Die Schwestern
Als Gott die Menschen schuf nach seinem Bilde,
Sandt er, der karg und unvollendend nie,
Zwei Engel in das werdende Gefilde,
Die Prosa er genannt und Poesie.
Die eine, stark von Wuchs, mit sichern Händen,
Betritt den Boden festen Tritts und scharf,
Des Sämanns Tuch um ihre mächtgen Lenden,
Streut sie den Samen jeglichem Bedarf.
Die andre, zarten Baus und schmächtger Glieder,
Den kleinen Fuß von jedem Stein verletzt,
Trug, wie den leichten Vogel sein Gefieder,
Ein Flügelpaar, den Schultern angesetzt.
So wandeln sie; die Ältre, stark und tüchtig,
Erkennt, was dieser Erde nützt und frommt,
Indes die Jüngre, eine Botin flüchtig,
Die Kunde bringt, die hoch von oben kommt,
Doch ist sie leicht vergeßlich, schwanker Sinne,
Sie weiß nur halb die Botschaft jener Welt;
Des wird die strenge Schwester zürnend inne,
Der nur, was sicher und was ganz, gefällt.
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Und einst zu Nacht, da scheinbar beide ruhten,
Tritt sie, von Groll bewegt, wohl auch von Neid,
Still auf den Zehen zu der Leichtgemuten
Und raubt ihr raschen Griffs das Flügelkleid
Und paßt sichs an und schwingt sich in die Lüfte,
Allein der schweren Glieder mächtger Bau
Trägt sie nicht höher als zum Felsgeklüfte,
Das formlos schaut ins unbegrenzte Blau.
Dem Lichte näher, doch nicht den Gestalten,
In denen sich das Ewge selbst erkennt,
Fehlt unten Raum, den schweren Fuß zu halten,
Nach oben Schwungkraft, die die Lüfte trennt.
Und doch zum Werk den trotzgen Mut verbindend,
Hört achtlos sie der Schwester Jammerruf,
Die, heißer Tränen sich am Boden windend,
Die Saat erdrückt, die weise Sorgfalt schuf.
Ja, tauschen Amt nicht neu sie und Gebärde,
Wird machtlos, was ein Gott so reich verlieh:
Kehr, deutsche Prosa, rück zur sichern Erde,
Nimm wieder Flügel, deutsche Poesie!