Die Verschwiegenheit

»O Doris! wärst du nur verschwiegen:
So wollt' ich dir etwas gestehn;
Ein Glück, ein ungemein Vergnügen –
Doch nein, ich schweige«, sprach Tiren.
»Wie?« rief die schöne Schäferin,
»Du zweifelst noch, ob ich verschwiegen bin?
Du kannst mir's sicher offenbaren:
Ich schwör', es soll's kein Mensch erfahren.«
»Du kennst«, versetzt Tiren, »die spröde Sylvia,
Die schüchtern vor mir floh, so oft sie mich sonst sah.
Ich komme gleich von dieser kleinen Spröden;
Doch ach! ich darf nicht weiter reden.
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Nein, Doris, nein, es geht nicht an;
Es wär' um ihre Gunst und um mein Glück getan,
Wenn Sylvia dereinst erführe,
Daß – dringe nicht in mich, ich halte meine Schwüre.«
»So liebt sie dich?« fuhr Doris fort.
»Jawohl! Doch, sage ja kein Wort!
Ich hab' ihr Herz nun völlig eingenommen
Und itzt von ihr den ersten Kuß bekommen.
Tiren, sprach sie zu mir, mein Herz sei ewig dein;
Doch eines bitt' ich dich, du mußt verschwiegen sein.
Daß wir uns günstig sind, uns treu und zärtlich küssen,
Braucht niemand auf der Flur als ich und du zu wissen.
Drum bitt' ich, Doris, schweige ja!
Sonst flieht und haßt mich Sylvia.«
Die kleine Doris geht. Doch wird auch Doris schweigen?
Ja, die Verschwiegenheit ist allen Schönen eigen.
Gesetzt, daß Doris auch es dem Damöt vertraut,
Was ist es denn nun mehr? Sie sagt es ja nicht laut.
Ihr Schäfer, ihr Damöt, kömmt ihr verliebt entgegen,
Drückt ihre weiche Hand und fragt,
Was ihr sein Freund, Tiren, gesagt?
»Damöt! du weißt ja wohl, was wir zu reden pflegen,
Du kennst den ehrlichen Tiren;
Es war nichts Wichtiges, sonst würd' ich dir's gestehn.
Er sagte mir – verlang' es nicht zu wissen;
Ich hab' es ihm versprechen müssen,
Daß ich zeitlebens schweigen will.«
Damöt wird traurig, schweiget still,
Umarmt sein Kind, doch nur mit halbem Feuer.
Die Schäferin erschrickt, daß sie Damötens Kuß
So unvollkommen schmecken muß.
»Du zürnest«, ruft sie, »mein Getreuer?
O! zürne nicht, ich will es dir gestehn:
Die spröde Sylvia ergiebt sich dem Tiren
Und hat ihm itzt in ihrem Leben
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Den allerersten Kuß gegeben;
Allein du mußt verschwiegen sein.«
Damöt verspricht's. Kaum ist Damöt allein,
So fühlt er schon die größte Pein,
Sein neu Geheimnis zu bewahren.
»Ja!« fängt Damöt zu singen an:
»Ich will es keinem offenbaren,
Daß Sylvia Tirenen liebt,
Ihm Küsse nimmt und Küsse giebt;
Du, stummer Busch, nur sollst's erfahren,
Wen Sylvia verstohlen liebt.«
Doch ach! In diesem Busch war unsre Sylvia,
Die sich durch dieses Lied beschämt verraten sah
Und eine Heimlichkeit so laut erfahren mußte,
Die ihrer Meinung nach nur ihr Geliebter wußte.
Sie läuft und sucht den Schwätzer, den Tiren.
Ach, Schäfer, ach! wie wird dir's gehn!
»Mich«, fängt sie an, »so zu betrüben!
Dich, Plaudrer, sollt' ich länger lieben?«
Und kurz: Tiren verliert die schöne Schäferin
Und kömmt, Damöten anzuklagen.
»Ja«, spricht Damöt, »ich muß es selber sagen,
Daß ich nicht wenig strafbar bin;
Allein wie kannst du mich den größten Schwätzer nennen?
Du hast ja selbst nicht schweigen können!«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Gellert, Christian Fürchtegott. Fabeln und Erzählungen. Fabeln und Erzählungen. Erstes Buch. Die Verschwiegenheit. Die Verschwiegenheit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C489-A