[30] Die Göttinn der Liebe

Amathunt und Cythera und Paphos (erinnerst du dich der Geschichte: Sophia, du schlankes Mädchen?) stritten über den Besitz der Göttinn der Liebe, den jedes dem andern beneidete. Man sagte, die Göttinn würde selbst erscheinen, den Zwist zu entscheiden, und die Thäler waren voll von Jünglingen mit rosenbekränzten Haaren, und von Mädchen, die zwischen den Blumen und Schmetterlingen spielten. Indeß, da der Abendstern winkte, sprang meine Schalkhafte ins Freye, und trotzte mir, daß ich sie nicht einholen sollte, und glitt schnell über die thauigte Ebne hinweg, wie Frühlingslüfte über ein Veilchenbeet: da hättet ihr mich sollen laufen sehn! das Mädchen voran, ich hinter dem Mädchen, und alle Jünglinge und Mädchen schreyend hinter mir her! Ich wußte nicht, warum die Jünglinge und Mädchen hinter mir hereilten, und lief aus Furcht nur desto schneller: [31] allein das Gedränge holte uns ein, und ungestühmer ward das Geschrey:


Göttinn, Göttinn zarter Herzen,
O du bists mit deinen Scherzen!
Dein Gefolg sind Lüsternheit,
Muthwill, laute Fröhlichkeit,
Anmuthsvolle Spöttereyen,
Winke, Blicke, Tändeleyen!
Seht, o seht an ihren Wangen
Alle Lächelgeister hangen,
In der Wangen Grübchen lauschen,
Und in Wonne sich berauschen!

So riefen die Jünglinge und Mädchen; und ich schaute über mir, seitwärts, rückwärts, um die Göttinn wahrzunehmen; aber ich sah sie nicht, auch ihren Wagen nicht, noch ihre Tauben. Zuletzt erhaschten sie meine Schöne; da ward ich den Irrthum gewahr; ich konnte ihnen denselben verzeihen.


In meines Mädchens Augenliedern blinken,
Die Geister von zehntausend holden Winken,
Gleich dem Gestirn in heller Nacht.
[32]
Es drängt sich, wie auf Knospen junger Rosen,
Der keuschen Freuden Heer, sie liebzukosen,
Auf ihren Lippen, wenn sie lacht.

Venus, rief ich der Jugend aus Amathunt und Paphos und Cythera zu, ist schon lange nicht mehr von ihren Grazien und Liebesgöttern begleitet gewesen. Sucht sie in dem idalischen Hayne, im Palast des Adonis; aber ich verlasse euch mit meinem Mädchen im Arme. – Sie sahen uns traurig nach, und haben seitdem nie wieder über den Besitz der Göttinn der Liebe gestritten.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von. Gedichte. Tändeleyen. Tändeleyen. Die Göttinn der Liebe. Die Göttinn der Liebe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D4BA-A