[93] Des Kindes Scheiden
(Als meine kleine Muhme starb)
Über des Bettes Haupt flog säuselnden Fluges ein Engel,
Und des Unsterblichen Blick fiel auf das schlafende Kind.
Wie sein eigenes Bild im Spiegel silberner Wellen,
Lächelt ihn freundlich und hold an die süße Gestalt.
Leise sinkt er herab, sich freuend der lieblichen Täuschung,
Und tritt luftigen Schritts vor das Schlafende hin.
Ach, es schlummert so süß, und Unschuld und himmlischer Friede
Wehen im Atem des Munds, ruhn auf der silbernen Stirn,
Kräuseln zum Heiligenschein des Hauptes goldene Locken,
Ruhn, wie ein Lilienzweig, in der gefalteten Hand.
Freundlich lächelt der Engel; doch bald umwölkt sich sein Antlitz,
Und mit brütendem Ernst wendet er seufzend sich ab.
Er überschauet im Geist den Sturm der kommenden Tage,
Dem nur die Eiche steht, der die Blume zerknickt;
Rauschen hört er des Unglücks seelenmordende Pfeile,
Wider die Unschuld und Recht nur ein zerbrechlicher Schild;
Tränend sieht er das Aug, das weich die Wimper bedecket,
Und zerschlagen die Brust, die jetzt atmend sich hebt.
Banges Mitleid erfaßt die Seele des himmlischen Boten,
Fragend schaut er empor, und der Allmächtige nickt.
Da umfängt er den Nacken und küßt die zuckenden Lippen,
Spricht: Sei glücklich, o Kind! – und die Kleine war tot.