22. Der Fischreiger

Am Ufer eines Bachs, auf einer Wiese, ging
Ein alter Reiger, still, auf langen dürren Beinen,
Mit langem Hals, an dem ein langer Schnabel hing.
Des Bachs Gewässer floß auf harten Kieselsteinen,
Bergab, mit angenehmem Schall,
Durchsichtig wie Krystall,
Und stand dann wieder tief. Vom Himmel ohne Wolke
Fiel warmer Sonnenstrahl
Auf seine Fläche, drang zum kalten Wasservolke;
Lockt es herauf, in Haufen ohne Zahl;
Es letzte sich, war guter Dinge;
Stieg auf und machte frohe Sprünge
Am warmen Sonnenstrahl!
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Herr Reiger, wie so faul? Schnappst du denn nicht einmal
Mit deinem langen Schnabel zu,
Zu holen einen Hecht? Du Fauler, wartest du
Auf einen Karpfen? Ei! wie wird es dich gereu'n!
Wenn du wirst schnappen wollen, wird kein Hecht mehr sein!
Wie ernsthaft! wie so still!
Wie dreht er seinen Hals, den er nicht brauchen will!
Ein kluger Freund von Mäßigkeit,
Besinnt er sich: Es ist noch Zeit!
Stets essen, ist gemeiner Vögel Weise!
Bald aber hungert ihn, und nun sieht er sich um,
Nach Karpfen oder Hecht;
Allein, verschwunden ist das ganze Fischgeschlecht;
Nur Schleie schwimmen noch; er aber ist nicht dumm,
Er hat Geschmack! Schlei wäre schlechte Speise,
Für einen Reiger! alle läßt er ziehn!
Und immer mehr noch hungert ihn.
Er geht vom Ufer ab, und watet in den Bach!
Gründlinge trifft er an; fragt aber nichts darnach;
Er läßt sie all' im Frieden schwimmen, spricht:
Grüdlinge fressen Reiger nicht;
Nach ihnen nur einmal den Schnabel aufzuthun,
Das wäre großer Schimpf für einen Leckermund!
Er sagt's; indessen geht, was Fisch ist, auf den Grund;
Nicht einer laßt sich sehn! Ei, Leckermund, wie nun?
Er immer hungriger, steht da mit Ungeduld,
Und sieht sich um, und sucht, und sucht bis um Ermüden.
Kein Karpfe kommt, kein Hecht! Er giebt sich selbst die Schuld,
Und ist mit einem Frosch zufrieden!

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TextGrid Repository (2012). Gleim, Johann Wilhelm Ludwig. Gedichte. Fabeln. Viertes Buch. 22. Der Fischreiger. 22. Der Fischreiger. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D802-8