einen sollte ich verlassen, den ich nicht weniger liebte. Man muß es fühlen, wenn man wissen will, das es heißt, von zween Affekten zugleich bestürmt zu werden, von denen einer so groß als der andere ist. Mein Gemahl mutmaßte aus meiner Wehmut etwas Widriges für sich. Er hielt noch inständiger an, daß ich ihm mein Herz entdecken und ihm sein Glück oder Unglück wissen lassen sollte. Aber umsonst! Was konnte ich ihm sagen, wenn ich nicht sagen wollte, daß ich verheiratet wäre? Ich schwieg, ich seufzte; doch dieses war genug gesagt. »Sind Sie nicht mehr meine Gemahlin?« fing er an. »Das wolle Gott nicht! Lieber meinen Tod, als diese Nachricht!« In ebendem Augenblicke trat meine kleine Tochter, ein Kind von fünf Jahren, in das Zimmer und vermehrte meine Bestürzung und entdeckte zu gleicher Zeit das Geheimnis, vor welchem ich zitterte. Sie sah mich weinen; sie trat zu mir. »Was fehlt Ihnen denn, liebe Mama,« fing sie an, »daß Sie weinen? Ich komme von dem Papa, der weint auch und will gar nicht mit mir reden. Ich habe Ihnen doch nichts getan.« – »Mein Gott,« sprach der Graf zu mir, »Sie sind verheiratet! Ich unglückseliger Mann! Habe ich Sie darum wiederfinden müssen, damit meinem Herzen keine Art von Marter unbekannt bliebe? Wer ist denn Ihr Gemahl? Sagen Sie mir's nur. Ich will Sie durch meine Gegenwart nicht länger quälen. Ich will Sie gleich verlassen. Sie sind mir nicht ungetreu worden. Sie haben mich für tot gehalten. Ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Niemand ist an meinem Unglücke schuld als das Verhängnis. Vielleicht ist dieses die Strafe für die Liebe mit Karolinen. [54] Überwinden Sie sich und reden Sie mit mir«, fuhr er fort. »Ich kann es von niemanden als von Ihnen anhören, wer Ihr Mann ist.« Ich sprang von dem Stuhle auf und fiel ihm in die Arme, aber ich sagte noch kein Wort. »Nein,« fing er an, »erweisen Sie mir keine Zärtlichkeiten! Ich verdiene sie, das weiß mein Herz; aber Ihr itziger Ehegemahl kann Ihre Liebe allein fordern, und ich muß dem Schicksale und der Tugend mit meiner Liebe weichen.« Durch dieses Geständnis brachte er mich nur mehr in Bewegung. Er fragte endlich das kleine Kind, wo der Papa wäre, und warum er nicht hereinkäme? »Er ist ja mit Ihnen in dem Wagen gekommen«, hub sie an. »Er ist in seiner Stube und weint.« – »Also«, fing der Graf zu mir an, »ist mein liebster Freund Ihr Gemahl? Dieses macht mein Unglück noch erträglich.« Darauf bat er meine kleine Tochter, daß sie ihren Papa rufen sollte. Allein er kam nicht, sondern schickte durch ebendieses Kind dem Grafen ein französisches Billett von diesem Inhalte:
»Mein lieber Graf!
Sie dauren mich unendlich. Ich habe Sie durch die unschuldigste Liebe so sehr beleidigt, als ob ich Ihr Feind gewesen wäre. Ich habe Ihnen Ihre Gemahlin entzogen. Können Sie dieses wohl von mir glauben? Der Irrtum, oder vielmehr die Gewißheit, daß Sie nicht mehr am Leben wären, hat mir den erlaubten Besitz Ihrer Gemahlin gegönnt. Ihre Gegenwart aber verdammt nunmehr das sonst so tugendhafte Band. Sie sind zu großmütig, und wir zu unschuldig, als daß Sie uns mit Ihrem Hasse bestrafen sollten. Unsere Unschuld verringert Ihr Unglück; allein sie hebt es nicht auf. Das einzige Mittel, mich zu bestrafen, ist, daß ich fliehe. Ich verlasse Sie, liebster Graf und werde mich zeitlebens vor mir selber schämen. Wollte Gott, daß ich durch meine Abwesenheit und durch die Marter, die ich ausstehe, Ihren Verlust ersetzen könnte! Entfernen Sie das Kind, das Ihnen diesen Brief bringt, damit Sie das traurige Merkmal Ihres Unglücks nicht vor den Augen haben dürfen. Ist es möglich, so denken Sie bei diesem Briefe zum letzten Male an mich. Sie sollen mich nicht wieder sehen.«
Der Graf verließ mich, sobald er diesen Brief gelesen hatte, und suchte meinen Mann. Doch, er war fort, und niemand wußte, wohin. Diese Nachricht setzte mich in eine neue Bestürzung. Mein ganzes Herz empörte sich. Ich hatte meinen ersten Mann wiedergefunden. [55] Ich wußte, daß ich sie beide nicht besitzen konnte; allein welcher Trieb hört die Vernunft weniger als die Liebe? Es war in meinen Augen die grausamste Wahl, wenn ich daran dachte, welchen ich wählen sollte. Ich gehörte dem letzten sowohl als dem ersten zu. Und nichts war mir entsetzlicher, als einen von beiden zu verlassen, so gewiß ich auch von dieser Notwendigkeit überzeugt war. Der Herr R... war indessen fort, und der Graf wollte nicht ruhen, bis er seinen Freund wiedersähe. Er schickte sogleich nach dem Hafen, damit er nicht etwan mit einem Schiffe abgehen sollte. Ich hatte ihm indessen erzählt, daß ich den Herrn R... freiwillig zu meinem Manne erwählt, und daß ich seine großmütige Freundschaft nicht besser zu belohnen gewußt hätte als durch die Liebe. »Ich weiß genug,« fing der Graf an, »weder Sie noch mein Freund haben mich beleidiget. Es ist ein Schicksal, das wir nicht erforschen können.« In wenig Stunden kam Herr R... zurück. Er war schon im Begriffe gewesen, mit einem Schiffe fortzugehen. Er dankte dem Grafen auf das zärtlichste, daß er ihn wieder hätte zurückrufen lassen. »Ich will nichts als Abschied von Ihnen nehmen,« fing er an, »von Ihnen und Ihrer Gemahlin. Gönnen Sie mir diese Zufriedenheit noch, es wird gewiß die letzte in meinem Leben sein.« Sogleich nahm er mich bei der Hand und führte mich zu dem Grafen. »Hier«, sprach er, »übergebe ich Ihnen meine Gemahlin und verwandle meine Liebe von diesem Augenblicke an in Ehrerbietung.« Hierauf wollte er Abschied nehmen; doch der Graf ließ ihn nicht von sich. »Nein,« sagte er, »bleiben Sie bei mir. Ich fange auf Ihr Verlangen mit meiner Gemahlin die zärtlichste Ehe wieder an. Sie ist mir noch so kostbar als ehedem. Ihr Herz ist edel und beständig geblieben. Sie hat nicht gewußt, daß ich noch lebe. Nein, mein lieber Freund, bleiben Sie bei uns. Wollen Sie mich etwan darum verlassen, daß ich nicht eifersüchtig werden soll: so beleidigen Sie die Treue meiner Gemahlin und mein Vertrauen. Bitten Sie ihn doch, Madame,« fing er zu mir an, »daß er bleibt!« Ich hatte kaum so viel Gewalt über mich, daß ich zu ihm sagte: »Warum wollen Sie uns verlassen? Mein lieber Gemahl bittet Sie ja, daß Sie hierbleiben sollen. Und ich müßte Sie niemals geliebt haben, wenn mir Ihre Entfernung gleichgültig sein sollte. Bleiben Sie wenigstens in Amsterdam, wenn Sie nicht in unserm Hause bleiben wollen. Ich werde Sie lieben, ohne es Ihnen weiter zu sagen; und ob ich gleich aufhören werde, die Ihrige zu sein: so untersagt mir doch die Liebe zu meinem Gemahle nicht, Ihnen beständig Zeichen der Hochachtung [56] und Freundschaft zu erkennen zu geben.« Er blieb auf unser Bitten auch wirklich in Amsterdam. Er speiste oft mit uns, und seine Aufführung war so edel, als man nur denken kann. Wenn ich auch weniger tugendhaft gewesen wäre: so hätte mich doch sein großmütiges Bezeigen tugendhaft erhalten müssen. Er tat gar nicht, als ob er jemals mein Mann gewesen wäre. Kein vertrauliches Wort, keine vertrauliche Miene durfte ihm entfahren. Wie er vor meiner Ehe mit mir umgegangen war, so ging er itzt mit mir um. Er unterhielt mich mit Freundschaft und Hochachtung und beförderte mein und meines Grafen Vergnügen mit Aufopferung des seinigen. Er war oft ganze Tage bei mir allein. Ich glaube, daß ich so viel Schwachheit gehabt hätte, ihn anzuhören, wenn er an die vorigen Zeiten gedacht hätte. Und wer weiß, ob ich ihm nicht wider meinen Willen durch manchen Blick ein stummes Bekenntnis von meiner Liebe getan habe, so gewissenhaft ich auch mit ihm umging, und so sehr ich meinen Grafen liebte. Über die Gegenwart der Karoline erstaunte der Graf sehr. Er hätte es lieber gesehen, wenn sie unsre Wohnung verlassen hätte. Allein ich bat ihn, daß er mir ihre Gesellschaft nicht entziehen sollte. »Können Sie meiner Tugend trauen,« sagte ich zu ihm: »so müssen Sie wissen, daß ich der Ihrigen gewiß bin.« Das Schicksal der beiden Kinder, die er mit Karolinen erzeugt, war eine Sache, die ihn oft ganze Stunden niedergeschlagen machte. Er führte sich indessen gegen Karolinen sehr liebreich auf. Er scherzte oft mit uns beiden; allein sein Scherz war so behutsam, daß er weder sie kränken noch mich beleidigen konnte. Wie es uns ferner gegangen, will ich künftig erzählen. Itzt muß ich nur von meines Gemahls, des Grafen, Abwesenheit, noch kürzlich so viel erwähnen. Die Russen hatten von dem Dorfe Besitz genommen, darinne mein Gemahl auf den Tod gelegen und von den Schweden als tot war zurückgelassen worden. Da er nach und nach wieder gesund worden, hatte man ihn als einen gefangenen Offizier mit nach Rußland geschickt. Er hatte seinen Namen aus Furcht, daß man ihn desto eher an die Schweden ausliefern möchte, verschwiegen und sich für einen Kapitän ausgegeben. Seine erlittenen Unglücksfälle, und wie er fünf Jahre in Siberien hat zubringen müssen, damit will ich die Fortsetzung von meiner Geschichte anfangen. Der arme Graf hat viel ausstehen müssen. Er starb ... Doch ich will itzt nichts mehr sagen.
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